Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Warum auch Teenager Babysitter haben sollten

Legendäre Babysitterin: Emily Blunt als Mary Poppins

Was für eine Erleichterung, wenn man endlich keine Babysitter mehr braucht: Diese Ersparnisse! Keine logistischem Verrenkungen mehr! Die Kinder werden groß, mögen ohnehin keine Beaufsichtigung, wollen ihre Ruhe. Bestens. Und doch fehlt damit etwas. Etwas Wichtiges.

Kindererziehung ist eine Herkulesaufgabe. Wie gut, wenn man ein ganzes Dorf hat, das mithilft. Viele Kümmerer, eine harmonische Gemeinschaft, die sich um die Brut sorgt. Eine Idylle, ein Elterntraum im Hormondelirium.

Tatsächlich lassen in meinem Umfeld erstaunlich wenig Eltern das Dorf auch nur an die Haustürschwelle. Im wirklich wahren Leben verbitten sich viele Eltern so rigoros jede Einmischung in ihre Erziehung, dass jeder Helfer zurückschrecken muss.

Warum machen sie es sich denn so schwer? Sich derart abzuschotten gegen Ratschläge und Hilfe von außen konnte ich mir als Alleinerziehende nie leisten. Es war von Anfang an klar, dass ich Unterstützung brauchen würde, wenn ich diese Aufgabe bewältigen soll. Am besten von einem ganzen Dorf. 

Als erstes mobilisierte ich Freunde und Familie, die sich – ob kinderlos oder kinderreich – begeistert auf die neue Aufgabe stürzten. Ich spüre noch heute das Glücksgefühl, als ich das erste Mal mein Neugeborenes einer Freundin zum Spaziergang in den Park mitgab. Wie sie fröhlich winkend mit dem Kinderwagen davonzog, wie alles um mich herum zum ersten Mal seit Tagen wieder ruhig wurde, in meiner Wohnung, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Und mich eine Kuscheldecke der Dankbarkeit umhüllte, weil ich die neu gewonnene Verantwortung kurz mal abgeben durfte. 

Meine Freundin hatte schon ein Kind großgezogen, ich wusste also, dass sie – anders als ich – eine Erfolgsbilanz vorweisen konnte. Wie hätte ich ihr nicht vertrauen sollen? Sie war nur die erste von vielen, die halfen, bis eine ganze Gemeinschaft entstand. 

In mein Dorf zogen nach und nach die unterschiedlichsten Charaktere ein. Als das Kind noch kein Jahr alt war, stand eines Tages mein Nachbar mit seiner Mutter vor der Tür. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber sie strahlte mich an, als ob ich ihr einen Lottogewinn versprochen hätte. Sie hätte ja noch keinen eigenen Enkel (Augenrollen des Nachbarn), würde aber kleine Kinder so lieben, ob sie mit meinem wohl mal Zeit verbringen dürfte? (Da-kannst-du-nichts-machen-Achselzucken des Nachbarn). Ich war kurz sprachlos, dann hab ich sie lachend hereingelassen. Eine meiner weisesten Entscheidungen. Sie holte daraufhin meine Tochter immer mal wieder für Spazierfahrten in den Park ab und spielte mit ihr. Im Jahr darauf jauchzte mein Kind schon laut voller Vorfreude, wenn sie Mirjana das Treppenhaus heraufkommen hörte.

Bei diesen gemeinsamen Ausfahrten der beiden gab es sicher nicht nur Pastinakenbrei, womöglich war das Kind auch dünner oder wärmer angezogen, als ich es getan hätte, aber immer wurde es mir zufrieden und entspannt zurück gebracht. Das Kind abgeben bedeutet, dem anderen Erwachsenen auch Freiräume zu lassen. Wenn das Ergebnis stimmt, warum nicht mal die eigenen Erziehungsregeln außer Kraft setzen?

Das Dorf ist auch der Ort, an dem Kinder lernen, dass Erwachsene die Dinge unterschiedlich sehen und unterschiedlich handhaben. Nicht nur Vater und Mutter, sondern auch der Rest der biologischen und der Herzenssippe.

Die vielleicht größte Freude war, als ein junger Tagesvater in unser Dorf zog.  Ein Mann, Anfang 20, von buddhaähnlicher innerer Ruhe, entsprungen einem pädagogischen Lehrbuch, gesegnet mit beruhigender Gesangs- und Vorlesestimme und der Spiellust eines Kleinkindes. Wo meine Geduld schon lange am Ende gewesen wäre, konnte er kaum aufhören, mit meiner Tochter zu spielen. Jeder Euro, den ich für ihn ausgab, war eine Investition in den Erhalt meiner Nerven und die Freude meiner Tochter. Beides eigentlich nicht zu bezahlen.

Wie speziell die Vorurteile gegenüber fremder Betreuung jedoch sein können, machte mir auch die Bemerkung einer Bekannten, ebenfalls Mutter, klar: Ob ich bei einem Tagesvater nicht Angst vor sexuellen Übergriffen auf mein Kind hätte? Ich verzichtete darauf, sie zu fragen, ob sie denn immer ein unruhiges Gefühl hat, wenn sie ihre Kinder im Kindergarten oder der Schule abgibt, wo ja zum Glück immer mehr Männer als Bezugspersonen arbeiten.

Es kamen noch viele andere Helfer im Lauf der Zeit: Babysitterinnen aus der Ukraine, Deutschland und Argentinien, Verwandte und Freunde. Manche brachten einen strengeren Ton oder Ungeduld mit, andere das totale Chaos und viel zu viel Schokoladeneis, manche liebten laute Musik und Youtube, andere Ritter Rost und russische Märchen. Das Panorama, das sich vor meiner Tochter entfaltete, war beeindruckend.

Denn diese vielen verschiedenen Kontakte bedeuteten eben jedes Mal neue Anregungen.  Plätzchen backen mit der Tante, ganze Papierbahnen mit Fantasiewelten bemalen mit dem Tagesvater, aufräumen mit der Oma, Fußballspielen mit dem Nachbarn. Es hat sich jedes Mal gelohnt, mein Kind jemand anderem anzuvertrauen. Weil ich auch anerkennen musste, dass ich das nicht alles bieten kann, entweder weil mir schlicht die Ideen fehlten oder weil ich einfach keine Lust hatte, schon wieder im Kreis mit allen Kuscheltieren zu sitzen und von leeren Tellern zu Abend zu essen. Andere liebten das. Stundenlang. 

Im Kindergarten schließlich, der penibel darüber Buch führte, wer ein Kind abholen durfte, sprengte mein Helferkreis jedes Formular. Und jeder dieser Helfer brachte mir andere Eindrücke mit. Denn das Geschenk dieser Helfer war nicht nur ihre Zeit, sondern auch der liebevolle gemeinsame Blick aufs Kind. Auf das, was sich entwickelte ganz ohne unser Zutun, aber auch auf das, was wir gemeinsam vielleicht angeregt hatten. Der Tagesvater kommt übrigens immer noch ab und zu im Dorf vorbei. Zu Weihnachten hat er meiner nun 14-jährigen Tochter einen gemeinsamen Theaterabend geschenkt, auch etwas, das mit mir bisher undenkbar war.  Ich bedauere aus tiefster Seele, heute keine Babysitter mehr zu brauchen. Sie sind einfach zu gut, um wahr sein.