So, jetzt aber los, ich bin spät dran. Gerade will ich meine Zahnbürste unter dem Wasserhahn ausspülen, als ich im Spiegel in das Gesicht meiner fünfjährigen Tochter schaue. Sie steht direkt neben mir. Das Summen ihrer elektrischen Zahnbürste stoppt immer kurz, wenn sie das Gerät in ihrem Mund neu platziert. Ihre großen braunen Augen fixieren mich. Ihr Blick ist ernst. Mist, wie lange putzen wir jetzt? denke ich. Auf keinen Fall schon drei Minuten, wie wir es den Kindern immer sagen. Sie weiß das ganz genau. Drei Minuten … Ich putze weiter, jetzt ganz bewusst oben und unten und vorne und hinten. Dabei fange ich an zu summen, lächle meiner Tochter zu, als wäre mir Zähneputzen die größte Freude überhaupt. Ihr Blick bleibt unverändert. So als wollte sie sagen: „Du kannst mir nichts vormachen, Papa.“
Am Nachmittag fragen meine Kinder: „Dürfen wir was Süßes?“ „Nein, ihr hattet schon ein Eis. Außerdem waren Gummibärchen in euren Frühstücksdosen, das ist genug. Ich kann euch einen Obstteller machen.“
Am Abend fragt mich meine Frau: „Sag mal, hamsterst du im Keller heimlich Süßigkeiten?“ Erwischt. Dabei hatte ich die Lakritztüte doch so gut zwischen Nudeln, Mehl und Konservendosen versteckt. Ich bin zwar konsequent und verantwortungsbewusst um die Ernährung unseres Nachwuchses bemüht, kenne aber in Wahrheit keine Skrupel. Direkt nachdem ich den Obstteller arrangiert hatte, bin ich in den Keller geschlichen, habe eine Tüte Lakritz aufgerissen und sie innerhalb von Minuten zur Hälfte in mich reingestopft. Dass meine Frau beteuert, sie hätte zunächst die Kinder verdächtigt und sei erleichtert, dass sie nicht gelogen haben und tatsächlich nicht heimlich im Keller naschen, macht es nicht besser. Als scheinbar strenger Vater, der heimlich Lakritz im Keller futtert, stecke ich eh schon in der moralischen Zwickmühle. Bei dem Vergehen auch noch ertappt zu werden, das ist wirklich peinlich.
Ob wir es wollen oder nicht: Wir Eltern sind die Vorbilder unserer Kinder. Vierundzwanzig Stunden am Tag ist das so, sieben Tage in der Woche. Wir stehen unter Beobachtung. Ob wir heimlich naschen, stundenlang aufs Handy starren, in der Nase popeln, die Wäsche liegen lassen oder unsere Teller nicht abräumen: Die Kinder registrieren alles. Aus der Nummer kommen wir nicht mehr raus. Wir sind Vorbilder, sowohl in Situationen, in denen wir unsere Werte vermitteln wollen, als auch in unseren schwachen Momenten, wenn wir etwas tun, was gute Vorbilder besser lassen sollten.
Diese Schwächen ereilen uns auch in unvorhergesehenen Situationen. Mein jüngerer Bruder bekam in den Neunzigern eine Playstation. Nächtelang haben wir das Fußballsimulationsspiel FIFA gezockt. Irgendwann habe ich die Bedienung in die Ecke gepfeffert. Seitdem habe ich um Spielekonsolen, Gameboys und dergleichen einen riesigen Bogen gemacht. Dann kam Weihnachten 2019. Trotz großer Bedenken haben wir unserem Sohn eine Playstation geschenkt. Allerdings setzten wir ihm ein tägliches Zeitlimit, das er auch ohne großes Murren einhält. Der Einzige, der sich an kein solches Limit hielt und mehrmals bis tief in die Nacht mit dem Ding spielte, war ich.
