Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Kinder oder Rentner: Wer ist schlimmer?

© Picture AllianceKinderwagen brauchen Platz, Kinder sind laut – warum stört das Rentner am meisten?

Unsere Kinder und wir hatten schon viele wunderbare Begegnungen mit älteren Menschen. Nachdem der Vierjährige kürzlich eine ganze Busfahrt hindurch geplappert hatte, sagte beim Aussteigen ein älterer Herr zu meinem Mann: „Ihr Sohn ist ein ganz aufgewecktes Kerlchen! Der macht mit 14 Jahren Abitur! Sie werden sich an meine Worte erinnern!“ Das ist schon eher Quatsch, aber Hand aufs Herz: Wer hört nicht gern, dass das eigene Kind ein Genie ist?, und so waren wir natürlich voller Liebe für diesen Mann. Auch das Baby zieht Rentner magisch an: Mehr oder weniger regelmäßig stecken freundliche ältere Damen den Kopf in den Kinderwagen, machen entzückte Laute, wenn Lukas (acht Monate) sie mit seinen nunmehr sechs Mini-Zähnen anstrahlt, oder tätscheln seine Speckbeinchen, was mir fast schon ein bisschen zu viel der Zuwendung ist.

Aber es gibt auch andere Tage. Da nörgelt der Vierjährige die ganze Busfahrt hindurch, weil er im Doppeldecker mal nicht oben sitzen darf. Oder das Baby wird im Café heulend wach, just als der Kaffee kommt. Oder der Kinderwagen versperrt im Praxisfoyer den Durchgang, oder das Einpacken an der Supermarktkasse mit zwei Kindern dauert zu lange. Es sind gerade die Situationen, in denen sie ohnehin schon bedient sind, in denen Eltern mit kleinen Kindern in der Öffentlichkeit auch noch missbilligende Blicke, manchmal Ermahnungen, schlimmstenfalls boshafte Kommentare ernten – und das insbesondere von älteren Menschen, denn Teenager haben andere Dinge im Kopf, andere Eltern Verständnis und die meisten anderen keine Zeit. Manchmal, scheint mir, reicht es dafür sogar aus, dass wir jungen Familien einfach da sind. Für viele ältere Leute sind wir ein Störfaktor.

Im öffentlichen Nahverkehr Berlins lässt sich das immer wieder beobachten. Im Bus verläuft die Front ziemlich genau zwischen dem Klappsitz-Bereich, der in der Mitte für eingeschränkte Personen oder Rollstühle vorgesehen ist, und dem für die Kinderwagen. Es ist mir schon ein paar Mal passiert, dass ich mit Mühe den Wagen in den gut gefüllten Bus gehievt hatte, weitere Eltern mit Buggys oder andere Fahrgäste sich zur Seite schoben, damit wir hineinpassen – aber die Dame fortgeschrittenen Alters mit dem Rollator oder der Rentner mit den großen Plastiktüten, die schauten auf ihren Klappsitzen betont unbeteiligt aus dem Fenster und zogen nicht einmal den Fuß ein, keinen Zentimeter. Nicht, dass ich erwartet hätte, dass sie für uns aufstehen, aber meist ist Platz genug, wenn jeder ein klein wenig mithilft, und Busreisende sind meist in der Lage, sich mit oder ohne Hilfsmittel zu bewegen – wie sonst hätten sie es in den Bus geschafft?

Rentner und junge Familien: zwei Bevölkerungsgruppen, die auf Rücksicht und Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen sind. Und die diese Rücksicht erstaunlicherweise oft nicht füreinander aufbringen können. Von der jeweils anderen Gruppe fühlen sie sich stattdessen regelrecht gestört und bedroht. Ich selbst bin hier als junge Mutter natürlich befangen, aber ich behaupte: Ich selbst gebe mir wirklich Mühe, auf ältere Menschen Rücksicht zu nehmen. Ich stehe im Bus für sie auf (nur den Kinderwagen kann ich leider nicht wegzaubern), und es regt mich auf, wenn andere Menschen es nicht tun. Als ich nach Berlin zog, habe ich in unserem Kiez anfangs sogar auf der Straße gegrüßt – allerdings stellte ich dann schnell fest, dass die älteren Damen meist nicht antworten, sondern eher ihre Handtasche noch ein bisschen fester an sich drücken. 

