Wenn man manchen Journalisten Glauben schenken darf, bricht in diesen Tagen eine „Hysterie“ oder „Panik“ wegen des neuartigen und bis dato reichlich unbekannten Coronavirus aus. „Menschliche Sensationsgier und mediale Übertreibungslust haben mit vereinten Kräften eine Psychose herbeigeführt, gegen die das Gegengift der Aufklärung derzeit keine Chancen hat“, schrieb beispielsweise der Journalist Gabor Steingart in seinem Newsletter „Morning Briefing“, um sich dann zu einer pauschalen Kritik der Medienlandschaft herabzulassen, zu der er freilich selbst gehört: „Die Zahl der Corona-Live-Ticker auf den Online-Portalen übertrifft deutlich die Zahl der Verdachtsfälle. Die Vernunft steht weltweit unter Quarantäne.“ Als wenn es einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen der Liveticker-Dichte auf Nachrichtenseiten und der Corona-Fallzahlen gäbe, aber für einen ernsten Gedanken im Gag-Format nimmt der Autor in Aufklärer-Pose das nicht so genau.
Nun kenne ich aktuell den Hysterie-Faktor im Berliner Stadtteil Charlottenburg nicht, wo Steingarts Redaktion ihren Sitz hat. Aber ganz so schlimm – und das sind nur meine persönlichen und subjektiven Erfahrungen der vergangenen Tage aus dem Rhein-Main-Gebiet – ist die „Hysterie“ nicht, trotz mancher sicherlich übertriebener Hamsterkäufe und abgesagten Massenveranstaltungen. Was ist los mit uns, dass wir das schon für eine Hysterie halten? Liegt es vielleicht daran, dass wir in einer saturierten Gesellschaft leben, in der Krisen nur noch selten vorkommen, so dass uns die Maßstäbe aus der Bahn geraten? Sind wir so der Krise entwöhnt? Das hielte ich zunächst für einen positiven Befund. Warum dann nur diese harsche Hysterie-Kritik, wenn der Notstand nun wahrlich längst nicht ausgebrochen ist?
Die Vernunft ist vielleicht nicht unbedingt in solchen Debattenbeiträgen zu suchen, sondern eher an der Basis, sogar in Kindergärten. Oder gefragt: Was würde eigentlich passieren, würde das Coronavirus die Lungenkrankheit „COVID 19“ massenweise bei Kindern auslösen? Dass das glücklicherweise offenbar nicht so ist und sowohl die Kindergärten als auch die Schulen und die meisten Eltern, die ich kenne, mit Maß und Mitte auf die Corona-Bedrohung reagieren, zeigt doch eher: Von einer „Hysterie“ ist unsere Gesellschaft meilenweit entfernt – und das ist auch gut so. Der Grat ist allerdings schmal – und schon morgen könnte sich die Gemütslage der Deutschen drehen, wenn Kinder, die Schutzlosesten in unserer Gesellschaft, stärker betroffen wären. Eine Hysterie, wie sie Steingart und andere jetzt schon beklagen, wäre in der Tat nicht mehr weit.
Und natürlich ist das Coronavirus Thema in der Kita unseres dreijährigen Sohnes. Der Träger der Einrichtung hat eine Information versandt, in der er auf die üblichen hygienischen Maßnahmen eingeht, viel mehr allerdings wurde nach außen nicht kommuniziert. Es ist klar, sobald ein erster Verdachtsfall im Umfeld auftauchen würde, bei den Eltern oder Erziehern, würde die Kita geschlossen werden und die Beteiligten müssten in Quarantäne. So wie das in diesen Tagen in bayerischen Schulen der Fall ist, von Italien ganz zu schweigen. Unsere Sorge bezieht sich aktuell allerdings noch weniger auf die Krankheit an sich, als vielmehr auf die Probleme, vor die uns eine solche Schließung der Kita stellen würde, weil wir dann keinen Babysitter aus dem Hut ziehen können und selbst beruflich ins Schwimmen geraten. Auch wenn diese Sorge natürlich wie Hohn im Ohr eines Betroffenen klingt, der ernsthaft erkrankt ist. Aber man lebt mit den Herausforderungen, die sich im unmittelbaren Umfeld stellen – und nicht unbedingt mit den weiter entfernten Katastrophen. Das kann man kritisieren, ist aber nun mal so.
