Es war wahrscheinlich mein Gesichtsausdruck. Dieser eine Moment ungläubigen Staunens, der mich verraten hat. Eigentlich wollte ich mir nichts anmerken lassen. Aber ich war tatsächlich sprachlos, vielleicht war da sogar Entsetzen auf meiner Stirn. Meine Frau hatte mir gerade einen Siebener-Pack roter Stumpenkerzen in die Hand gedrückt. Einfach so, ohne Worte – und dann meine Reaktion abgewartet.
In der Regel weiß ich inzwischen in den meisten Haushalts- und Familiensituationen, was von mir erwartet wird, selbst wenn ich in Wirklichkeit keine Ahnung habe, um was oder wen es sich dreht. Fremdeltern und -kinder begrüße ich zum Beispiel mit sprudelnder Herzlichkeit, während ich gleichzeitig verzweifelt versuche, mich an deren Namen zu erinnern oder woher ich sie kenne. Bei Anfragen in den Elternchats der Schule melde ich mich vorbildlich als einer der ersten zum Abbauen, ohne die Details der Anfrage vorher zu studieren, nur damit ich nicht mit irgendwelchen komplizierteren Aufgaben sitzenbleibe. Und beim Schuhkauf für die Jüngste („Klar weiß ich, dass sie neue Schuhe braucht“) taste ich mich vorsichtig von Größe 21 an ihre tatsächliche Schuhgröße heran (32). Aber rote Stumpenkerzen??
„Wenn ihr den Adventskranz bastelt, braucht ihr doch Kerzen“, klärte mich meine Frau auf. „Das hast du doch auf dem Schirm, oder?“ Mutigere Menschen als ich hätten jetzt wahrscheinlich offen zugegeben, dass sie nicht geahnt haben, dass nach dem November bald auch der Dezember kommt, der am meisten mit Erwartungen überfrachtete Monat des Jahres. Ehrlichere Zeitgenossen hätten sich und der Welt auch eingestanden, dass sie diesen ganzen vorweihnachtlichen Aktionismus ablehnen und er sie überfordert. Reaktionärere Geister hätten sich dahinter versteckt, dass Adventskranz-Basteln und ähnliches Zeug zu „Familie und dem ganzen Gedöns“ gehört, also immer schon weiblich konnotiert war, und sich dann für nicht zuständig erklärt. Aber damit komme ich in diesem Jahr nicht durch. Seit einigen Monaten bin ich ja da Hauptverantwortlicher, also auch für den Dezember zuständig.
Ich hasse den Dezember, in diesem Jahr besonders. Zumindest die ersten 23,5 Tage lang. Kaum hat man gerade noch kurz vor Totensonntag den durchgematschten Halloweeen-Kürbis zu Grabe getragen, Kastanienmännchen und Altlaubblätter-Bilder hinter Heizungskörpern befreit, rollt eine weitere Bastel-Lawine auf uns zu. Doch damit nicht genug: Der Dezember macht auch noch grundsätzlich ein schlechtes Gewissen. Zumindest wenn man fürs Familienmanagement zuständig ist. Denn immer hängt man den eigenen Erwartungen hinterher. Das ist natürlich alles nicht neu, und es ist völlig unabhängig davon, ob nun Weihnachten, Channuka oder die Amazon-Jahresend-Schnäppchenschlacht als Kalendersignal interpretiert wird.
Wenn ich mit einem Wort beschreiben müsste, was mich so nervt an diesem Monat, dann ist es die „Erwartungsverdichtung“. So viel Erwartung pro Zeiteinheit ist sonst nie, sowohl eigene Erwartungen als auch fremde. (Und da geht es noch nicht mal um die Geschenke für die Kinder.) Zum Beispiel kommt immer irgendjemand auf die Schnapsidee, dass ausgerechnet im Dezember Zeit für „ein gemütliches Zusammensein“ in der Schule sei mit Lehrern, Eltern und Kindern. „Bitte eine Kleinigkeit für das Buffet mitbringen!“ steht dann meistens im P.S.. Ich denke dann an Vieles, zum Beispiel wie man eine Tüte Chips ohne Gesichtsverlust als Buffetspende in die Schule schmuggeln kann. An „Gemütlichkeit“ denke ich nicht.
