Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wer ist jetzt der Bestimmer?

© Picture AllianceFrauen und Kinder zuerst: Wahlen in der Ukraine

Die altersgerechte Vermittlung von Politik ist, sagen wir mal, ein hehres, aber ambitioniertes Ziel. Als unsere Fünfjährige und ich kürzlich wieder an einem Wahlplakat vorbeikamen, wollte sie wissen, warum diese Frau ihr Foto da aufgehängt hat. Mit etwas mehr Zeit und Ernsthaftigkeit hätte ich dem Vorschulkind etwas über Wahlen und Parlamente und Parteien nahebringen können, vielleicht sogar über die Idee eines geeinten Europas. Weil es aber wie immer schnell gehen musste, beließ ich es bei der Standardantwort für Fünfjährige: „Die will Bestimmerin werden.“ Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber für den Moment reichte es. Die Frage bleibt natürlich: Wie sag‘ ich‘s meinem Kinde?

Bei dieser Frage werde ich regelmäßig nostalgisch. Als ich so alt war wie meine jüngste Tochter heute ist, haben zum Beispiel noch die Erwachsenen über das Fernsehprogramm entschieden. Überhaupt gab es da ja auch noch wenig Auswahl für Kinder, kein Horseland oder Haustiercamp und schon gar nichts mit Einhörnern. Stattdessen durfte ich gelegentlich dabei sein, wenn mein Opa und mein Vater gemeinsam eine Bundestagsdebatte anschauten. (Doch, doch, eine ganze Bundestagsdebatte im Fernsehen, das gab‘s mal. Und zwar im Hauptprogramm. Für Spartenprogramme gingen Männer damals in die Schmuddelkinos.)

Ich habe natürlich nichts verstanden von dem, was die Redner im Fernsehen damals sagten. Wahrscheinlich habe ich nebenher Lego gespielt. Es war ja auch noch alles schwarzweiß und ich erinnere mich auch nicht, dass mir zuhause irgendjemand irgendetwas erklärt hat. Ich weiß aber noch ganz genau, dass ich einmal aufgestanden bin und einem Bundestagsabgeordneten einen Kuss gegeben habe. Ich hielt mit meinen kleinen Armen unseren Fernseher umklammert und drückte mein Gesicht auf die Mattscheibe. Das machte meinen Opa ganz ärgerlich und schien meinen Vater sehr zu freuen. So viel Reaktion hatte ich gar nicht erwartet.

Viele Jahre später habe ich kapiert, dass ich ausgerechnet Willy Brandt geküsst hatte. Aber das war wirklich Zufall, es hätte auch Hans-Dietrich Genscher oder Rainer Barzel oder vielleicht sogar eine der wenigen Frauen erwischen können. Es war zu diesem Zeitpunkt von meiner Seite jedenfalls keine wie auch immer geartete politische Festlegung. Und was kann ein Fünfjähriger ahnen von den sehr unterschiedlichen politischen Affinitäten seiner Anverwandten?

Natürlich idealisiert man in der Rückschau vieles, aber das Wohnzimmer, in dem vor den Augen eines Fünfjährigen ganz unterschiedliche politische Überzeugungen aufeinander treffen konnten, ist ein Sehnsuchtsort geworden. (Keine Angst, jetzt kommt nicht noch ein Klagelied über Echokammern und Filterblasen! Aber mehr Alfred Tetzlaff und Schwiegersohn als Algorithmen und Facebook täte unserer Demokratie schon gut.)

Besonders wenn mal wieder eine Wahl ansteht, so wie am Sonntag, wünsche ich mir, dass sich auch bei uns möglichst der ganze Stamm wieder zum politischen Lagerfeuer versammelt, vor allem auch die Kinder. Schließlich geht‘s da um ihre Zukunft und je früher sie das kapieren, umso besser. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen. Es gibt für Zwölfjährige (und jüngere Kinder) inzwischen ein paar Dinge, die spannender sind als mit den Eltern die Wahlsondersendungen im Fernsehen anzuschauen. Streng verboten ist jedenfalls der pädagogische Zeigefinger à la „Das ist viel wichtiger als mit dem Handy daddeln!“. (Auch wenn mir der Satz auf der Zunge liegt.) Überhaupt sollten Eltern nicht predigen. Kinder interessieren sich in der Regel automatisch für die Dinge, die den Eltern wichtig sind. Und: Eltern können immer nur das eigene Bild von Politik vermitteln. Entweder ein langweiliges oder ein spannendes, entweder eins von bösen Mächten, die nur unser Geld wollen, oder eins von fehlbaren Menschen, die Ideen haben, wie wir zusammen leben wollen. Mehr Differenzierung braucht es für Kinder erst mal nicht.

Überhaupt ist das alles natürlich eine grandiose Überforderung. Kinder haben zuallererst und immer das zu tun, was ihnen Spaß macht. Auch an Sonntagen, an denen irgendwelche „Bestimmer“ gewählt werden. Das hindert meine Frau und mich aber nicht daran, dasselbe zu tun und am Sonntag ab 17.30 Uhr eine Wahlparty zu feiern mit Häppchen und Hochrechnung. Vielleicht auch noch mit Freunden. So wie schon bei der letzten und der vorletzten Wahl. In der Vergangenheit hat diese Eventisierung von Politik bei uns zuhause dazu geführt, dass sich doch sehr schnell alle Kinder im Wohnzimmer lümmelten und wissen wollten, was wir gewählt haben. (Ich verweise aber stets auf das Wahlgeheimnis! Außerdem ist es spannender, rauszukriegen, wen sie denn wählen würden. Ohne Beeinflussung durch die Eltern.)

Manchmal wollen Kinder es dann zwischen Käsewürfel und Oliven-Piekser auch genauer wissen. Ob Frau Merkel zum Beispiel auch Chefin von der Polizei ist, oder warum es auf der Welt noch Krieg gibt, wenn doch alle dagegen sind. Die Fragen sind meist nur locker mit dem Anlass verbunden, aber das macht nichts. Denn das sind dann die besten Gespräche. Und auf alles müssen die Erwachsenen ja auch keine Antwort haben.

Für Rückfragen zur Europawahl liegt im Regal in unserem Wohnzimmer schon Anschauungsmaterial bereit: ein Foto meines Opas in Soldatenuniform aus dem 1. Weltkrieg. Und ein Buch mit Widmung vom britischen Taufpaten unserer Tochter: ein Gedichtband von Wilfred Owen, „The Pity of War“. Mehr Anschauungsmaterial braucht es zur Europawahl eigentlich nicht.