Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wenn Kinder uns den Spiegel vorhalten

Nicht gleich, aber doch oft verblüffend ähnlich: Genetik ist eine wundersame Angelegenheit.

Wir fahren in den Urlaub und meine Töchter werden sich zwei Wochen lang ein Hotelzimmer teilen, was bei beiden Mädchen nicht auf Begeisterung stößt. Maya (12): „Ich will mit der nicht in ein Hotelzimmer. Lara ist rücksichtslos und unordentlich.“ Lara (16): „Meinst du etwa, ich mache das freiwillig? Maya spinnt doch. Die regt sich über jede Kleinigkeit auf! Als wir uns in Berlin ein Zimmer geteilt haben, hat sie einen Aufstand gemacht, weil ich mein Bett nicht gemacht habe. Ey, das war ein Hotel! Da gab es Zimmermädchen!“ Ich muss lachen. Maya ist schon arg pingelig, aber ich kann ihren Ärger über Lara absolut nachvollziehen. „Mich regt Papas Durcheinander auch ständig auf. Aber da müssen wir alle durch und uns arrangieren“, sage ich.  Maya schmollt. „Kann ich nicht mit dir in ein Zimmer und Papa geht mit Lara in eines? Das würde viel besser passen.“ Ich schüttele den Kopf, obwohl die Idee, Team Chaos in ein Hotelzimmer zu stecken, wirklich nicht schlecht ist. Maya und ich hätten es herrlich ordentlich und mein Mann und Lara könnten wie gewohnt alles rumfliegen lassen und würden sich in ihrem Saustall auch noch wohlfühlen. Die fehlende Ordnungsliebe hat Lara eindeutig von meinem Mann.    

Es ist schon wunderbar, was Mutter Natur so zaubern kann. Zwei Menschen vereinen ihre Gene: 23 Chromosomen schenkt der Vater seinem Kind, 23 Chromosomen die Mutter. Die werden einmal kräftig durchgemischt und heraus kommt ein völlig neuer Mensch. Und obwohl einige Gene dominant sind, wie z.B. dunkles Haar, und einige eher rezessiv, spielt der Zufall eine nicht unwesentliche Rolle. Die Geburt eines Kindes ist daher jedes Mal aufs Neue spannend und aufregend: Welche kleine Persönlichkeit wird da wohl die Welt erblicken? Wird es Mamas große Augen und ihre Sommersprossen erben? Wird es ein Sturkopf wie Papa mit seinen blonden Locken? Oder wird es vielleicht sogar hochmusikalisch wie die Oma?

Als Maya vor zwölf Jahren als mein zweites Kind auf die Welt kam, war mein erster Gedanke: „Sie sieht aus wie Lara.“ Tatsächlich sahen sich meine Töchter bei ihrer Geburt verblüffend ähnlich. Sie können nicht abstreiten, dass sie Geschwister sind, auch wenn sie sich nicht mehr so stark ähneln: Lara ist optisch eher Mama, Maya eher Papa. Sie haben beide exakt die gleiche Haarfarbe (Mama) und die gleichen kleinen Ohren (Papa). Maya hat als einzige von uns blaue Augen, die verstärkt in meiner Familie mütterlicherseits vorkommen. Laras Haut wird im Sommer genauso unverschämt tiefbraun wie die meines Mannes, was Maya und ich neidisch zur Kenntnis nehmen müssen, während wir stattdessen mit sehr trockener Haut kämpfen. Beide Mädchen sind kreativ, fantasievoll, arbeiten gerne mit Sprache, lesen und schreiben viel (Mama). Im Gegenzug liegen ihnen die Naturwissenschaften nicht (Mama und Papa), wobei die Schwäche für Mathe bei der einen mehr (Papa) und der anderen weniger (Mama) ausgeprägt ist.

Lara und ich ticken in sehr vielen Dingen gleich, was nicht immer leicht zu ertragen ist. Es ist nicht schön, den Spiegel vorgehalten zu bekommen, wenn es sich bei dem Spiegelbild um die eigene Tochter handelt. Da erkennt man zuweilen Eigenschaften, die man an sich selbst gerne ablegen würde, wenn man nur könnte. Meine Ungeduld, zum Beispiel, oder meine Ungeschicklichkeit. Ich pflegte als Kind, genau wie Lara, allmorgendlich meinen Kakao umzuschmeißen. Wir kreieren gerne neue Dinge, sind aber immer etwas schlampig in der Ausführung, wenn es um handwerkliche Arbeiten geht. Meistens, weil es uns nicht schnell genug geht. Ich habe beim Zusammenbau eines dämlichen Kinderbrettspiels schon einmal so die Geduld verloren, dass ich das Spiel an die Wand geworfen habe, weil die Kleinteile meine Feinmotorik überforderten. Ich hätte das Spiel am liebsten anschließend noch verkloppt. Nach dem Kochen oder Backen muss ich mich fast immer umziehen und den Boden saugen. Wenn Lara Weihnachtsplätzchen verzierte, kleben Schokolade und Zuckerguss später in der gesamten Küche, in ihrem Gesicht, auf ihren Klamotten und in ihrem Haar. Ihre Kekse dekorierte sie schnell, einfallsreich, aber weniger sorgfältig als ihre geduldige Schwester. Bei Maya wurde jeder einzelne Keks zum Kunstwerk, fast ohne Kleckerei. Mit einer Engelsgeduld und geschicktem Pinzettengriff angelte sie die Zuckerkügelchen einzeln aus der Schüssel und drapierte sie vorsichtig auf den Keks. Mein Mann hat zwar den Pinzettengriff nicht so drauf, aber er ist ebenfalls sehr geduldig. Ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe.

