Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Mein Kind, der Folterknecht

© Picture AllianceKinder sind entzückend. Zumindest denken ihre Eltern das, wenn es gerade mal gut läuft. Aber das ist ein evolutionärer Trick.

„Das Kind bekommt Zähne“ – wie oft habe ich in den vergangenen Monaten diesen Satz gehört, wenn ich irgendwo mit Max auftauchte. Von meinen Freundinnen, meinen Schwiegereltern, in der Krabbelgruppe, aber auch von Fremden in der Straßenbahn oder im Zug. Max sabberte, kaute auf seiner Faust herum und presste sich sein Holzspielzeug zwischen die Kauleisten. Nur: Zähne waren keine in Sicht.

„Sabbern tun alle Kinder ab etwa drei Monaten, das kann ein Zeichen für Zähne sein, heißt aber nicht, dass sie schon jetzt kommen“, erklärt mir der Kinderarzt, und ich beginne mich zu fragen, warum das Zahnthema überhaupt so wichtig ist, dass alle immer damit anfangen. Bisher war Max eigentlich immer recht pflegeleicht, wir hatten viel Spaß miteinander, und wenn er mal ein, zwei Tage schlecht drauf war, konnte er danach meistens irgendwas Neues. „Da will jemand wachsen“, hatte die Hebamme ganz zu Anfang mal jedes längere Schreien begründet und der Satz hatte etwas universalberuhigendes für uns. Bis die Wochen des Zorns, wie ich sie nenne, über uns rollten und ich mir wünschte, einfach für einige Minuten die Stopptaste drücken zu können. Nur: Max hat keine Stopptaste. Natürlich nicht, er ist ein Baby.

Doch der Reihe nach.

Alles begann damit, dass Max krank wurde, nicht schlimm, erst Fieber, dann Schnupfen und Husten. Er bekam schlecht Luft, weinte viel, röchelte beim Schlafen und wachte ständig auf. Und wir mit ihm. Wir tigerten durch die Wohnung, legten ihm einen Ordner unters Kopfkissen, um seinen Kopf etwas höher zu lagern, hängten feuchte Laken auf und schnippelten Zwiebeln. Wir cremten Brust und Nase mit Balsam ein und trugen ihn stundenlang. Wir schliefen im Sitzen und bei Licht, fühlten mit ihm und lauschten seinem Atem. Am Morgen waren wir alle wie verkatert. Wir hatten vielleicht zwei Stunden geschlafen. Max quengelte und klebte an mir, kein Spielzeug war interessant, kein Brei schmeckte, die Sonne im Kinderwagen fand er zu grell, das Zimmer zu still. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und trug ihn durch den Park – „viel frische Luft“ hatte der Arzt geraten. Ich ignorierte, dass er schneller seine Rotznase an meine Pullis schmierte, als ich ein Taschentuch greifen konnte und dass die Waschmaschine dreimal am Tag voll beladen rödelte. Ich kochte Hühnerbrühe und Fencheltee, bastelte neue klappernde Spielzeuge aus Dosen und Deckeln und blätterte wieder und wieder in meinen Ratgebern.

In der Nacht darauf das gleiche Spiel. Auch in Nacht drei, vier und fünf.

Der Infekt wurde zwar rasch besser, doch Max’ Unruhe blieb. Als hätte er vergessen, was Tag und was Nacht ist. Er schlief um sieben Uhr abends ein, wachte aber schon eine Stunde später wieder auf und veranstaltete Rambazamba. Selten schlief er jetzt länger als 15 Minuten am Stück, ungezählte Nächte in Folge. Er wachte auf, weinte und fand nicht mehr in den Schlaf. „Das ist anstrengend, aber nur eine Phase“, sagten mir alle, wirklich ausnahmslos alle Eltern in meinem Umfeld, als sie mich mitleidig auf meine Augenringe ansprachen. „Eine gute Nacht und alles ist vergessen.“ Ich selbst versuchte die Müdigkeit zu ignorieren, ich wusste ja, dass Max mich nicht böswillig aus jeder gerade begonnenen Schlafphase riss. Unsere Nächte mutierten zu einer Kleinkunstbühne, auf der sich zwei Schauspieler abrackern, ein sehr anspruchsvolles Ein-Mann-Publikum zufriedenzustellen. Erfolglos. Mein Mann schleppte sich morgens ins Büro, ich wünschte mir, dass es wieder Abend sein möge, und am Abend, dass die Nacht schnell vorbeigeht. Wir gingen in den Zoo, um das Spazierengehen etwas interessanter zu machen, doch Max heulte mit geschlossenen Augen vor Müdigkeit und würdigte Ziegen, Antilopen und Löwen nicht eines Blickes. Blieben wir zu Hause, jammerte er frustriert seine Bauklötze an.