Wer lange genug überlegt, findet wahrscheinlich Dutzende Momente, in denen er als Vorbild versagt hat. Vielleicht ist es ein Trost, dass es umgekehrt auch nicht immer funktioniert. Wer versucht, mit gutem Beispiel voran zu gehen, ist nicht automatisch auf der Erfolgsspur, egal wie überzeugt er ist, gerade genau das Richtige zu tun. Vor knapp zwei Jahren musste ich das lernen, als ich meinen Sohn zur Schule brachte: Im Flur vor dem Klassenraum herrschte größerer Trubel als sonst. Kinder riefen aufgeregt durcheinander: „Habt ihr schon gehört? Wir haben einen Neuen!“ „Der heißt Lennox.“ „Echt? Krass!“ Aus der Klasse ertönte plötzlich ein markerschütterndes Geschrei: „Ich will nicht hierbleiben!“ Die gedämpfte Stimme einer Mutter war zu hören. Sie versuchte vergeblich ihr Kind zu beruhigen. Ich betrat entschlossen den Raum. Schließlich war ich als Elternvertreter der Meinung, meine Hilfe werde benötigt. Vorne am Lehrerpult stand ein in Tränen aufgelöster Junge, der sich an seine hilflose Mutter klammerte. Daneben stand der genervte Lehrer. Ich sprach die Mutter an, denn ich erkannte sie wieder. „Hallo! Mensch, wir haben uns doch am Wochenende auf dem Spielplatz gesehen. Dann ist ihr Sohn jetzt bei uns.“ Sie sah mich an, sagte aber nichts. Ich lächelte dem Jungen zu: „Sag mal, kennst du schon Theo, meinen Sohn?“
Der Junge hörte auf zu weinen und schaute mich stirnrunzelnd an. „Ich hole ihn mal“, sagte ich und drehte mich zu meinem Kind um, das gerade in seinem Ranzen kramte. „Theo, komm doch mal her und begrüße deinen neuen Mitschüler.“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung. Er ging aber nicht in unsere Richtung, sondern zu einem blonden Jungen, der ruhig an seinem Tisch saß und das Geschehen beobachtete. „Nein, hierher, Theo!“ Wieder zuckten die Schultern des Kindes. Er schlurfte dann zu dem Jungen, der sich immer noch an seine Mutter klammerte und sagte: „Hallo Lukas.“ „Hallo Theo“, schniefte der andere. Ich drehte mich zu dem Lehrer um und flüsterte: „Ist das gar nicht der Neue?“ „Nein“, erwiderte dieser in normaler Lautstärke, „Lennox sitzt da vorne.“ Ich drehte mich zu dem Blonden um, der immer noch still und friedlich auf seinem Platz saß. Ich verabschiedete mich von der Mutter, strich meinem Sohn über den Kopf, klopfte dem Lehrer auf die Schulter, vermied dabei jeglichen Blickkontakt und stahl mich aus dem Raum. Dann doch besser heimlich Lakritz naschen.
Ich habe mich inzwischen damit abgefunden, nicht das perfekte Vorbild zu sein. Ich habe meinen Frieden mit mir selbst gemacht. Ich bin einfach nicht perfekt. Darum begegne ich meinen eigenen Verfehlungen mit Gelassenheit und auf unterschiedliche Weise. Humor hilft dabei, aber auch ganz konkrete Maßnahmen. Die Playstation steht seit ein paar Monaten im Gästezimmer im Keller. Seitdem habe ich sie nicht mehr angerührt und unser Sohn spielt nur noch sehr unregelmäßig. Neulich habe ich bemerkt, dass er sich heimlich Süßigkeiten aus dem Schrank stibitzt. Statt zu schimpfen – was auch nicht ohne Bauchschmerzen gegangen wäre – habe ich ihn gefragt, ob er sich Süßigkeiten genommen habe und ihm dann ganz ruhig erklärt, dass wir keine neuen kaufen, wenn im Schrank keine mehr sind. Er hätte dann auch nichts Süßes mehr für die Pausendose. Ich glaube, es hat funktioniert.