Kürzlich hatten wir einen alten Schulfreund mit seiner kleinen Familie zu Besuch. Wir Erwachsenen machten es uns im Wohnzimmer auf der Couch gemütlich, für die Kinder breitete ich eine Decke mit Bauklötzen auf dem Boden aus. „Unser Sohn braucht kein Spielzeug“, sagte die Frau meines Schulfreunds da und packte alles wieder ein. Wenige Minuten später stand ihr Sohn neben dem Couchtisch, entdeckte einen Bleistift und machte sich daran, einen guten Malgrund zu suchen. Seine Mutter nahm ihm den Stift weg. Er griff daraufhin nach einem der Magazine – darauf standen leider unsere Getränke. Nur durch einen raschen Griff konnten wir die Gläser vor den Steinfliesen bewahren. Ich war irritiert – was ist denn so schlimm an Spielzeug?
Schaut man auf Instagram, sieht man wunderschön pastellige Kinderzimmer mit Plüschkraken und Geflechtkörben, akkurat bemalte Wände und Blumen neben dem Wickeltisch. Ernsthaft? Es sind Zimmer, in denen kein Kind auch nur drei Minuten allein bleiben würde, denn in Wirklichkeit ist dort gar nichts kindgerecht. Wo sind die Legosteine, Eisenbahnschienen, Puzzle, Bücher und Matchboxautos? „Wie lange braucht ihr, um die bunten Legos zu verstecken?“, fragte dort neulich eine Userin.
Dieser Text soll kein Plädoyer für mehr Konsum sein oder für mehr Plastik in Kinderzimmern, im Gegenteil. Kinder gehören raus in die Natur, ins Freie, auf Laufräder und in den Wald. Sie brauchen nicht viel „echtes“ Spielzeug, sie suchen sich welches. Erstens. Aber es gibt auch wenig Schöneres, als einem Kind zuzusehen, wie es ganz ins Spiel versunken in seinem Zimmer, seinem Reich, angekommen ist. Wo die Phantasie statt die Optik herrscht, das Kind der Dirigent ist und selbst entscheidet, ob die Giraffe, die Oma oder der Polizist auf dem Motorrad fahren darf. (Ich sag nur: Meine Oma, der Hühnerstall, ist klar, oder?)
Unser Sohn Max ist noch keine Zwei und kann sich doch inzwischen schon fast eine Stunde lang mit seinen Duplosteinen, Bauklötzen, Autos und einem gut sortierten Fuhrpark an kleineren und größeren Baggern, Baufahrzeugen, Zügen und Traktoren beschäftigten. Zugegeben: auch ich hätte mir gewünscht, dass sein Spielzeug weniger grell und weniger PS-lastig ausfällt, aber für Max sind Fahrzeuge das Größte. Er brummt, er hupt – Piep Piep – er baut aus Bausteinen Waschanlagen und Autozüge mit Aussichtstürmen. Er stellt im Kleinen nach, was er im Großen sieht. Die Welt, die ihn umgibt, besteht nicht nur aus Pastell, bei Max rummst es, die Autos können fliegen, die Menschen haben Superkräfte.
Mit ist nicht egal, womit mein Kind spielt. Noch bevor Max sitzen konnte, habe ich ihm eine kleine, aber hochwertige Holzeisenbahn gekauft, mit Magnetwaggons und einer Brücke. Einfach nur, weil ich mir als Kind immer eine gewünscht und nie eine bekommen habe. Max’ erste Liebe entbrannte für ein Holzmobile mit Bauernhoftieren, das über seiner Wiege klapperte, wenn er unten mit den Beinchen strampelte. Er spielte mit Löffeln, stapelte Tupperdosen und tauchte im Pekip ein in ein Meer aus Deckeln leerer Babygläschen. In seiner ersten Kita, einer Einrichtung nach dem Konzept der ungarischen Kinderärztin Emmi Pikler, gab es Körbchen, Tücher, Holzringe und Schälchen, dazu Podeste, Kissen und eine Rampe zum Klettern und Rutschen statt richtiger Spielsachen. Und doch dürfen heute in unser Haus gerne auch Plastik, Metall und Gummi einziehen, ob hochwertig oder Marke Überraschungsei.