Vor meinem inneren Auge begannen Folter-Bilder aus dem Gefangenenlager Guantanamo Bay vorbeizuziehen, in dem Insassen mit Licht und Lärm am Schlafen gehindert und damit langsam in den Wahnsinn getrieben wurden. Ich tat mir leid und googelte „Schlafentzug Folter“. Direkt bekam ich „Schlafentzug Folter Tod“ und „Schlafentzug Folter Baby“ vorgeschlagen. In den Texten vergleichen sich Mütter mit Hulk aus den Marvel Comics, in den sie sich nach Wochen des Schlafentzugs verwandelt hätten. Sie berichten von der Scham darüber, dass sie ihr Kind in der Nacht beschimpft haben. Ich lese, dass Ratten bei Schlafentzug in einem Experiment innerhalb von sieben Tagen gestorben sind und der Brite Tony Wright im Jahre 2007 knapp elf Tage am Stück wach blieb – Weltrekord. Schon nach zweieinhalb Tagen hatte er zu halluzinieren begonnen.

Es ist schwer zu beschreiben, wie man sich fühlt, wenn man sich in der Nacht überlegt, ob die anonymen Babyklappen wohl auch nachts um drei offen sind und ob ein Baby mit Kleidergröße 74 wohl noch hineinpassen würde. Schlafentzug verfälscht die Erinnerung und verzerrt die Selbstwahrnehmung, das hat selbst die CIA eingesehen – ich bilde mir ein, dass Max noch nie gut geschlafen hat und es dementsprechend auch niemals tun wird. Er heult und ich heule gleich mit.

Meine Nicht-Eltern-Freundinnen hörten sich mit mitleidiger Miene meine Sorgen an, von denen ich mir immer sicher war, dass ich sie mir niemals machen würde, schließlich gehöre ich eher zu den pragmatischen Müttern. „Als der Arzt im Krankenhaus mir nach der Geburt bei der Entlassung einschärfte, das Baby ja nie zu schütteln, dachte ich, der spinnt, wieso erzählt der mir so was“, raunt mir eine Krabbelgruppenfreundin zu, deren Baby ähnlich unruhig schläft. Inzwischen könne sie verstehen, dass so etwas überhaupt möglich sein könnte, wenn natürlich auch unentschuldbar. „Man ist nicht mehr man selbst.“

Das hat die Natur ganz schön riskant eingefädelt, denke ich mir. Schreien ist wegen seiner schnell wechselnden Frequenz angsteinflößend und animiert zu sofortigem Handeln. Der menschliche Schrei ist ein Alarmsignal und hat unsere Vorfahren oft vor Lebensgefahr bewahrt. Nur dass meiner Meinung nach nachts in meinem Bett selten Lebensgefahr herrscht und es dementsprechend unangenehm ist, von einem Gebrüll aus dem Schlaf gerissen zu werden, als schleiche der Tiger durchs Zimmer.

Ich frage meine Freundinnen, die mehrere Kinder haben, wie sie auf die Idee kamen, sich für ein zweites Kind zu entscheiden und wie sie den Alltag meistern. „Man macht einfach immer weiter“, lautet eine ernüchternde Antwort. „Anstrengender sind die älteren Kinder, weil die ständig diskutieren wollen“, sagt die andere Freundin. Alle beruhigen mich: Ganz normal, wahrscheinlich lernt Max gerade etwas Neues oder bekommt Zähne. Ich kann kaum glauben, dass Mütter von Afrika bis Australien seit Jahrtausenden dieses Spiel mitmachen und die Menschheit wächst statt ausstirbt.

Luftveränderung, denke ich mir, und reise ein paar Tage zu Freunden in Süddeutschland. Max schläft super ein, wacht nach zwei Stunden auf – und lässt sich dann gar nicht mehr beruhigen. Er weint in der Bauchtrage, er will aber auch nicht liegen und schreckt immer wieder brüllend auf. Die Nächte des Zorns kulminieren in der Nacht des Horrors. Am nächsten Morgen sehe ich etwas kleines Weißes in seinem Mund aufblitzen: Zwei Zähne sind durch das Zahnfleisch gebrochen. In der Nacht darauf schläft Max acht Stunden am Stück – und ich neben ihm. So wie Schlafmangel die Erinnerung verfälscht, so führt Mama-Schlaf offenbar ebenfalls zu Amnesie. Schon kann ich mich kaum erinnern, dass es jemals anders war. Und drücke hundertfach auf den Foto-Auslöser in meinem Handy. So stolz bin ich, dass mein Baby schon so groß ist und stolz und strahlend die beiden neuen Meilensteine in seinem Mund präsentiert.