Seit etwa einem Monat betreibt unsere mittlere Tochter (10) Zeitmanagement. Sie klebt bunte Post-its in ihren Wochenplaner, trägt Klausurtermine des Schulhalbjahrs ein, Abgabefristen, regelmäßige Selbstverpflichtungen („Englisch-Vokabeln wiederholen“) und hakt ab, was in der Woche an Aufgaben erledigt ist. Sie macht das aus eigenem Antrieb. Also gut: Sie macht das, weil ihre Lehrerin ihr das gezeigt hat. Okay, das ist auch nicht die ganze Wahrheit: Ihre Lehrerin hat ihr das gezeigt, weil ich „Zeitmanagement“ im Elterngespräch als mögliches Entwicklungsziel für unsere Tochter erwähnt habe. Was nicht ganz zutreffend war, na ja, zugegeben: Ich hab dieses Entwicklungsziel im Elterngespräch nur erwähnt, weil mir nichts anderes eingefallen ist, man die 20 Gesprächsminuten ja füllen muss – und ich selbst mir nichts sehnlicher wünsche als das perfekte Zeitmanagementsystem. Das arme Kind ist also Opfer meiner Projektion. Eigentlich müsste ich mich – nicht sie sich – viel intensiver um das effiziente Management der knappsten unserer Ressourcen kümmern. Aber ich bin da inzwischen Realist.
Vielleicht liegt das auch an der Jahreszeit. Der Herbst ist die Jahreszeit, in der ich mit der Vergänglichkeit meiner eigenen Zeitplanung am deutlichsten konfrontiert werde. Dann finde ich endlich meine alten Jahresziel-Notizen aus dem Vorjahr wieder („Rom-Reise organisieren!“, „jede Woche 60 Minuten Laufen“, „Flohmarkt-Termine checken wegen Dachboden“ usw.) – und lege sie zur Wiedervorlage ab. Es ist auch die Zeit, in der ich all die verwaisten Familienkalender entsorge, mit den wenigen Einträgen, die ich gleich nach dem Kauf gemacht hatte (unsere Geburtstage und die Schulferien). Und es ist die Zeit, in der ich – trotz oder gerade wegen der ernüchternden Zeitplanungserfahrungen der Vorjahre – wieder irgendeinen klobigen Tisch- oder Wandkalender kaufe oder eine Zeitplanungs-App herunterlade, Google Kalender oder Outlook aktualisiere. Es ist mehr Ritual als Management-Tool, eher Selbstvergewisserung als Projektierung. Im irgendwann real existierenden Jahresverlauf werden diese Tisch-Kalender und elektronischen Erinnerungen wahrscheinlich keine Rolle spielen. Auch sie werden verwaisen, veralten, verschwinden. Trotzdem gibt es da die irrlichternde Hoffnung, man könne die Termine im Griff behalten und nicht umgekehrt selbst ganz von ihnen vereinnahmt werden.
Es ist paradox: Familien, insbesondere mit zwei berufstätigen Elternteilen und einer Kinderzahl oberhalb der 1,59 Durchschnittskinder, brauchen ein straffes Zeitmanagement, müssen einen Überblick über ihre Termine behalten – und alle Hilfsmittel nutzen, die dazu zur Verfügung stehen. Andererseits sind Planbarkeit und Familienleben wie Öl und Wasser – im besten Fall kann man eine Emulsion daraus machen, wirklich verbinden lassen sie sich nicht. Im Laufe der Jahre haben wir verschiedene Werkzeuge zur Zeitplanung in der Familie ausprobiert. Der Übersichtlichkeit wegen differenziere ich hier nur zwischen den sechs gängigsten Varianten, also alles ohne Anspruch auf Vollständigkeit. (Ich freue mich aber sehr über weiterführende Leser-Tipps zur Zeitplanung für Familien!).
Da gibt es zunächst die minimalistische Variante: der zweiseitig bedruckte DIN A4-Tafelkalender, für Angeber auch in DIN A5 erhältlich. Mehr Termin pro Quadratmillimeter Kalender geht gar nicht! Perfekt für einen eher philosophischen Blick auf das nächste Jahr. Mit Miniaturschrift kann es gelingen, Geburtstage und wichtige Familienfeste einzutragen. Aber das war es dann auch. Für eine fünfköpfige Familie ist die minimalistische Variante im besten Fall als Mal- und Klebeunterlage für kindliche Kleinkunst geeignet.
Zweite Option – quasi das andere Extrem: Zeitplanung als Wohnraum-Tattoo. Meist in Form eines Wandkalenders, der die Fläche einer IMAX-Kinoleinwand füllen könnte. Hier hat gegebenenfalls sogar das Familien-Haustier Platz, eigene Termine einzutragen. Regelmäßig gepflegt wird hier kein Termin mehr übersehen. Der XXL-Familien-Wandkalender kommt meist mit anstrengenden Cartoons oder kitschigen Stockphotos oder sinnfreien Sprüchen zum Familienleben. Für Wohnraum-Ästheten ist er eine Herausforderung. Der Familien-Wandkalender wird gern verschenkt, aber von den Beschenkten nur im Heizungskeller oder im Fahrradschuppen aufgehängt. (Wir haben bei unserem XXL-Familienkalender 2019 die Monate Februar bis Dezember übersprungen und für ihn schon vor einiger Zeit einen neuen Platz im Altpapier-Container gefunden.)
