Lieber Kellerraum,
zwischen uns war es keine Liebe auf den ersten Blick. Als ich dich das erste Mal vor gut dreizehn Jahren sah, warst du staubig, feucht und sehr dunkel. Du brauchtest eine gründliche Sanierung, genau wie der Rest des Hauses. Dennoch erkannte ich sofort dein Potential. „Hier könnte doch später mal ein kleines Spielzimmer entstehen“, sagte ich. Aber mein Mann schüttelte nur den Kopf und deutete auf die Rohre, die an deiner Decke quer durch den Raum führten. Er meinte, es würde sich nicht lohnen sie umzulegen, du wärst ja sowieso viel zu düster und es gäbe so viele andere Baustellen in unserem neuen Haus. So zog die Heizungsanlage bei dir ein. Wir rissen nebenan die Wände ein und bauten dort neue Fenster und Türen ein. Es wurde hell in meinem neuen Waschkeller mit direktem, ebenerdigem Gartenzugang. Auch du bekamst ein kleines Fenster, aber eher aus lüftungstechnischen Gründen, denn durch deine Lage warst du immer noch sehr dunkel. Dein Boden und die Seitenwände wurden schulterhoch gefliest. Praktisch und sauber wollte man dich haben. Ich bestand drauf, wenigstens den Rest der Wände farbig zu streichen und den Boden zusätzlich mit buntem Teppich auszulegen, um dir deine kalte Erscheinung zu nehmen. Deine hässlichen Rohre überzog ich lose mit Stoff und brachte vor der Heizungsanlage einen Vorhang an. Du warst immer noch keine Schönheit, aber ich wusste, du würdest mir einmal von Nutzen sein!
In dieser Zeit wurde Maya geboren und Lara kam in den Kindergarten. Als Maya krabbeln und sitzen konnte, dientest du dann doch als Spielzimmer. Während ich die Wäsche machte und bügelte, hörten die Mädchen auf ihrem kleinen Kinderkassettenrekorder Hörspiele oder Musik und spielten auf deinem Boden. So hatte ich die Mädchen gut im Blick. Laras fünften Geburtstag wollte ich dann probeweise im Keller ausrichten. Mein Mann versuchte mir die Idee auszureden. Er fand dich immer noch viel zu hässlich und dunkel. Aber ich setzte mich durch, schob die Spielsachen zur Seite, stellte Tische und Bänke zu einer kleinen Tafel zusammen, dekorierte alles farbenfroh und räumte den Waschkeller aus, damit die Kinder auch diesen nutzen und von dort aus in den Garten laufen konnten. Es war so praktisch, denn dir machten all der Dreck, die Kuchen- und Flipskrümel nichts aus.
Ab da an wurdest du zweimal im Jahr zum Partykeller. Ich lebte meine ganze Kreativität und das Kind in mir aus und verwandelte dich mit Kunststoff-Wandfolien und jeder Menge Deko in eine Unterwasserwelt, in einen Eisköniginnenpalast, in einen bunten Dschungel, in eine Gruselkammer und in den Weltraum. In einem Jahr wurdest du zur Rollerdisco. Ich improvisierte eine Bühne aus zwei Holzpaletten und verkleidete sie. Im bunten Discolicht brausten die Partygäste auf ihren Rollschuhen und Inlinern rein und raus und sangen auf der Bühne Karaoke.
Nach jeder Party habe ich dich vom Dreck befreit, deinen Boden gesaugt, gewischt und die Reste der Dekoration bis zur nächsten Party und Umgestaltung belassen. Ich habe mal nachgerechnet: Ganze achtzehn Mal haben wir dieses Szenario nun schon gestemmt. Nur einige wenige Male wollten die Mädchen ihren Geburtstag außer Haus feiern. Zwischen den Partys fungiertest du wieder als Spielkeller. Die Mädchen bauten ihren Playmobilreiterhof oder die Schleichfeen-Welt auf deinem Boden auf und ließen ihr Werk über Wochen stehen. In den Wohnräumen musste es halbwegs ordentlich sein, aber hier hat es nie gestört, wenn man keinen Fuß mehr auf deinem Boden setzen konnte. Auch nicht, wenn Lara und Maya sich mit ihren Freundinnen verkleideten und der ganze Inhalt der Verkleidungskiste anschließend bei dir rumflog.