Natürlich könnte ich meiner Umwelt signalisieren, dass ich für Dezember-Termine oder -Aufgaben nicht zu haben bin. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Es scheint da eine Parallelwelt zu geben, in der viele Menschen im Dezember glauben leben zu müssen. Ich leider auch. In dieser Parallelwelt habe ich eine Strickjacke an, sitze mit meinen Kindern um den mit Nüssen und Plätzchen gedeckten Tisch, wir trinken Kakao, ich lese „Herr der Ringe“ vor und die Kinder malen Bilder für Oma und Opa. Es ist aufgeräumt, es wird gelacht, keiner ist gestresst, am nächsten Tag ist ein Weihnachtssingen in der Schule oder ein „gemütliches Beisammensein“ oder irgendeine Feier, für die ich einen gesunden, schmackhaften Buffetbeitrag fertig im Kühlschrank habe. Vor der Haustür stehen saubere Kinderstiefel, die später mit selbstgebackenen Lebkuchen gefüllt werden. Wir freuen uns. Am selbst gebastelten Adventskranz brennt schon die eine oder andere rote Stumpenkerze. Meine Frau schreibt Weihnachtspost an liebe Freunde und Verwandte (ich unterschreibe), irgendwann übt ein Kind ein Weihnachtslied am Klavier, ein anderes bastelt etwas für seine Lehrerin, das dritte Kind räumt sein Zimmer auf. Okay, an diesem Punkt wache ich in der Regel auf.
Die reale Welt sieht so aus: Die Wohnung ist verdreckt, die Strickjacke hat Löcher, die Zutaten für die Plätzchen fehlen, die Kinder stöhnen über die vielen Klassenarbeiten, ihre Stiefel stehen tatsächlich vor der Tür (weil sie zu schlammig sind), meine Frau ist genervt vom Gesumme unserer Mittleren, ich muss einen Artikel fertigkriegen (und bin auch genervt), auf dem Schreibtisch stapelt sich irgendwelche Jahresend-Post, die hoffentlich noch bis zu den Weihnachtsferien Zeit hat, im Posteingang sammeln sich die Erinnerungsmails für Adventsbastelnachmittage, Klassen-Adventskalender und die – selbstverständlich selbst gebastelten – „Kleinigkeiten“ für Lehrer und Sporttrainer. (Wie viele selbstgebastelten Weihnachtsgeschenke ihrer Schulklassen können Lehrer eigentlich realistischerweise in ihrer Wohnung unterbringen? Wie lange werden sie diese aufbewahren?) Ach ja, und die roten Stumpenkerzen liegen immer noch fest in Folie verpackt unter meinem Schreibtisch.
Was also ist die Lösung? Raus aus den überfrachteten und unrealistischen Erwartungen im Dezember? Schluss mit Bastelnachmittagen und Adventsgedöns? (Das normale Wochenprogramm ist ja schon aufwändig genug.) Wäre eine Möglichkeit. Aber ein paar Beobachtungen lassen mich noch zögern. Zum Beispiel wenn die Jüngste voller Stolz ihre selbst gebastelte Weihnachts-Wasserlandschaft zeigt. Oder wenn die Mittlere einen beeindruckenden Papierdiamanten als Christbaum-Schmuck faltet und ihn tatsächlich einigermaßen intakt in die Schule bringt. Oder wenn die Älteste plötzlich beim Vokabelnlernen sagt, dass sie sich schon riesig aufs Plätzchenbacken nach den Klassenarbeiten freut.
Kürzlich kam meine Frau mit drei Rollen Glanzpapier und einer Packung Klebestifte vom Einkaufen. Die drückte sie mir in die Hand und sagte: „Als Vorrat. Damit die Kinder kreativ bleiben.“ Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das als Vorwurf, als Ausdruck elterlicher Sorge oder als Aufforderung verstehen soll.