Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Was ist eigentlich petzen?

Konflikte nicht direkt an Erwachsene weiterzutragen, sondern selbst zu klären, müssen manche Kinder erst lernen.

Es war ein perfekter Schuss. Der Ball zischte durch die Luft. Er drehte sich kaum. Sein Ziel traf er hart und genau. Die Schaukel bewegte sich weiter, ohne zu stocken. Das Brett schwang vor und zurück. Nur der Junge, der gerade noch zwischen den Seilen gesessen hatte, war verschwunden. In dem Moment, in dem ihn das Leder traf, war er durch die Wucht des Aufpralls rücklings aus der Schaukel auf den Rasen gefallen. Jetzt hielt er sich die Brust, schluchzte und wankte davon. Das gab Ärger.

Michi Hase wohnte in unserer Siedlung, in einem kleinen Haus mit hübschem Garten. Jeden Tag spielten wir Nachbarskinder zusammen: Räuber und Gendarm, Verstecken und natürlich Fußball. Wir fingen Frösche oder versuchten, den kleinen Bach im Wald zu stauen. Es verging aber kaum ein Tag, an dem nicht einer von uns Ärger mit Michi hatte. Oder Michi mit einem von uns. Bei jeder noch so kleinen Meinungsverschiedenheit knallte es. Entweder hatte ihn jemand geschubst, ihm ein Bein gestellt oder einfach irgendetwas getan, was Michi nicht gefiel. In jeder dieser Situationen brach er in Tränen aus. Eigentlich musste nur irgendjemand „huh“ sagen, und Michi weinte. Wir waren normale Kinder. Es gab keinen Fiesling unter uns und Michi war mit Sicherheit kein Mobbingopfer. Aber er nervte. Nicht nur, dass diese Heulerei an sich schon maßlos übertrieben gewesen wäre. Michi setzte immer noch einen drauf. Der Junge rannte jedes Mal sofort nach Hause zu seiner Mutter und verpetzte den vermeintlichen Übeltäter. Und Michis Mutter stellte den mutmaßlichen Übeltäter zur Rede, jedes Mal. Ihren Sohn nahm sie immer in Schutz und aus der Verantwortung. Nicht einmal sagte sie: „Stell dich nicht an“ oder „Versuch das doch mal ohne Geheule zu regeln“. Nein, auf die Idee kam sie nie. Michi Hase war für uns eine Petze und Heulsuse.

Michi petzte sogar, wenn es nichts zu petzen gab. Wenn wir uns selbst aus einem Schlamassel befreit hatten. Wenn einer von uns über den Zaun der alten Villa gestiegen war, um einen verschossenen Ball wieder zu holen oder unerlaubterweise auf ein altes Wellblechdach stieg, um Kirschen zu pflücken. Michi Hase erzählte es seiner Mutter. Er war kein Komplize, sondern ein Feuermelder, der sogar Alarm schlug, wenn es nichts zu löschen gab. Darum wurde er irgendwann mit dem Lederball von der Schaukel geschossen.

Ich glaube, meine Kindheitserfahrungen mit Michi Hase sind der Grund, warum ich heute, 35 Jahre später, petzen überhaupt nicht mag – weder bei meinen noch bei anderen Kindern. Unserem Sohn und unserer Tochter bringen wir bei, Konflikte mit Spielkameraden selbst zu lösen.  Wenn das nicht möglich ist, sollen sie sich zurückziehen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nichts zwei Hitzköpfe besser abkühlt als eine kleine Pause voneinander. Und wenn das alles nichts nützt, stehen wir selbstverständlich als Streitschlichter zur Verfügung. Das schafft Vertrauen auf beiden Seiten und klappt meistens ziemlich gut. Bei einem Vorfall war unser Sohn Theo neulich allerdings überfordert.

Anfang September, am zweiten Schultag nach den Sommerferien, bekam ich eine Nachricht. Eine Nachbarin schrieb mir, dass ihre Töchter nicht mehr mit Theo zur Schule laufen wollen. Angeblich schlage und schubse er ihre beiden Mädchen, Klara und Elsa, so lange, bis eine auf dem Boden liegt. Ich seufzte. Zum einen kenne ich meinen Sohn. Er ist aus meiner Sicht ein ganz normales Kind, ziemlich emotional. Im Eifer des Gefechts kann er schon mal übertreiben. Die beiden Nachbarmädchen sind allerdings auch nicht ohne.