Spielen in der Natur und mit natürlichen Materialien ist wichtig, es fördert Kreativität und logisches Denken. Doch selbst der Waldkindergarten hier im Ort hat Räume, in denen die Kinder auch drinnen spielen können, mit Puppen, Bausteinen, einem Kaufladen. Spätestens mit der Einschulung findet ein Großteil des Tages drinnen statt –andere Materialien und Spielmöglichkeiten als im Wald von Klein auf kennenzulernen und zu nutzen und sich an eine veränderte Akustik zu gewöhnen, ist daher auch für kleinere Kinder wichtig.
Ob Plastik, Holz oder Tannenzapfen – womit Kinder gerne spielen, hängt auch davon ab, wie Eltern die Rahmenbedingungen gestalten. „Vorbereitete Spielumgebung“ heißt ein Ansatz von Emmi Pikler, bei dem unterschiedliche Spielsituationen im Zimmer aufgebaut werden, sodass die Kinder gleich loslegen können, ohne zuerst etliche Schränke und Fächer zu öffnen oder sich die einzelnen Puzzleteile aus einer Kiste zusammensuchen zu müssen (macht kein Kind). Oft sitzen wir einfach alle zusammen am Boden und spielen gemeinsam, bauen Sofakissen ein oder trockene Nudeln als Baggerladung.
Für Max zählt nicht der Preis eines Spielzeugs, sondern: Wie einsatzbereit ist es? Kann man die Baggerschaufel wirklich beladen? Lassen sich die Räder drehen? Kann man die Autos aneinanderreihen oder aufeinander stapeln? Max’ Lieblingsauto ist momentan das, bei dem er mit etwas Gewalt ein Vorderrad ablösen kann. Dieser vermeintliche Makel macht das Fahrzeug für ihn unwiderstehlich. Hunderte Male haben wir es daraufhin gemeinsam wieder zusammengesteckt. Kaputt ist es noch lange nicht.
Meine größte Angst ist die schiere Menge an Spielzeug – und die häuft sich bei Plastik natürlich viel schneller an, als wenn ein Holzfeuerwehrauto über 150 Euro kostet, was keine Übertreibung ist, wie ich gerade wieder in einem sehr schönen Spielzeugladen gesehen habe. Nichts ist kontraproduktiver als ein Spielzeugschrank, der so vollgestopft ist, dass man gar keine Lust mehr hat, etwas herauszuholen – oder es im Zweifel gar nicht mehr findet. Aber das müssen wir als Eltern regeln, das ist nicht die Aufgabe eines Zweijährigen.
Auch bei uns hat seit Corona das Spielzeug etwas überhand genommen – auf jedem Spaziergang entdeckten wir einen anderen Nachbarn, der gerade seinen Keller aussortiert hatte. Doch nur eines der Fundautos hat es in Max’ Top 5 geschafft – ein Abschleppauto mit einem Haken hinten dran. Weil es etwas kann. Die anderen durfte ich trotzdem nicht aussortieren. Das eine, das gar nichts kann, ist ideal für die Badewanne. Das andere für den Sandkasten. Sogar in den Urlaub durften sie mitfahren in einer ganzen Kiste Autos und Bausteine. Denn so gerne Max draußen tobt, so wichtig sind für ihn auch die Auszeiten und die Ruhe, die sich über ihn legt, wenn er mit seinen Spielsachen steckt und drückt, schiebt und pult. „Ach, verreist das Kinderzimmer jetzt auch mit?“, wurde ich gefragt. Und wenn’s so wäre? Wenn Max zwischen unseren Beinen baggert und Sand in seinem Betonmischer dreht, während wir den Sonnenuntergang beobachten? Wunderschön ist das. Und ich bin mir sicher: Kurz hingeschaut hat er auch mal.