Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Einschulung: Vom Ende der Freiheit

Schön wär’s, wenn die Schulzeit nur Bonbons und schöne Überraschungen bereithielte

Wie gut erinnern Sie sich an Ihre Grundschulzeit? Ich erinnere mich an die „Aufstellen!“-Rufe der Lehrer zum Ende der Pause, an den knallrosa Lippenstiftabdruck auf der Blockflöte meiner Musiklehrerin. An die Feuerbohnenpflanzen, die wir im Deutsch-Förderunterricht zogen. An die Sportbeutel, die wir ab und zu aufs Turnhallendach schossen, und den Ärger danach. An ein paar böse Treffer beim „Völkerball“ und an Gabi aus meiner Klasse, die schimpfte, ich solle erst einmal richtig Deutsch lernen, dann könnten wir Freundinnen sein. Sie kam aus Polen, genau wie ich.

Es war eine unspektakuläre, sorglose Zeit, und die Erinnerungen daran (außer die an Gabi) wecken ein warmes Gefühl in mir. Heute ist mir klar, wie prägend diese vier Jahre für mein weiteres Leben waren und wie viel Glück ich hatte: keine Schlägereien, keine Unterrichtsausfälle, solide Lehrer, solide Toiletten. Die Grundschule hat mich aufs richtige Gleis gesetzt. Dabei haben meine Eltern sich seinerzeit vermutlich nicht viele Gedanken gemacht über die richtige Schule oder den richtigen Zeitpunkt für die Einschulung, sie hatten in unserem Dorf am Rande des Sauerlands auch nicht viel Auswahl.

Mein Mann und ich leben mit unseren Kindern heute in einer Millionenstadt, mit gleich mehreren Schulen unterschiedlicher Träger und unterschiedlicher Reputation in fußläufiger Entfernung. Wir zerbrechen uns den Kopf sowohl über die richtige Schule als auch über das richtige Timing für die Einschulung. Dabei gibt es hier auf den ersten Blick auch nur wenig Spielraum. Die Kinder, die bis zum Stichtag 30. September eines Jahres sechs Jahre alt geworden sind, sind in Berlin „Muss“-Kinder, werden also in der Regel im gleichen Jahr eingeschult. Unser Sohn Ben ist im September geboren. Bei seiner Einschulung Mitte August 2020 wäre er noch nicht einmal sechs. Das kommt mir verdammt früh vor. (Allein schon dieses hässliche Wort „Einschulung“! Es klingt nach einem Monster, das mit einem lauten „Gulp“ Kinder verschluckt.)

Wir wissen: Es gibt die Möglichkeit, sein Kind auf Antrag von der Schulpflicht zurückzustellen, wenn sein Entwicklungsstand „eine bessere Förderung in einer Kindertagesstätte erwarten lässt“. Dafür muss die Kita eine entsprechende Stellungnahme abgeben. Allerdings kann unsere Kontakterzieherin sich derzeit nach eigener Aussage nicht vorstellen, was sie da hineinschreiben sollte. Das ist zunächst einmal ein Grund zu Freude: Ben ist kognitiv schon jetzt ziemlich weit, er redet wie ein Wasserfall und stellt Fragen, deren Antworten ich mitunter erst einmal recherchieren muss. „Ich weiß noch nicht so viel über die Welt“, sinnierte er unlängst bei einem Waldspaziergang mit seiner Kita-Truppe, hat man mir erzählt. Wird also Zeit, dass sich das ändert. Oder?

Bei der sozial-emotionalen Komponente der Entwicklung ist die Sache weniger eindeutig. Ben kann in seinem vertrauten Umfeld, zu Hause und in der Kita, richtig aufdrehen, aber in neuen Umgebungen und in neuer Gesellschaft zieht er sich sehr zurück und sucht unsere Nähe, wirkt manchmal regelrecht ängstlich. Als wir vor einem Jahr anfingen, mit ihm zur Musikschule zu gehen, freute er sich zunächst und trommelte bei der musikalischen Früherziehung inbrünstig mit Kastanien. Dann aber folgten ein paar Wochen, in denen zwar er gut gelaunt bis zum Eingang des Musikraumes kam, dann aber plötzlich blockte und sofort mit mir nach Hause wollte. Da seien „so viele fremde Kinder“, sagte er später. Ein paar Wochen später ging es wieder, aber diese Phase hat mich zum Nachdenken gebracht. Bis heute muss ich während des Musikkurses immer im benachbarten Raum warten, weil Ben offenbar Angst hat, ich könnte ihn zurücklassen.

Ich weiß, es wurden und werden millionenfach Kinder eingeschult, lernen neue Kinder kennen, und sie überleben es. Und ich kann es meinem Kind nicht ersparen, sich früher oder später in einem neuem Umfeld zurechtfinden zu müssen. Aber ist es erstrebenswert, so früh wie nur irgend möglich damit anzufangen, in dem Wissen, dass ein großes Stück Unbeschwertheit damit verloren geht? Seien wir ehrlich, es gibt nun einmal ziemlich viele Gabis da draußen – und die war nun wirklich harmlos im Vergleich zu dem, was heute bisweilen über die Realität in den Schulen zu hören und zu lesen ist. Dabei muss man gar nicht erst das furchtbarste Kopfkino bemühen. Mir reicht es, mir vorzustellen: Schule, Ausbildung, Job – all das wird ohnehin den größten Teil von Bens Leben einnehmen. Selbst wenn er auf die Schule mit dem besten Ruf kommt, wenn die Lehrer motiviert sind, die Klos sauber: Was spricht dagegen, zuvor einfach ein Jahr länger zu spielen, fernab von Hausaufgaben, Bewertungen und Attestpflicht? Zumal wir mit Lukas (zehn Monate) ein zweites Kind haben, mit dem wir bisher einfach verreisen oder etwas unternehmen können, wenn uns danach ist und der Job es zulässt. Zu viert mit einem Schulkind ginge das nicht mehr so leicht.

Häufig ist das Argument zu hören, die Kinder würden sich bei einer Zurückstufung in der Kita tendenziell langweilen, regelrecht „versauern“. Aber Ben liebt seine Kita, und ausgerechnet seine liebsten Spielkameraden sind allesamt etwas jünger und kommen ebenfalls erst ein Jahr später in die Schule. Es liegt nahe, dass ein Kind mit knapp sieben einfach besser mit- und ankommt in der Schule als mit knapp sechs. Sowohl was das Lernen an sich angeht als auch in der neuen Klassengemeinschaft.

Vielleicht mache ich mir aber auch unnötig Sorgen und Ben blüht in der Schule richtig auf. Und vielleicht bin ich zu egoistisch. Ganz bestimmt jedenfalls habe ich ein Problem mit dem Loslassen, wie mir jüngst schon Bens Kita-Reise vor Augen geführt hat. Letztlich weiß ich: Der Ernst des Lebens kommt, egal wann, sowieso immer zu früh. Vor allem für uns Eltern. Wir werden deshalb, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, keine Zurückstellung beantragen, auch nicht mit Verweis auf Bens emotionale Entwicklung. Stattdessen werde ich eines Abends im August, wenn Ben schläft, heulend eine Schultüte packen, und unser Schulkind am nächsten Tag strahlend verabschieden.

… Und dann kandidiere ich für den Elternbeirat und werde der Schule genau auf die Finger schauen. Ha!