Hand aufs Herz – ekeln sie sich, wenn Sie auf Ihrem Milchkaffee eine Haut sehen (ich frage bewusst nach Milchkaffee, weil ich vermute, dass die wenigsten von Ihnen häufig eine Tasse warme Milch trinken)? Ich geb’s zu, auch ich finde das etwas unappetitlich. Aber als ich ein Kind war, gab es bei uns zu Hause sonntagmorgens regelrecht Streit um das gummiartige, leicht schlonzige Gebilde. Mein Vater teilte die Haut sorgfältig unter uns Kindern auf, am Samstag das eine, am Sonntag das andere, in der nächsten Woche umgekehrt. Dazu gab es weiche Eier und manchmal Laugenbrezel mit Butter und Nutella. Dass manche Menschen bei Milchhaut und glibberigen Eiern geradezu einen Würgereflex bekommen und mich mindestens merkwürdig ansahen, wenn ich Brezel mit Süß kombinierte, stellte ich erst viele Jahre später fest.
Die Tage meiner Kindheit verbinde ich mit schwarzen Rändern unter den Fingernägeln, nachdem wir hinter dem Kompost Engerlinge und Eidechsen ausgegraben hatten. Wir sammelten Schnecken und veranstalteten Rennen mit ihnen – was uns nicht davon abhielt, ihre Artgenossen mit großer Lust geschwenkt in Kräuterbutter zu verspeisen, wenn sie bei einem unserer seltenen Restaurantbesuche auf der Karte standen. Ekel vor irgendetwas, das gab es in unserem Elternhaus nicht.
Mein Vater war streng, was das Essen beziehungsweise das Nicht-Essen anging. Nie hätte er, als Nachkriegskind wenige Monate vor dem Hungerwinter 1947 geboren, Essen weggeschmissen, das noch gut war. Abgelaufene Joghurts? Mein Papa probierte als Erster und reichte sie dann mit Siegerlächeln an uns Kinder weiter. Hartes Brot? Gab es als „Pflichtbrot“ verteilt auf alle Familienmitglieder bevor die frischen Brötchen auf den Tisch kamen. Wurmstichige Äpfel, Mirabellen, Zwetschgen aus dem Garten? Sorgfältig ausgeschnitten. Wir fielen über die Obstteller her.
Frühstück, Mittagessen, Abendessen – dreimal am Tag aßen wir zusammen und ich erinnere mich nicht daran, dass es jemals „Kinderessen“ und „Erwachsenenessen“ gegeben hatte. Selbstverständlich aßen wir Kinder mit, wenn es Rinderherz oder Ochsenmaulsalat gab, gebackene Zucchini oder Fisch. Meine Eltern nahmen uns ernst beim Essen – und ermöglichten uns dadurch, alles ohne Vorurteile auszuprobieren. Welch großes Verdienst meiner Eltern das war, wird mir erst heute bewusst, da ich selbst ein Kind habe.
Heute ertappe ich mich schon manchmal dabei, dass ich für meinen Sohn Nudeln, Tortellini oder Maultaschen zubereite, damit er um halb sechs schnell zu Abend essen kann, bevor mein Mann und ich uns zwei Stunden später an den Tisch setzen. Und doch lassen auch wir ihn am Essen teilhaben und alles probieren, was auf unsere Teller kommt. Die Ergebnisse sind so überraschend, dass ich es manchmal selbst kaum glauben kann. Er liebt nicht nur Gnocchi Gorgonzola und jede Art von Stinkekäse. Im Urlaub schlemmte er sich mit uns durch die Meeresfrüchte von Garnelen bis zur glibschigsten Muschel. Und zu scharf (Radieschen) oder auch zu sauer (Zitrone) gibt es für ihn eigentlich nicht.
Süße Kinderspeisen wie Pfannkuchen mit Apfelmus interessieren den kleinen Gourmet dagegen überhaupt nicht. An den Keksen von Oma knabbert er eher pflichtschuldig herum. Denn wer schon immer bei Mama und Papa mitgegessen hat, dem muss man mit einem eigenen Kinderessen gar nicht mehr kommen. Doch das hat auch Nachteile. Denn so praktische Dinge wie Gläschen oder andere Kinderfertiggerichte hat Max schon verschmäht, bevor er zwei Zähne im Mund hatte. Mit viel Liebe und Kreativität zusammengekochte Gemüsebreis landeten regelmäßig erst im Lätzchen und dann im Müll. Lieber waren ihm Gurken, Karotten oder gekochter Blumenkohl. Das machte leider selten länger als eine Stunde satt.
Mein Mann und ich schauten immer etwas irritiert bis fasziniert zu, wie Freunde streng nach Tabellen, Zeitplan und Kalorienangaben ihre Kinder fütterten. Morgens Obst-Getreidebrei, mittags Gemüsebreis, abends dann bloß nicht zu viel Proteine. Solche ausgefuchsten Diäten hätten wir mit Max nie durchziehen können.
Und trotzdem: Satt geworden ist er irgendwie noch immer. Auch wenn sein Speiseplan vielleicht etwas rohkostlastig ist, hat er sich bislang prima entwickelt. Und wenn er sich mit Akribie und Zunge im Mundwinkel eine Garnele aus der Schale pellt, sind wir uns immerhin in einem gewiss: Er hat Spaß am Essen. Und das ist schon mal viel wert.