Maya packt ihr Schulbrot in den Tornister, schlüpft in ihre Jacke und greift zum Fahrradhelm. Leicht angewidert setzt sie ihn auf den Kopf, um ihn keine drei Sekunden später wieder aggressiv runter zu reißen. „Der blöde Helm sitzt nicht richtig. Der ist doch doof, der macht meine Frisur kaputt. Ich kann keinen hohen Zopf tragen.“ Ich schaue mir den Helm genau an. „Alles super“, sage ich. „Sitzt wie eh und je.“ Meine Alarmglocken klingeln! Maya ist gerade einmal zwölf Jahre alt geworden. Ihre Schwester Lara verkündete erst gegen Ende der siebten Klasse eines Morgens: „Ich setze keinen Helm mehr auf!“ Ich ging damals sofort in die Offensive: „Du trägst Helm und basta!“ Ich hatte schon klein beigegeben, als sie keine zusätzlichen Reflektoren an ihrer Kleidung tragen wollte, aber beim Helm wollte ich eisern bleiben. Lara wurde wütend. So wütend, wie ich sie selten gesehen hatte. „Ich bin ein Nerd! Keiner in meiner Klasse trägt noch einen Fahrradhelm!“, schrie sie mit puterrotem Gesicht. „Das ist mir egal!“, schrie ich zurück.
Tatsächlich sieht man die meisten Jugendlichen ohne Helm, freihändig, oft mit dem Handy in der Hand, Fahrrad fahren. Bei jüngeren Schülern baumelt der Fahrradhelm manchmal nur noch zur Zierde am Lenker. Diese Kinder winken beim Losfahren zur Schule fröhlich ihrer Mutter zu, um den Helm dann eiskalt an der nächsten Ecke abzusetzen und ihre Mitschüler zu hänseln, die brav und uncool den Helm bis zur Ankunft auf dem Schulhof tragen. So auch damals ein paar Jungs aus Laras Klasse. Ich habe argumentiert, dass genau diese Helmabnehmer-Mitschüler bekloppt aussehende Teletubbies-Badekappen beim Wasserball tragen müssen und trotzdem nie auf die Idee kämen, sich dem zu widersetzen. Und ich habe aus Verzweiflung den berühmten Andere-interessieren-mich-nicht-Satz gebracht. „Ich werde nie wieder mit euch reden. Ich hasse euch!“, schrie Lara und redete tagelang nicht mehr mit uns. Ich schickte ihr den Link zu einem abschreckenden YouTube-Video, in dem eine Wassermelone mit voller Wucht gegen eine Wand geworfen wird und matschig die Wand hinuntergleitet, während die Melone mit Fahrradhelm den Aufprall unbeschadet übersteht. Als Antwort blockierte sie mich auf WhatsApp.
Mein Mann wunderte sich, warum sie überhaupt mit uns diskutierte, war er doch selber in seiner Jugendzeit einer dieser Heimlich-Helmabnehmer. Aber meine Große wollte den Krieg fair gewinnen und ihrem Gegner beim Sieg mutig in die Augen schauen und nicht wie die Trojaner feige durch die Hintertür einfallen. Also legte sie uns ein paar Tage später eine Tabelle vor. In der linken Spalte hatte sie die Namen aller Klassenkameraden notiert, die ohne Fahrradhelm zur Schule kamen. Es waren zwanzig Schüler. Auf der Helmträger-Seite standen vier Namen. Von den vier Helmträgern, merkte sie an, würden drei ihren Helm zumindest auf den Nachhauseweg an den Lenker hängen. Nur sie wäre eine „echte“ Helmträgerin. Und überhaupt, ohne Helm, könnte sie im Winter wenigstens eine Mütze tragen. Ich bat meinen Mann, morgens einen kleinen Umweg zur Arbeit zu machen und an der Schule vorbeizuschauen, damit wir unsere eigene Statistik anfertigen konnten. Die präsentierte er mir abends mit ernstem Gesicht: „Ich würde sagen, 80% der Fünf- und Sechstklässler tragen Helm, etwa ab der sieben Klasse sind es nur noch 10%, ab der achten Klasse vielleicht noch 5%.“
Mich überzeugte weder die Bilanz meines Mannes noch die meiner Tochter. Ja, ich finde Fahrradhelme auch nicht gerade modisch, aber sie sind wichtig und können bei Unfällen unter Umständen Schlimmeres verhindern. Würden wir auf Malta, in Finnland oder Schweden leben, würde der Gesetzgeber meine Töchter zwingen einen Fahrradhelm zu tragen! Wenn Deutschland eine Fahrradhelmpflicht einführen würde, würden viele zwar erst einmal meckern, aber irgendwann wären Fahrradhelmträger keine Aliens mehr. 1976 wurde die Gurtpflicht im Auto durchgesetzt. Viele Frauen fürchteten damals um ihre frisch gebügelten Blusen und die Herren der Schöpfung um ihre Lässigkeit. Heute denkt kein Mensch mehr drüber nach, ob Anschnallen im Auto uncool oder lästig ist. Auch auf den Skipisten sieht man heutzutage kaum noch jemanden ohne Helm die Pisten runterbrettern. Meine Töchter haben auch noch nie über den Skihelm gemeckert. Der gehört für sie selbstverständlich dazu. Aber auf den Straßen hat sich der Helm immer noch nicht flächendeckend durchgesetzt, bei Teenagern schon einmal gar nicht. Das wird wahrscheinlich auch die Kampagne #Helmrettetleben vom Bundesverkehrsministerium nicht ändern, die versucht mit einer ehemaligen GNTM-Anwärterin besonders die jungen Menschen anzusprechen: „Looks like shit. But saves my life.“ Ich fände es sinnvoll, wenn zumindest für Kinder bis 14 Jahren die Helmpflicht gesetzlich vorgeschrieben werden würde! Denn bis zu diesem Alter sind Kinder noch nicht in der Lage optimal und vorausschauend im Straßenverkehr zu agieren. So hat mich einmal ein Verkehrspolizist bei einer Elternveranstaltung zum Thema Verkehrserziehung aufgeklärt.
