Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Wie Kinder sich ihre Freunde aussuchen

Kinder suchen sich ihre engen Freunde früh selbst aus – und vermissen sie jetzt.

Der Satz kam wie aus dem Off. Eben noch tobte Fabian mit seinem Bruder über die Couch und spielte das beliebte „Ich schubs dich, du schubst mich“-Spiel, als er plötzlich innehielt und vor sich hinmurmelte: „Mama, ich vermisse meine Freunde.“

Dass meine Jungs weder Freunde noch andere Familienmitglieder neben meinem Mann und mir in den letzten Wochen gesehen haben, haben sie eigentlich ganz gut verkraftet. Dachte ich zumindest. Immerhin sind sie Zwillinge, da ist der beste Freund ja sozusagen immer mit dabei. Fabian und Tiago geht es sicher besser als Einzelkindern oder Geschwistern mit großem Altersunterschied. Welchen Einfluss der Lockdown tatsächlich auf die Psyche unserer Kinder haben wird, muss noch erforscht werden. Erste Studien geben bereits einen Ausblick: Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat mehr als 8000 Eltern mit Kindern im Alter von drei bis 15 Jahren zum Thema „Kindsein in Zeiten von Corona“ befragt. 27 Prozent gaben an, dass sich ihr Kind derzeit einsam fühle. Bei 97 Prozent der Befragten sind die Kontakte der Kinder zu ihren Freunden komplett eingebrochen.

Auch bei meinen Jungs. Anfangs freuten sich Tiago und Fabian über die coronabedingte Kitaschließung. Doch mit jedem Tag, der vergeht, fragen sie häufiger nach ihren Spielkameraden. Aus den Augen, aus dem Sinn? Fehlanzeige! In Gedanken sind die Freunde immer mit dabei. Als Fabian neue Ninjago-Sammelkarten geschenkt bekam, war seine erste Reaktion: „Jetzt will ich doch mal einen Tag in den Kindergarten, damit ich die Noah zeigen kann.“

Noah ist nämlich der absolut aller-, allerbeste Freund meines Fünfjährigen. Und er ist der erste Freund, den sich Fabian selbst ausgesucht hat. Für mein Empfinden nicht die beste Wahl. Noah ist tendenziell noch wilder und verfügt über einen reichen Wortschatz, der das Prinzip Toilettengang beschreibt. Fabian findet das natürlich super. Noah ist ein Jahr älter, Rolemodel und Rudelführer, dem Fabian, aber auch sein Bruder Tiago folgen. „Der Noah hat gesagt…“, damit beginnt eigentlich so gut wie jeder zweite Satz meines Sohnes. Umso schwerer tun sich die Kinder nun, diese Freundschaft in Zeiten von Abstandsregeln und Hygienevorschriften aufrecht zu erhalten. Toben und Raufen fällt jetzt erst einmal aus. Dafür hat Fabian Noah einen Brief „geschrieben“ und ein Ninja-Bild gemalt. Einmal telefonierten die beiden auch, oder besser gesagt, sie versuchten es. Das Gespräch dauerte etwa 30 Sekunden und bestand in erster Linie aus Schweigen. Klar, sie sind erst fünf Jahre alt, aber machen wir uns nichts vor: Ich kenne Männer Anfang 40, die genauso wortkarg am Telefon sind. 

Aber suchen sich Fünfjährige ihre Freunde wirklich schon gezielt aus? Ja, sagen die Pädagogen. Kinder können bereits ab einem Alter von etwa drei Jahren Freundschaften schließen. Als Freund wird aber erst einmal jeder bezeichnet, der verfügbar ist und Spielkompetenz mitbringt. Im Fall von Noah und Fabian hat das mit einer gewissen Affinität zu Ninjas aus Lego zu tun. Wobei das wohl auf viele Fünfjährige zutrifft. 