Lara und ich sind beide immer etwas verstrahlt, was daran liegt, dass wir ständig unseren Gedanken nachhängen. Wir verstehen uns oft ohne Worte. „Mama, ich weiß genau, was du jetzt denkst“, sagt sie beizeiten und ich grinse ertappt. Umgekehrt ist das nicht anders. Sie liest sich alle meine Texte vor der Veröffentlichung durch und wenn ich über sie schreibe, dann sagt sie: „Du verstehst schon sehr gut, was in mir vorgeht.“  Lara und ich hassen Leichtathletik und jede Art des sportlichen Wettkampfs. Die Bundesjugendspiele, die von den Schulen heute verniedlicht in „Sportfest“ umgetauft wurden (was diesen Tag kein bisschen besser macht), bedeuteten für mich früher und für Lara heute, den ätzensten Schultag des Jahres. Wir besitzen beide das Ballgefühl einer Zimmerpflanze. Im letzten Halbjahr kam Lara eines Mittags total genervt von der Schule nach Hause: „Wir hatten Volleyball! Danke für nichts, Mama! Das sind deine Gene!“ Ich wusste, was sie durchgemacht haben musste und sagte nur: „Oh!“ Wenn ich früher Volleyball in der Schule spielen musste und mit dem Aufschlag dran war, stöhnten die überengagierten Jungs aus meiner Klasse: „Och nö! Nicht die Sonia! Jetzt kriegt die Olle wieder keinen einzigen Ball über das Netz.“ Ich habe es gehasst! Maya ist die gleiche Sportskanone wie mein Mann in jungen Jahren. Neue Sportarten probiert sie mit großer Motivation und Geschick aus und kämpft verbissen bei Wettkämpfen um jeden Punkt.   

Doch auch Maya und ich haben einige charakterliche Schnittmengen und Lara mit meinem Mann. Man kann unsere vierköpfige Familie fast immer in Zweierteams einteilen: Maya und ich sind die Sturköpfe und beide furchtbar nachtragend. Lara und mein Mann, die Gutmütigen, geben sehr schnell nach und sind manchmal schon fast zu tolerant. Maya und ich sind Team Orientierungslos, was uns von Team Navi immer wieder Häme einbringt: So wie im letzten Urlaub, als Maya und ich uns an der Strandpromenade ein Eis holen waren und danach unseren Strandzugang und den Strandkorb nicht mehr wiederfanden. Team Navi beobachtete uns dabei minutenlang und bekam sich vor lauter Schadenfreude nicht mehr ein. Maya und ich betreten ein Geschäft und wissen anschließend nicht mehr, aus welcher Richtung wir gekommen sind. Wenn wir alleine unterwegs sind, bauen wir uns im Parkhaus daher meist kreative Eselsbrücken. P6, Platz 321: Mit sechs Jahren kommt man in die Schule und lernt als erstes rückwärts zählen. Ich behaupte, dass ich mich in beide Töchter gut reinversetzen kann. Aber Laras Denkweise ist mir näher und vertrauter, während ich bei Maya nicht immer durchblicke und sie sich nicht so leicht von mir durchschauen lässt.

Man ist sich heute sicher, dass ein Großteil der Verhaltensweisen eines Menschen vererbt und nur ein Teil durch äußere Einflüsse, wie Erziehung oder Umwelt, bestimmt wird. Ich stelle immer wieder fest, dass meine Töchter, obwohl sie in etwa gleich aufgewachsen sind und erzogen wurden, sehr unterschiedlich ticken. Das lässt mich in meiner Rolle als Mutter inzwischen vieles gelassener sehen. Ich mache mir nicht mehr so oft Gedanken, ob ich etwas falsch in meiner Erziehung gemacht habe, weil Lara, zum Beispiel, partout keine Ordnung halten kann (Maya und ich werden dennoch weiterhin dafür kämpfen, dass Team Chaos sich ein bisschen zusammenreißt) oder warum sie als Kleinkind so anstrengend war und wieso Maya wiederum ständig schüchtern an mir klebte und eine Phobie gegen Marienkäfer hat. Jedes Kind besitzt eine einzigartige DNA und eine eigene Persönlichkeit. Es wird nie eine vollständige Kopie seiner Eltern sein – selbst wenn es denen hin und wieder den Spiegel vorhält.