Ich musste damals den Entschluss meiner ältesten Tochter nach vielen Kämpfen hinnehmen. Welche Alternative hätte ich auch gehabt? Hätte ich ihr mit dem Auto hinterherfahren und kontrollieren sollen, ob der Helm jeden Tag auf dem Kopf sitzt? Hätte ich ihr das Radfahren zur Schule verbieten sollen (zumal unsere Bahn- und Busverbindung zur Schule unterirdisch schlecht ist). In den Niederlanden, dem Land der Radfahrer, existiert ebenfalls keine Helmpflicht. Doch Fahrradstädte wie Münster und Amsterdam besitzen sehr gute, ausgebaute und sichere Fahrradwege, die uns in unserer Gegend definitiv fehlen! Der Fahrradweg meiner Töchter zur Schule gleicht einem Abenteuer-Parcours. Die Wege sind teilweise so aufgerissen, dass man bei Benutzung des Radweges ein Schütteltrauma zurückbehält und daher lieber auf den Gehweg oder die viel zu stark befahrene Straße ausweicht. In der dunklen Jahreszeit, wenn es regnet oder nebelig ist, habe ich immer ein bisschen Bauchschmerzen, wenn meine Töchter morgens mit dem Rad zur Schule fahren, ob mit oder ohne Helm. Daher habe ich die Räder der Mädchen so gut es geht aufgerüstet und Laras funzeliges Hollandradlicht gegen eine helle LED-Lampe austauschen lassen, reflektierende Speichenclips an den Rädern angebracht und Maya eine neonfarbene Blume für den Lenker gekauft (die findet sie zum Glück sehr hübsch). Eine Warnweste oder andere reflektierende Kleidung und Accessoires wollen beide Mädchen nicht tragen. Mit Maya konnte ich mich zumindest darauf einigen, dass sie im Winter morgens den Schultornister auf ihren Gepäckträger mit einer Sicherheitsweste umwickelt.
Ohne Helm aber lasse ich Maya noch nicht zur Schule fahren – in der dunklen Jahreszeit schon einmal gar nicht. „Es ist wegen des Eulenmotivs, nicht wahr? Der ist dir inzwischen zu kindisch?!“, forsche ich nun bei ihr nach. Sie zuckt die Schultern. „Weißt du was“, sage ich großzügig. „Also, wenn dein Eulenhelm sowieso nicht mehr richtig sitzt, fahren wir in den Fahrradladen und du suchst dir einen dieser flachen, angesagten Helme aus.“ Natürlich sitzt ihr Helm noch tadellos, aber ich weiß, dass ich hier nur mit Taktik weiterkomme, und ich bin gerne bereit, für ihre Sicherheit zu zahlen. Und so fällt Mayas Wahl ein paar Tage später auf eine Nussschale: neue Kollektion, Stars & Stripes, Sonderedition mit Aufpreis. Ich habe sie an der Angel! „Der ist ganz schön teuer“, wiederhole ich die nächsten Tage immer wieder mit ernstem Gesicht. „Aber hübsch ist er wirklich. Nun musst du mir versprechen, ihn auch wirklich immer zu tragen. Sonst macht so ein teurer Helm ja überhaupt keinen Sinn.“ Sie nickt und ich bin froh, ein bisschen Zeitaufschub zu bekommen. Zeitaufschub, bis es draußen wieder heller wird oder eine gesetzliche Helmpflicht für Kinder eingeführt wird oder die Stadt es endlich auf die Kette bekommt, die Fahrradwege zu sanieren und ordentlich auszubauen oder die Kampagne des Bundesministeriums es doch schafft, dem Fahrradhelm ein besseres Image zu verpassen oder… am besten alles zusammen.