So vergingen deine Jahre und auch unsere. Doch je älter die Mädchen wurden, desto weniger brauchten sie dich. Zwischen den Partys wurdest du immer mehr zur Abstellkammer für ausrangiertes Spielzeug. Spielzeug, von dem sich die Mädchen nicht trennen konnten, das sie aber nicht mehr im eigenen Zimmer haben wollten. Du wurdest zum Zwischenlager für Dinge, mit denen man nicht mehr regelmäßig und schließlich gar nicht mehr spielen wollte. Wir mussten uns schmerzlich eingestehen: Deine Tage als Spielzimmer sind langsam gezählt. Anfang des Jahres haben wir deinen Teppichboden rausgerissen, altes Spielzeug aussortiert, verschenkt und verkauft. Jetzt steht eine Wohnlandschaft bei dir. Du bist nun ein Hybrid. Unter der Woche beherbergst du Mayas große Barbie-Sammlung und liebgewonnene Stofftiere. An Wochenenden bietest du immer öfter einen Rückzugsort für kichernde Teenager, die sich auf deiner Wohnlandschaft lümmeln, Pizza essen und mit dem alten Röhrenfernseher DVD-Nächte veranstalten. Man schätzt deine Abgeschiedenheit und Verschwiegenheit. Lärm schluckst du einfach wortlos.
Wenn Lara dich braucht, lagert sie alles, was ihr zu unerwachsen erscheint, aus: das Barbie-Haus, die Verkleidungs- und Stofftierkiste. Aber nicht zu weit weg! Nur in den Nebenraum. Darauf bestehe ich! Denn hin und wieder leistet Maya mir immer noch Gesellschaft, wenn ich bügele, und spielt oder baut etwas auf. Dann ist es wie in alten Zeiten. Ich weiß noch, wie stolz Maya mit ihrer allerersten selbstgebastelten Laterne durch deinen dunklen Raum gezogen ist. Lara hat dabei lauthals Martinslieder geschmettert und dann die Mantelteilung nachgespielt. Immer und immer wieder. Ich habe im Dunklen einfach nur dagesessen und habe den beiden bei ihrem kleinen Laternenumzug zugeschaut. Und ich sehe noch die verklärten Gesichter der Mädchen vor mir, wenn sie am Tag ihrer Kindergeburtstagsparty endlich in den Keller durften, um dich geschmückt zu bewundern. Ihre Begeisterung war immer riesig und sie fanden dich wunderschön.
Du lieber, unperfekter Kellerraum, du hast dich stets unseren Bedürfnissen angepasst. Und ich bin dankbar, dass ich dich habe. Letzte Woche hat Maya ihren zwölften Geburtstag gefeiert. Wir beide haben noch einmal alles geben, um aus dir eine kindgerechte VIP-Lounge zu zaubern, mit rotem Teppich und allem was dazugehört. Es war wieder sehr viel Arbeit, aber es hat sich doch gelohnt. Nach der Party waren wir beide, wie immer, sehr mitgenommen. Ich habe dich müde und geschlaucht vom Dreck befreit, deinen Boden gesaugt und gewischt und die Reste der Dekoration belassen. Ich möchte noch nicht alle Spuren beseitigen. Denn die Zeit vergeht mir viel zu schnell. Aber sorge dich nicht, noch werden wir beide gebraucht. Da bin ich mir ganz sicher! Denn nirgendwo lassen sich besser Teenagerpartys feiern als in deinen verschwiegenen Wänden. Du meckerst nicht über verschüttete Cola oder Chipskrümel und ich mache dich danach gerne wieder sauber. Denn in dir findet so viel Leben statt.