Darum antwortete ich: „Nach meinen Beobachtungen geben sich die Kinder im Streit nichts. Aber ich werde mit ihm reden.“ Das tat ich auch. Wie ich vermutete, hatten sich die Kinder vorher wegen irgendetwas gestritten und die Sache hatte sich hochgeschaukelt. Theo hatte geschubst und gehauen, Klara und Elsa aber auch.

Nachdem ich ihm geraten hatte, Unstimmigkeiten künftig mit Gesprächen statt Geschubse zu klären und die beiden Mädchen einfach mal links liegen zu lassen, ließ ich die Sache auf sich beruhen. Zwei Tage später bekam ich wieder eine Nachricht. „Hallo, sorry, dass ich mich schon wieder melde. Aber Theo hat Klara mit dem Schulranzen geschlagen und auf die Straße geschubst. Mareike hat es gesehen und bestätigt.“ Mareike geht in dieselbe Klasse wie Klara und Theo. Ich wunderte mich. Mein Kind war eine Viertelstunde zuvor fröhlich zur Tür hereinspaziert und hatte über den Vorfall mit den Mädchen nicht ein einziges Wort verloren.

Ich fragte nach und dieses Mal flossen Tränen. Er gab zu, Klara geschubst zu haben und erzählte mir dann, wie er den Streit erlebt hatte: Klara hatte in der Stadt Eis für ihre Schwester, Mareike und sich selbst gekauft, aber nicht für Theo, obwohl das Geld gereicht hätte. Dann hatte sie sich demonstrativ vor ihn gestellt und genüsslich ihr Eis gegessen. Ich schrieb das alles unserer Nachbarin.

Vier Wochen ist das jetzt her. Bis heute habe ich keine Antwort bekommen. Viel entscheidender war aber das Gespräch mit Theo. Ich fragte ihn, warum er mir nichts von dem Streit erzählt habe. Er wollte wegen der Schubserei keinen Ärger bekommen, antwortete er. Ich erklärte ihm in aller Ruhe, dass Gewalt auch nie eine gute Lösung für einen Streit gewesen sei. Gleichzeitig gestand ich ihm mein Verständnis für seine Wut. Klaras Verhalten sei gemein gewesen. Natürlich wird man sauer, wenn einer allen ein Eis spendiert und nur man selber keines bekommt. Und wenn sich derjenige dann auch noch schleckend vor einen stellt, wird die Wut noch größer.

Außerdem habe Klara nicht die ganze Geschichte erzählt, sondern nur den Teil, bei dem sie als das Opfer dasteht und er, Theo, als Bösewicht. Darum sei es wichtig, die Sicht aller Betroffenen zu hören, um zu erfahren, was tatsächlich passiert ist. Das sei kein petzen, sondern eine Erklärung für die Erwachsenen. Wer petzt, erzählt meistens nur, wie ein Streit zu Ende gegangen ist und nicht, wie er entstanden ist.

Konflikte soll er auch künftig versuchen selbst zu lösen. Das klappt bisher nämlich ganz gut. In manchen Situationen gebe es aber keine andere Möglichkeit, als seine Eltern oder einen Lehrer einzuweihen. Vor allem, wenn man von jemandem beschuldigt wird etwas Blödes gemacht zu haben oder wenn jemand wirklich etwas Blödes gemacht hat.  

Mit den Nachbarsmädchen geht er bis heute nicht zusammen zur Schule. Aber das wird schon wieder, da bin ich entspannt. Ehrlich gesagt bin ich klammheimlich etwas stolz auf Theo. Die Gefahr, dass ihn irgendwann einmal jemand mit einem Lederball von der Schaukel schießt, so wie es sein Vater vor 35 Jahren mit Michi Hase gemacht hat, tendiert gegen null. Ich habe damals riesigen Ärger bekommen. Völlig zurecht.