Wie erkläre ich’s dem Kind?
Nachdem Italien wegen des Coronavirus alle Schulen und Unis vorübergehend geschlossen hat, rückt diese Gefahr auch in Deutschland in greifbare Nähe, zumal erste Schulen ja bereits Konsequenzen gezogen haben. Spätestens dann – sollten die Kinder nicht ohnehin mehrere Stunden am Tag vor den Livetickern sitzen, um nochmal auf Steingart zurückzukommen – müssen Eltern ihren Kindern erklären, was dieser ominöse Virus eigentlich macht und wo er herkommt. Die wichtigste Anmerkung dazu: Kinder sollten und brauchen keine Angst zu haben, nicht nur, weil sie offenbar ein geringeres Risiko als Erwachsene haben zu erkranken, sondern weil es keinem etwas nutzen würde, wenn sich noch die Kinder ängstigen in einer ohnehin leicht nervösen Gesellschaft. Wenn Eltern also Sicherheit und Gelassenheit ausstrahlen, so schwer es fallen mag, wäre allen geholfen.
Dabei kann die Erkenntnis helfen, dass bei jenen Kindern, die sich mit dem Virus infiziert haben, der Krankheitsverlauf bislang meistens milde ist. Allerdings spiegelt das nur die derzeitige Datenlage wider, längst ist nicht gesagt, dass es dabei bleibt. Aber im Lichte der aktuellen Erkenntnisse sieht es tatsächlich so aus, als seien Kinder seltener beziehungsweise schwächer betroffen. Aber zu sorgloser Entwarnung besteht ebenso kein Grund, alleine schon deshalb, da Kinder die Infektion übertragen und damit für Verbreitung sorgen können. Was also tun? Es ist ja schwierig genug, mit Kleinkindern über Hygienemaßnahmen zu reden. Aber ignorieren geht auch nicht.
Unser Kleiner hat überall seine Finger, das ist bei anderen Kleinkindern selbstredend nicht anders. Wir versuchen schon derzeit, dass er sich eher häufiger als sonst die Hände wäscht, erst recht, wenn er morgens in die Kita geht oder am Nachmittag nach Hause kommt. Zudem kann man ihm ganz gut erklären, dass die kleinen, fiesen Viren unsichtbar sind, aber furchtbar gerne an den Fingern kleben bleiben, so dass es auf jeden Fall eine gute Idee ist, in die Armbeuge statt auf die Finger zu niesen. Wer noch „Karius“ und „Baktus“, zwei spielerische Figuren für die Zahnhygiene kennt, wird sich für die Virenmonster auch einen netten Namen einfallen lassen können.
Hinzu kommt: Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, die Kinder zuhause zu lassen, wenn sie anfänglich krank sind. Aber auch das kenne ich aus eigener Erfahrung: An Tagen, an denen wichtige berufliche Termine anstehen, ist man mitunter schnell dabei, derlei Regeln locker auszulegen. Frei nach dem Motto: Wenn es gar nicht geht, holen wir ihn früher ab. Bevor hier der Shitstorm losgeht, Gegenfrage: Können sich alle Eltern von solchen Gedanken wirklich freisprechen? Wie auch immer, in der derzeitigen Lage sollten Eltern sichergehen, dass ihre Kinder gesund sind, wenn sie in die Kita gehen – bei stärkeren Schnupfensymptomen, die man ansonsten etwas lockerer sehen könnte, bleiben die Kleinen besser zuhause. Das muss ich mir selbst ins Stammbuch schreiben.
Aber wann wird aus berechtigter Sorge eine Hysterie? Wenn Medien berichten – und viele tun das in sehr verantwortungsbewusster Weise? Wohl kaum. Oder wenn Messen abgesagt werden? Oder wenn Kindergeburtstage abgesagt werden? Das ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Was heute noch als „Hysterie“ gilt, kann morgen schon eine angemessene Maßnahme sein. Es ist jedenfalls noch nicht die Zeit gekommen, die Kleinen nur noch alleine und ohne Freunde vor sich hinspielen zu lassen. Hoffentlich kommt es auch nicht dazu. Denn Eltern, die Angst um Kinder haben, neigen nicht unbedingt zu vernunftbegabten Entscheidungen. Und dann würde aus einer Krise tatsächlich eine Art „Hysterie“ werden. Stoff fürs nächste Morning Briefing.