Es ist still im Haus. Ganz still. Nach sechs Wochen Hausarrest in einer viel zu kleinen Gemeinschaftszelle ist plötzlich Ruhe eingekehrt. Keine laute Musik, kein Dauergequatsche am Handy, keine überfallartigen Raubzüge in der Küche. Mein Kind geht seit heute wieder in die Schule. Nur stundenweise zunächst, im Schichtdienst, mit Schutzmaske und ängstlichem Herzen, aber sie ist immerhin aus dem Haus. Ich habe sturmfreie Bude.
Die Erleichterung darüber ist kaum in Worte zu fassen. Nach sechs Wochen Familien-Dschungelcamp darf ich mein 15 Jahre altes Kind wieder in geschulte pädagogische Hände abgeben. Und meine Dankbarkeit ist grenzenlos.
Klar, irgendwie haben wir die vergangenen Wochen mit Homeschooling auch überstanden und das gar nicht mal so schlecht. Aber es war halt doch kein Homeschooling! Auch wenn dieser Begriff in den Medien in Dauerschleife verwendet wurde und suggerierte, wir verlegen jetzt einfach mal eben die Schule nach Hause und machen ansonsten weiter wie bisher, hatte das, was wir als Eltern zu Hause angestellt haben, nicht viel mit einem zielgerichteten Lehrplan zu tun. Weder hatten wir die nötigen Ressourcen noch die notwendigen Erklärungen an die Hand bekommen.
Wo hätte beides auch herkommen sollen, so plötzlich wie diese Pandemie auftauchte? In vielen Büros mag der Umgang mit Zoom, Teams und Skype ja schon eingeübt sein, aber in unseren Schulen, die sich zum Teil nicht mal einen neuen Wandanstrich leisten können, geschweige denn Computer für jeden Schüler und jeden Lehrer, scheint das wie ein Entwicklungssprung vom Ackerbau zur industriellen Revolution.
Technische Fallstricke gibt es reichlich: Natürlich sind nicht alle Lehrer und vor allen Dingen nicht alle Schulen darauf vorbereitet, binnen weniger Wochen ein perfektes digitales Lehrprogramm aus dem Boden zu stampfen. Dabei scheint die Erwartungshaltung sehr groß zu sein, ganz so, als hätte es für diese außerordentliche Situation irgendwo in einer abgespeicherten Datei doch sicher einen Notfallplan geben müssen. Angesichts der schlechten digitalen Ausstattung der Schulen wäre das aber eine Überraschung gewesen.
Theoretisch hätte man natürlich überhaupt nicht aufpassen müssen bei diesem ganzen Homeschooling-Ereignis. Das Kind ist alt genug, um alle Hausarbeiten eigenständig zu erledigen. Eigentlich. Aber während man sonst dieses dumpfe Brüten über den Hausaufgaben im besten Fall gar nicht zu Gesicht bekommt, weil es erledigt wird, während man selbst bei der Arbeit ist, sprang einen nun die pubertäre Verzweiflung jeden Tag im Homeoffice wie eine Raubkatze an.
Da war anfangs durchaus auch der Gedanke: Hey, es interessiert mich, was sie da gerade lernt und wie sie rangeht und überhaupt, vielleicht macht es ja auch Spaß, sich das zusammen anzueignen. (Ein naiver Gedanke, ich weiß es ja jetzt.)
Nach unserer eigenen Arbeit haben wir uns mit Videotutorials und den Schulbüchern selbst schlau gemacht, um die Lernetappe am nächsten Tag einigermaßen zu überstehen, ohne dass das eigene Ansehen vorm Kind allzu großen Schaden leidet: Wie war noch mal die Formel für das Berechnen des Volumens einer Pyramide, wer stand sich bei der Schlacht von Sedan gegenüber und wie formuliert man ein Bewerbungsschreiben für ein Praktikum auf Französisch?
Ich will es nicht leugnen, es gab Erfolgsmomente, in denen ich meiner Tochter dabei zusehen konnte, wie der Groschen fiel. Und ich die Münze eingeworfen hatte. Aber sie waren nicht allzu zahlreich. Des Öfteren bekam ich stattdessen dünnlippig mitgeteilt, dass man in der Schule ja besser lernen könne, weil man dort die Sachen erklärt bekomme. Dass also offenbar meine ausschweifenden Erläuterungen nicht in die Rubrik gelungene Erklärung fielen. Seltsamerweise. Die meiste Zeit sah ich mich einem unmotivierten, lernfaulen Teenager gegenüber, der sich erst gegen Mittag aus dem Bett und dann an einen Schreibtisch gequält hatte.
In diesen Momenten dämmerte mir, wie furchterregend es sein muss, morgens um 8 Uhr etwa 30 Exemplaren dieser Art gegenüberstehen zu müssen. Was für eine übermenschliche Leistung es ist, einen mundfaulen Teenagerhaufen zu motivieren, zu bespaßen und in solchen bildungsfernen Schädeln auch noch irgendetwas dauerhaft zu verankern. Kurz: meine Hochachtung vor Lehrkräften ist in diesen Wochen exponentiell gestiegen. Vor allem weil ich an mir selbst feststellen musste, dass man eben nicht jeden Tag in der Lage ist, mit dem eigenen pädagogischen Zauberstab Funken zu sprühen. Bisher habe ich es mir leicht gemacht und Lehrerinnen und Lehrer selbst dafür verantwortlich gemacht, diesen Beruf gewählt zu haben. Die letzten Wochen haben mich jedoch neuen Respekt gelehrt.
Vor diesem ersten neu-normalen Schultag hat meine Tochter viel darüber spekuliert, wie man denn in der Schule Abstand halten könne und ob die Pausenaufsicht wohl die Kinder auseinander treiben werde, ob genug Seife da sei und ob man so eine Maske wirklich den ganzen Tag aufbehalten könne. Als ich unserer Klassenlehrerin als Antwort auf einen Elternbrief viel Kraft für diese Woche wünschte, schrieb sie mir offen zurück: Danke, mir ist aber auch ganz schön mulmig.
Wozu sie jedes Recht hat und was ich bestens nachvollziehen kann, und doch wünscht man sich als Eltern, dass Lehrer an solchen Ausnahmetagen wie Felsen in der Brandung stehen. Weil man selbst ja in den vergangenen Wochen ständig diesen Spagat vollführt hat: Offen über Gefahren der Pandemie zu sprechen, den Kindern aber gleichzeitig keine übertriebene Angst einjagen zu wollen. Sich selbst zusammenzureißen, auch wenn man sich manchmal einfach die Decke über den Kopf ziehen möchte und hoffen, dass am nächsten Morgen dieses verdammte Virus endlich wieder dahin zurückgekrochen ist, wo es herkam.
Ab heute sind nun endlich wieder andere Erwachsene dran, ständig stark sein zu müssen. Lehrer, die jeden Tag das tun, was wir Eltern in den vergangenen sechs Wochen stemmen mussten: sich zusammenreißen, funktionieren, am besten mit einem Lächeln, das Sicherheit ausstrahlt, damit die Kinder möglichst unbeschadet durch diese Zeit kommen.
Ich danke euch Lehrern!