Aber nicht nur ähnliche Interessen sind entscheidend. Ganz simpel gesprochen, kommt es natürlich auch auf die Verfügbarkeit an. Welche Kinder gehen mit mir in die gleiche Kitagruppe, mit welchen Familien treffen sich meine Eltern gerne? Bei uns ist das nicht anders. Meine Freundin Isabell zum Beispiel hat zwei Söhne im etwa gleichen Alter. Unsere Kinder badeten schon mit 8 Monaten gemeinsam im Planschbecken und gehen sogar in den gleichen Kindergarten. Die Jungs spielen zusammen und freuen sich, wenn sie sich sehen. Doch so sehr Isabell und ich es uns auch wünschen, die besten Freunde werden unsere Kids nicht. All unsere Verkupplungsversuche laufen ins Leere. Das geht sogar soweit, dass Tiago und Fabian die beiden Söhne meiner Freundin nicht zu ihrem Geburtstag einladen wollten. Und das will schon etwas heißen. Die Geburtstags-Gästeliste ist ein sensibles Thema und wird bei uns bereits ab Februar diskutiert (meine Kinder sind im Dezember geboren!). Und wenn Fabian mal richtig böse auf jemand ist, meinen Mann und mich eingeschlossen, spricht er die ultimative Drohung aus: „Dann lade ich dich nicht zu meinem Geburtstag ein!“ Die Kinder meiner Freundin Isabell bekamen am Ende trotzdem eine Einladung. Ansonsten versuche ich mich aus der Freundeswahl meiner Söhne herauszuhalten. Was gar nicht so einfach ist. Denn immerhin muss ich ja meistens noch mit zu den Playdates. Und das bedeutet, dass ich mich mindestens ein oder zwei Stunden an irgendeinem Küchentisch oder auf der Bank am Spielplatz mit anderen Eltern unterhalten muss. Eine Grundsympathie ist da von Vorteil.

In den achtziger Jahren war das noch ganz anders. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter jemals das Haus meiner besten Freundin betreten hätte. Zugegeben, das war auch gar nicht nötig. Ich hatte großes Glück, denn meine beste Freundin wohnte gleich nebenan. Unser Kennenlernen werde ich nie vergessen: Mit drei Jahren (und glauben Sie mir, ich kann mich an diesen Tag wirklich noch erinnern) tauchte zwischen den Tannenbäumen in unserem Garten ein kleines Mädchen mit dunklen Augen und langen braunen Haaren auf. „Wohnst du da?“, fragte ich und zeigte aufs Nachbarhaus. Das kleine Mädchen nickte, und ab diesem Tag waren wir Freundinnen. Wir kochten gemeinsam Grassuppe im Garten, führten meine Hühner spazieren, spielten später Indianer auf unserem Dachboden und dachten uns sogar eine eigene Sprache aus. In unserer Welt hieß sie Tosh-Hiok und ich Mka-Sue. „Der mit dem Wolf tanzt“ war unser Lieblingsfilm.

Ende der vierten Klasse zog Tosh-Hiok, die eigentlich Melanie heißt, mit ihrer Familie weg. Am Abend, an dem die Umzugs-Lkw losrollen sollte, versteckten wir uns auf dem Dachboden, schworen uns ewige Freundschaft und heulten herzerweichend. Jahrelang besuchten wir uns anschließend in jeden großen Ferien, schrieben hunderte von Briefen, die ich alle in einer großen Holzkiste aufbewahrt habe, veranstalteten Mitternachtsparties, schauten in die Sterne und fragten uns, woher wir kommen und wohin wir gehen.  Irgendwann haben wir uns dann nur noch selten gesehen. Jede schlug andere Wege ein, studierte und verliebte sich. Es gab keinen Trennungsschmerz wie damals, als Melanie wegzog. Keine Vorwürfe, Streit oder Wut. Die Freundschaft wurde nur immer leiser und verstummte irgendwann ganz, wie bei einem Fade Out eines Songs. Eines ausgesprochen guten Songs. Dem Sound meines Lebens. Wie es Melanie wohl geht? Ich sollte sie mal wieder anrufen. Schließlich sehe ich gerade an meinen Kindern, wie wichtig und prägend frühe Freundschaften sind.