Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Alles auf Zucker

Kann man übermäßigem Süßigkeitenkonsum, ausgerechnet, einen Riegel vorschieben?

Als wir Kinder waren, zogen wir zu Sankt Martin mit den Laternen um die Häuser, von Haustür zu Haustür der Nachbarn, um uns singend volle Tüten leckerer Süßigkeiten zu verdienen. Die wohlgesinnten Nachbarn schöpften aus dem Vollen, indem sie uns Schokolade, Lutscher, Saure Zungen und Weiße Mäuse in Hülle und Fülle in die mitgebrachten Beutel gaben, selbst mir, obwohl ich, wie mir später erzählt wurde, meist mit zugekniffenem Munde dabei stand; nur dann und wann verirrte sich eine Apfelsine in die Schar zuckersüßer Überraschungen. Welch, im wahrsten Sinne des Wortes, gelegentlich herbe Enttäuschung!

Nur eine Familie, das wussten wir natürlich alsbald, scherte aus der Süßigkeiten-Phalanx aus. Eine Familie, wenig überraschend eine Zahnarztfamilie, bot uns meist nur Nüsse, Pistazien, Studentenfutter, Mandarinen und Apfelsinen an. Was all zu sehr nach Mutters Obstteller und Vaters Nussschale aussah und auch roch, interessierte uns eher nicht. Nicht wirklich. Wenn wir hingingen, dann nur, um die Familie nicht vor den Kopf zu stoßen, die sich Mühe und Gedanken gemacht hatte und auch eine brennende Kerze ins Fenster. Aber wir sangen schneller und schiefer. Wobei: Ich sang vermutlich gar nicht.

Die Episode ist mir neulich wieder eingefallen, als ich darüber nachgedacht habe, wie sehr Süßes die Kinder reizt und wie viel davon eigentlich noch vertretbar ist. Auch mein Kind! Mein Sohn ist fast drei Jahre alt, und Süßigkeiten üben auf ihn denselben Reiz aus wie schon auf Generationen von Kindern vor ihm. Was in den Pippi-Langstrumpf-Filmen noch die Dauerlutscher und groben Malz-Bonbons im Schaufenster des Süßwarengeschäftes waren, sind heute Gummibärchen, Schokolade (alles bis auf Zartbitter) und süße Säfte. Apfelsaft, Orangensaft, Traubensaft. Ja, süß muss es sein. Und es gibt kaum ein Entrinnen.

Ein einziger Spießrutenlauf

Früher dachte ich, es sei leicht, sein Kind von Süßigkeiten beziehungsweise deren übermäßigem Konsum abzuhalten. Einfach Nüsse geben. Und Wasser statt Saft. Limonaden sind bei uns zuhause ohnehin nur anzutreffen, wenn es eine Party gegeben hat. Und auf die Einsicht des Kleinen bauen. Wie naiv. In Wahrheit ist es ein einziger Spießrutenlauf, dafür zu sorgen, dass Elias nicht permanent einen Lutscher im Mund hat. Im Supermarkt gibt es zwar an der Fleischtheke immer noch das gute alte Stück Fleischwurst auf die Hand (das, im Übermaß gegessen, wohl kaum gesunder wäre), überall sonst aber scheint es noch immer en vogue zu sein, Kleinkindern Süßigkeiten zu schenken. Selbst in der Apotheke gibt es Traubenzucker-Bonbons, bei der Bank Kaubonbons. Wenn man Elias fragt, ob er gerne mal wieder in ein Flugzeug steigen möchte, sagt er: Ja, da könne man so viel Gummibärchen essen wie man möchte. Lufthansa und Emirates sei Dank.

Seine Erfahrung gibt ihm recht. Auf Flügen sind die Stewardessen wenig sparsam mit Gummibärchen – das ist auch nett, sympathisch und extrem hilfreich, kein Vorwurf: Den Ohrendruck bei Start und Landung jedenfalls kaut Elias beharrlich weg. Aber zugleich ist das natürlich die Crux: Weil Süßigkeiten als Ablenkung und Anreiz für ein bestimmtes erwünschtes Verhalten perfekt funktionieren, hat man sie schnell zur Hand. Auch die Tagesmutter, die ihre Aufforderung zum Zimmeraufräumen gerne mit der Aussicht auf ein, zwei oder drei Gummibärchen flankiert. Funktioniert. Und sicher auch beim nächsten Mal; das zu wissen, ist ein Pfund für jede Betreuungsperson.

Ich werde da manchmal auch schwach: Wenn Elias wieder einmal vor unseren Treppen steht und getragen werden möchte, ich aber ohnehin schon bepackt bin mit zwei Beuteln Einkauf und meiner Arbeitstasche und mich die Stufen hoch ächze, verspreche ich ihm auch schon mal Gummibärchen. Seitdem die Aussicht auf salzige Brezel bei ihm nicht mehr automatisch als ein überzeugendes Argument zieht, flüchte ich mich wie viele andere auch in die süße Verheißung. Man könnte einen Apfel in Aussicht stellen. Aber das ist in der Gegend, wo ich wohne, inmitten von Apfelfeldern, ungefähr so effektiv, wie einem Beduinen auf dem Sinai Sand anzubieten.