Ich wünschte, ich würde mir die Feindseligkeit und bisweilen demonstrative Ignoranz vieler älterer Menschen nur einbilden, aber ich höre immer wieder von anderen Eltern, dass sie es ähnlich erleben. Eine befreundete Mutter fährt lieber Auto im Großstadtverkehr, als mit ihren Kindern im überfüllten Bus auf übellaunige Senioren zu treffen. Und nicht nur im ÖPNV gibt es böses Blut: Ein Elternpaar ist gerade in eine neue Wohnung gezogen und schon jetzt fix und fertig – denn die betagte Nachbarin aus dem ersten Stock rief gleich am ersten Sonntagvormittag erzürnt an, dass es zu laut sei. Die vierjährige Tochter der beiden hatte in ihrem Zimmer zwei Mal hintereinander in Zimmerlautstärke zu „Gangnam Style“ getanzt.

Sicherlich sind die Bedürfnisse von älteren Menschen und die von jungen Familien manchmal schwer kompatibel. Die Älteren wollen Ruhe und Ordnung. Die Jüngeren auch, aber sie haben es aufgegeben, denn sie haben Kinder. Und letztere hauen eben manchmal auf die Pauke. Ich kann mir vorstellen, dass Menschen jenseits der Siebzig oder Achtzig es befremdlich finden, wie Kinder heutzutage aufwachsen: vermeintlich schlecht erzogen, mit weniger „Disziplin“ und „Manieren“, mit mehr Freiheit und mit mehr Selbstbewusstsein. Und die Eltern von heute sind daran natürlich schuld, sie haben ihren Nachwuchs „nicht im Griff“ – insofern sind oftmals nicht die Kinder, sondern die Eltern das eigentliche Feindbild. In einem Einkaufszentrum hat mich eine Frau im Rentenalter einmal angemault, als mein damals zweijähriger Sohn in seinem Buggy einen Schreianfall hatte: „Nun lassen Sie das Kind doch nicht so heulen!“ Ich war erst einen Moment perplex, dann brachte ich nur heraus: „Haben Sie Kinder?“ Sie zischte zurück: „Ja, aber meine haben sich nicht so daneben benommen!“ Am liebsten hätte ich darauf so etwas gesagt wie: „Klar, die mussten halt noch schön strammstehen damals, stimmt’s?“ Aber da war sie schon verschwunden, und mein Kind schrie immer noch.

 Es gibt Tage, an denen macht es mir nichts aus, wenn fremde Menschen unfreundlich sind, wir leben schließlich in Berlin. Und es gibt Tage, da macht es mich fertig. Richtig übel wird es dann, wenn sich die Pöbelei an die Kinder direkt richtet. „Du bist ein ganz, ganz furchtbares Kind!“, hat ein alter Mann einmal die zweijährige Tochter meiner Freundin angefaucht, als letztere im Eingangsbereich einer Bibliothek in Tränen ausgebrochen war und ihre Mutter daneben gerade noch ihren Säugling versorgen musste. Ich will nicht wiedergeben, wie die selbstbewusste Mutter darauf reagierte, es war eine nicht besonders freundliche Erwiderung. Aber ich konnte sie verstehen. Ich wünschte wirklich, ich hätte den Mumm, in solchen Fällen auch selbst mal zurückzukeifen, mein Kind zu verteidigen, anstatt mich dafür zu entschuldigen. Aber dazu bin ich zu gut erzogen.

Wenn ich wieder einmal Aggressionen gegen gemeine Senioren hege, denke ich an Frau Rubitschek, Mitte achtzig, die unter uns wohnt. Manchmal wackelt sie mir in unserer Straße mit wild toupiertem rotem Haar und aufgemalten schwarzen Halbkreisen als Augenbrauen (sie sieht etwas schlecht) entgegen, wenn sie mit ihrem Einkaufstrolley vom Einkaufen kommt. Mein Mann hat ihr mal ihren Fernseher repariert, da konnte sie ihr Glück kaum fassen. Kein einziges Mal hat sie sich in vier Jahren über unser kleines, manchmal schwer zu bändigendes Trampeltier beschwert, und ich habe ständig ein schlechtes Gewissen. Vorsorglich bitte ich sie immer wieder, Bescheid zu sagen, wenn es ihr zu laut wird. „Ach“, winkt sie dann immer ab, dabei weiß ich genau, dass sie jeden umstürzenden Bauklotzturm und jeden unserer Schritte auf dem knarzenden Altbauparkett hören muss. Oft beugt sie sich dann lächelnd über den Kinderwagen. So eine Rentnerin will ich auch mal werden.