Dritte Möglichkeit: Zeitmanagement via digitalem Striptease. Also Google oder Microsoft oder Apple oder irgendwelchen anderen Fremden mitteilen, dass die Jüngste am Wochenende ein Fußballturnier hat, die Mittlere am Montag eine Geographie-Klausur, die Älteste zur Ärztin muss, meine Frau beruflich eine Woche weg ist und ich am Freitag zum Klassentreffen gehe. Es ist so bequem, so schnell, so geräuschlos. Algorithmen, die über die effiziente Nutzung unserer knappsten Ressource wachen. Erinnerungsmail oder -Popup inklusive. Wie viel Rücksprache wäre inzwischen notwendig ohne die Echtzeit-Synchronisation unserer Leben! Gab es überhaupt je eine Zeit, in der man anders als durch einen Blick auf die persönliche Elektronik feststellen konnte, ob man als Familie am Wochenende „frei“ hat? Klar, da ist das Datenschutz-Problem, aber da kümmere ich mich dann in zehn Jahren drum, wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Das digitale Zeitmanagement, obwohl in der Regel sehr effizient, scheint aber auch Nebenwirkungen zu haben, die der ursprünglichen Zielsetzung – mehr Zeitsouveränität – entgegenstehen. Vielleicht ist es ja etwas Geschmäcklerisches, aber ich mag nicht von Alexa oder Cortana oder Google Assistant oder von einer blöden Pop-Up-Meldung daran erinnert werden, wann wir einen Familienausflug geplant haben. Das raubt mir die Vorfreude. Und: Diese digitalen Assistenten vergessen nichts – das macht sie so unerträglich für die Familienzeitplanung. Sie verrühren Geburtstage und Arzttermine, Urlaubsreisen und Klassenarbeiten, Besorgungen und Besuche zu einem nie endenden Strom von „Kalenderereignissen“.
Wer auch solche feingeistigen Abneigungen verspürt, kann – in Ergänzung und viertens – zum klassischen Notizbuch als Terminplaner greifen, gegebenenfalls ergänzt durch Kalendereinleger. Vorteil: Es ist weitaus schicker als die bisher genannten Varianten und vermittelt mit seinen weißen Seiten tatsächlich das Gefühl, Herr oder Frau der eigenen Zeit zu sein. (Was natürlich nicht stimmt, wie alle Eltern wissen!) Da kann man dann beliebig viel über bestimmte Familientermine aufschreiben, Ideen und Fragen notieren („Sommerurlaub? Wann? Wo? Budget? Auto? Kaninchen?“), und sich daran bei Diskussionen in der Familien orientieren. So weit das Ideal. In der Regel werden aber auch hier nur die ersten zehn Seiten genutzt und spätestens Anfang Februar erfolgt die Terminabstimmung nur noch digital. Denn natürlich hinkt das Haptisch-Analoge gnadenlos hinterher, wenn die geballten Terminlisten von drei Schülerinnen und zwei berufstätigen Eltern eingepflegt und synchron gehalten werden müssen.
Gott sei Dank gibt es noch zwei andere Möglichkeiten, das Termin- und Zeitmanagement-Problem in Familien zu lösen: nämlich, fünftens, die Zettelwirtschaft. Und, sechstens, die Sündenbock-Variante. Beide verbinden ein Höchstmaß an Freiheitsgraden mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass Termine nicht vergessen werden.
Bei der Zettelwirtschaft werden Termine oder Terminlisten an einer für alle Familienangehörige zugänglichen Stelle befestigt. In unserem Fall ist das der Kühlschrank. Zur Zeit hängen da zwei Kindergeburtstagseinladungen, ein Arzttermin, drei Stundenpläne und ein Termin für eine Autoinspektion. Mehr Kühlschrank-Magnete haben wir nicht. Vorteil dieser Methode: Irgendjemand wird sich so wahrscheinlich an den einen oder anderen Termin erinnern lassen. Nachteil: Für die Langfristplanung eher ungeeignet, da der Platz am Kühlschrank auch mit Todo-Listen und Einkaufzetteln geteilt werden muss.
Bleibt meine Lieblingsvariante, die auch gern im Berufsalltag praktiziert werden kann: die Sündenbock-Lösung. Man notiere den Termin (oder die Aufgabe zur Terminfindung) und lege die Notiz mit kurzem Übergabe-Vermerk im Eingangskorb, auf dem Schreibtisch oder auf dem Ablagestapel anderer Familienangehöriger ab („Kannst du dich bitte darum kümmern! Danke!“). Wichtig: Die Notiz darf nicht sofort auffallen (sonst gibt es vielleicht langwierige Diskussionen), sondern sollte im allgemeinen Schreibtisch-Chaos harmonisch verschwinden. Idealerweise wird sie kurz vor dem Termin wiedergefunden („Das hab ich dir schon vor Wochen auf deinen Schreibtisch gelegt!“). Falls nicht, na ja, man kann sich nicht um alles kümmern. Man muss sich auch mal auf andere verlassen können.