Natürlich gibt es Schlimmeres als Süßigkeiten. Nur, das Problem ist: Im Gegensatz zu Astrid Lindgrens Kinderzeiten steckt unsere Ernährung voller Zucker und Kohlenhydrate, Mehlspeisen, Süßigkeiten, Marmeladen, Waffeln hier, Plätzchen dort. Gemeint ist vor allem der Industriezucker, der künstlich zugesetzt wird. Natürlich enthalten Obstsorten Zucker, Fructose, Milch und verarbeitete Milchprodukte Lactose. In einem bestimmten Maße braucht der menschliche Kleinkindkörper natürlich ebenso wie Erwachsene diese Kohlenhydrate, so wie er auch Eiweiße und Fette benötigt, um mit Energie durch den Tag zu kommen. Aber in aller Regel reichen die Kohlenhydrate der natürlichen Lebensmittel, die wir und die Kinder zu uns nehmen.

Die dicken Kinder von Deutschland

Der durch die vielen Industriezucker-Leckereien übermäßige Zuckerkonsum ist in vielerlei Hinsicht bedenklich. Zum einen, weil er dazu führen kann, dass Kinder zu schnell und zu heftig Körperfett aufbauen. Nach mehreren Studien ist jedes vierte bis siebte Kind in Deutschland übergewichtig. Schuld daran sind nicht in erster Linie die schweren Knochen, hervorgerufen durchs Familienerbgut, sondern die Lebensbedingungen. Anders sind die starken Zunahmen – welch treffendes Wort – an fettleibigen Kindern in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht zu erklären. Zum anderen für die Zähne. Wenn man Kinder schon früh daran gewöhnt, Saft statt Wasser zu trinken, dann verinnerlichen sie den Geschmack und wollen nichts anderes mehr haben. Von Fanta oder Sprite gar nicht erst zu sprechen.

Es ist wie bei sehr alten Menschen, die nur noch Salziges und Süßes schmecken. Auch Kinder werden magisch angezogen von diesen besonders starken Geschmacksträgern. Pommes. Salzbrezel. Aber vor allem Zucker! Das ist vor allem deshalb bedenklich, da Zucker gewissermaßen süchtig macht. In der Zeit, da sich der Geschmackssinn beim Kind erst zu bilden hat, also in den ersten beiden Lebensjahren, wird somit der Pfad gepflastert, der höchstwahrscheinlich im weiteren Leben begangen wird. Gerade vor dem Hintergrund, dass die meisten Kinder im späteren Leben eher vor dem Computer statt auf dem Bau arbeiten werden, die Unbeweglichkeit also zum Normalzustand zementiert wird, sind die zu sich genommenen Kalorien einfach zu viel des Guten. Davon abgesehen, dass später Diabetes entstehen und übermäßiger Zucker die Darmflora aus dem Ruder bringen kann.

Was also tun? Es ist nicht leicht, aber aus eigener Erfahrung darf ich das sagen: Nein sagen! Auch wenn das Kind dann in Tränen ausbricht, das muss man aushalten. Vielleicht hilft der Gedanke daran, dass Eltern ihren Kindern dadurch nicht schaden, weil sie ihnen etwas Begehrtes vorenthalten, sondern sie schützen sie vor etwas Schädlichem! Wie eine heiße Herdplatte oder ein spitzes Messer. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Aber die zeitliche Verdichtung unseres Alltags darf nicht dazu führen, dass wir aus Bequemlichkeit permanent Ja und Amen zu Süßigkeiten sagen, nur damit wir Eltern unsere Ruhe haben. Ausnahmen sollen natürlich weiterhin sein, ist doch klar.

In unserem Falle funktionieren andere Belohnungen: Joghurt zum Beispiel, und damit meine ich jetzt nicht den leckeren, aber heillos überzuckerten Fertigjoghurt. Natur-Joghurt (am besten Bio) enthält oftmals nur wenige Gramm Milchzucker (Lactose) auf 100 Gramm. Das ist die bessere Option und schmeckt, mit ein paar Himbeeren vermanscht, mindestens genauso gut. Sogar dem Kleinen, der darüber glatt die Gummibärchen vergessen könnte. Eine Riesen-Arbeit ist es auch nicht, schnell gemacht und bekömmlicher.

Allerdings währt das nur kurze Zeit, wenn wir, das heißt die Eltern, unser Verhalten nicht auch gleich ändern. Wir zuhause ersetzen beispielsweise permanent leere Gummibärchentüten, so dass der Kleine mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass welche da sind, wenn er auf die Schranktür zeigt. Und wir ersetzen häufig die verputzten Schokoladentafeln, die „Kauf mich!“ heißen könnten, weil sie im Geschäft mittlerweile fast immer im Angebot sind. Bleibt schön im Regal liegen, ihr Zuckerblöcke! Das zumindest kann ich mir ja mal vornehmen. Ansonsten ist vielleicht der Blick auf die Lebensmittel-Ampel Nutri Score, die bald kommt, ein Ansporn: Zucker wirkt sich da bei der Beurteilung eher ungünstig aus.