Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

„Wieso hat der mehr auf dem Teller als ich?!“

Nicht nur unter Kanarienvögeln gibt es Futterneid: Auch menschliche Geschwister können da zum Tier werden.

„Warum bekomme ich die kleine Portion und Lara die große?“ Ich schaue in den Kühlschrank. Tatsächlich, ich habe das kleinere Schälchen mit dem Heidelbeerjoghurt auf den Tisch gestellt. Nicht absichtlich. Und eigentlich ist der Unterschied zwischen den Portionen nicht gigantisch. In dem größeren Schälchen mögen ein paar Gramm mehr gelandet sein. Ist ja auch egal. Warum sollte ich die Heidelbeeren einzeln abzählen und den Joghurt abmessen? Hier liegt ein klarer Fall von Futterneid vor: die Angst beim Essen zu kurz zu kommen. In einem gewissen Rahmen total normal – unter Kindern. Aber am Küchentisch sitzt keine meiner Töchter, sondern mein Mann. Ich schaue ihn spöttisch an. „Ehrlich jetzt?!“  Er lacht, tunkt den Löffel in die Joghurtcreme und gibt sich mit seiner (minimal kleineren) Portion zufrieden. So richtig ernst war sein Kommentar wohl nicht gemeint. Ihm sind seine Altlasten aus seiner Kindheit durchaus bewusst und manchmal macht er sich selbst über sich lustig, weil er weiß, wie entsetzlich empfindlich ich generell und insbesondere bei unseren Kindern auf Futterneid reagiere. Wenn Futterneid nämlich einmal so richtig um sich gegriffen hat, kann er ein Leben lang bleiben. Und das wirkt bei Erwachsenen manchmal ganz schön bizarr.

Mein Mann ist mit drei Geschwistern großgeworden. Der Altersunterschied zwischen ihm und seinen zwei Brüdern ist gering. Gerade einmal eineinhalb Jahre trennen sie jeweils voneinander. Geschwister im etwa gleichen Alter zu haben, kann viele Vorteile mit sich bringen. Man hat automatisch immer jemanden, der ähnliche Interessen an den Tag legt. Zu dritt ist man fast schon eine richtige, verschworene Bande und braucht im Prinzip keine anderen Kinder. Man hat ja die Brüder. Aber gleichzeitig sitzt die Konkurrenz direkt im Kinderzimmer nebenan, wetteifert um die Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern und Großeltern und um das bessere Spielauto. Was man auch anstellt, Geschwister wird man so schnell nicht los, erst recht nicht am Essenstisch.  

Mein Mann hat mir einmal erzählt, dass er nachmittags mit seinen Brüdern öfters zum Fernsehen zu Oma durfte. Die Jungs saßen einträchtig vor der Glotze, während Oma Äpfel schälte und schnitt und die Stücke für jeden Enkelsohn in seine eigene kleine Schüssel legte. Obendrauf drapierte sie als besonderes Bonbon jeweils ein Stück Schokolade. Aber für meinen Mann, dem jüngsten Bruder und Lieblingsenkel, lag versteckt unter den Apfelstücken ein Extrastück Schokolade. Natürlich wurde der Schatz, sobald Oma aus der Tür war, triumphierend den großen Brüdern gezeigt, um sie zu ärgern. Das hat sicherlich nicht dazu beigetragen, den kindlichen Neid einzudämmen. Später, als die Geschwister älter waren und zu unterschiedlichen Zeiten von der Schule kamen, bereitete meine Schwiegermutter für jedes Kind eine (gerechte) Mittagessensportion zu, die sich jeder nur noch warmmachen musste. Aber wer als letztes aus der Schule kam, musste sehr oft die Erfahrung machen, dass seine Mahlzeit regelrecht ausgeschlachtet war: die leckere Bratwurst fehlte, dafür türmte sich das ungeliebte Gemüse auf dem Teller. 

Auch ich bin mit Geschwistern aufgewachsen, allerdings besteht zwischen meinem Bruder, meiner Schwester und mir ein recht großer Altersunterschied. Sicherlich habe auch ich früher meinen Weihnachtsteller mit Süßigkeiten vor meinem großen Bruder verstecken müssen. Mein Bruder besaß auf wundersame Weise noch bis weit in den Januar einen bis obenhin gefüllten Teller, während die leckeren Sachen auf den Weihnachtstellern meiner Schwester und mir, ohne unser Zutun, konstant und auf wundersame Weise schrumpften. Süßigkeiten stellen wohl in jedem Haushalt mit Kindern essbares Gold dar. Besondere Köstlichkeiten sollte man also stets beschriften oder verstecken. Auch in unserem Haushalt wird versteckt, damit mein Mann – der einen extrem süßen Zahn hat – sich nicht (versehentlich natürlich) daran vergreift. Er kann Süßem von uns allen am wenigsten widerstehen. Daher markiert Maya ihr Eigentum grundsätzlich mit Zetteln: „Von Maya. Nicht essen, Papa!!!“

Ich kann schlecht damit umgehen, wenn ich mitbekomme, dass ein erwachsener Mensch in unserer Überflussgesellschaft am reich gedeckten Tisch Angst bekommt, zu verhungern oder zu kurz zu bekommen. Ich finde das befremdlich und extrem unsympathisch. Wahrscheinlich bin ich in dieser Beziehung von meiner Mutter geprägt, die ihr letztes Hemd und ihren letzten Bissen abgeben würde. Dabei gehört sie der Generation der Kriegskinder an, ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen und hat noch erfahren müssen, was Hungern wirklich bedeutet. Sie nimmt sich immer zuletzt und würde zugunsten der anderen am Tisch mit einem „Ach, ich habe sowieso nicht so großen Hunger. Nimm du nur“, grundsätzlich lächelnd verzichten.

Zwischen meinen Töchtern kommt es selten zu Futterneid. Ab und zu wird höchstens geschimpft, wenn Lara den letzten Joghurt mit Schokostücken aus dem Kühlschrank genommen oder mit ihren Freundinnen den gesamten Mikrowellen-Popcornvorrat vernichtet hat. Am Mittagstisch herrscht beim Essen jedoch meist traute Einigkeit, denn die Mädchen haben ganz unterschiedliche Vorlieben. Maya hasst Fleisch und hat einen sehr kleinen Magen. Lara liebt Fleisch und besitzt einen sehr gesunden Appetit. Und sie ist drei Jahre älter als Maya. „Willst du das noch von mir? Nimm ruhig, ich kriege sowieso nichts mehr auf“, bietet Maya daher gerne Lara ihre Reste an. Und wenn ich doch hin und wieder Anflüge von Futterneid an unserem Tisch erlebe, gehe ich sofort an die Decke und ersticke ihn im Keim.

Nur diese eine Sache, die hat sich auch bei uns eingeschlichen: Ich zwacke meinem Mann ebenfalls einen Teller vom Mittagessen ab und stelle ihm den für den Abend beiseite. Manchmal klaut sich Lara die Fleischstücke von seinem Teller. „Merkt der doch eh nicht“, sagt sie dann, wenn ich sie erwische. Wenigstens achtet sie darauf, dass noch ein Alibistück für ihn übrigbleibt und er nicht ganz leer ausgeht.