Ich habe meine Retro DVD-Sammlung um einen Film-Schatz ergänzt: „Cinderella ’87“ mit La Boum-Darsteller Pierre Cosso. Die 18-jährige Cindy (Bonnie Bianco) lernt auf ihrer Reise nach Rom Mizio (Pierre Cosso) kennen, verliebt sich in ihn und ahnt nicht, dass es sich in Wirklichkeit um einen Prinzen handelt. Das Pop-Märchen wurde in West-Deutschland zum ersten Mal im Frühjahr 1987 ausgestrahlt. Da war ich fünfzehn Jahre alt. Nun sehe ich mir die Serie mehr als dreiunddreißig Jahre später an: Pierre Cosso in einem rot-weiß gestreiften ärmellosen T-Shirt, mit trendiger Schirmmütze auf dem Kopf, lässig auf seiner Vespa hockend, Fluppe in James-Dean-Manier in den Mundwinkeln hängend. Fluppe? Zigarette?! Mir wird schlagartig bewusst, wie normal das Rauchen in den Achtzigern noch war. Egal ob in der Kneipe, im Restaurant, im Flugzeug, im Büro oder im Fernsehen: Es wurde gequalmt. Wer keinen neunzigminütigen Kinofilm ohne Nikotin aushielt, ging ins Raucherkino. Auch Cindy und Mizio lernen sich, wie selbstverständlich, am Zigarettenautomat kennen: Mizio kämpft auf dem Flughafen mit dem Automaten, Cindy tritt einmal kräftig dagegen, der Kasten spuckt seinen gesamten Inhalt aus, Cindy schnappt sich als Belohnung eine Schachtel und verschwindet keck lächelnd. Damals der ganz normale Beginn einer jungen Liebesgeschichte.
Fast genauso normal, wie ich es im Sommer 1987 empfand, während meiner Jugendreise nach Italien zur ersten Zigarette zu greifen. Die meisten Leute meiner Clique rauchten und die meisten Jungs meiner Clique fuhren wie Pierre Cosso eine coole Vespa. Wir fühlten uns unverwundbar und wahnsinnig erwachsen. Cool sein, das will jede Teenie-Generation, und zwar um jeden Preis! Das war schon immer so und wird auch immer so bleiben. Der Einstieg in die Nikotinsucht verläuft wie bei fast allen Süchten schleichend: Erst wird einem die Zigarette angeboten und man raucht nur sporadisch, wenn man mit Freunden unterwegs ist und dazugehören möchte. Dann wird einem die Schnorrerei peinlich. Man kauft sich immer häufiger selbst eine Packung. Irgendwann braucht man das Nikotin regelmäßig und die Industrie hat einen neuen süchtigen und zahlenden Konsumenten dazugewonnen. Ich wurde sehr jung zu einer Sklavin der großen Tabakkonzerne, rauchte Zigaretten der Marken Benson & Hedges (wegen der edel wirkenden goldfarbenen Packung), John Player Special (wegen der edel wirkenden schwarzen Verpackung), Marlboro (wegen des coolen Marlboro-Cowboys) und Camel (wegen des lustigen Kult-Kamels). Image ist eben alles und ich fiel total naiv darauf herein.
Der Sucht entkommen
In meinen Zwanzigern wurde mir immer mehr bewusst, wie sehr ich meinem Körper mit dem blauen Dunst schadete. Ich war genervt, weil die Sucht mich so fest im Griff hatte. Ich rannte im strömenden Regen noch spätabends, ungeschminkt und in Jogginghosen zum Zigarettenautomaten oder zur Tankstelle, sobald ich keine „Kippen“ mehr hatte. Ich ekelte mich vor dem Rauchgeruch in meinen Klamotten und in meinem Haar. Die Qualmerei war auch ein Kostenfaktor: An einem feucht-fröhlichen Wochenende gingen schon mal zwei bis drei Packungen drauf. Mit Ende zwanzig, auf dem Höhepunkt meines Nikotinkonsums, beschloss ich aufzuhören. Ich schmiss die angebrochene Schachtel weg und fertig. Man bereut eigentlich immer, mit dem Rauchen angefangen zu haben. Wer etwas anderes erzählt, der belügt sich selbst. Und es fällt nicht jedem leicht, von seiner Sucht loszukommen. Manche schaffen das ihr ganzes Leben lang nicht.
In den letzten zwei Jahrzehnten ist es für diese Spezies merklich unbequemer und teurer geworden. Rauchen ist gesundheitsschädlich. Punkt. Damit das auch dem Letzten klar wird, müssen die Hersteller nun abschreckende Bilder von schwarzen Lungen oder erblindeten Augen auf ihre Packungen drucken. Die Abgabe von Nikotinprodukte ist für Jugendliche unter 18 Jahre inzwischen verboten und eine durchschnittliche Packung kostet am Automaten aktuell unglaubliche 7 Euro. Meinetwegen können die Dinger noch unerschwinglicher werden, wenn dadurch meine Kinder vom Rauchen abgehalten werden.
Die Hoffnung, der eigene Teenager wird es besser machen als man selbst
Mir ist klar, dass meine sechzehnjährige Tochter Lara ihre Erfahrungen und Experimente machen will und wird. Alles was Erwachsenen vorbehalten ist, zieht Jugendliche nun einmal magisch an. Wer wäre ich denn, wenn ich das nicht verstehen würde? Letztens habe ich Lara und ihre Freundin von einer Party abgeholt. Ich stand mit dem Auto zur verabredeten Zeit vor der Tür, doch die zwei Grazien ließen mich fast zehn Minuten warten. Als sie sich dann endlich, übertrieben freundlich und entschuldigend, in meinen Wagen schmissen, ließ ich erst einmal sämtliche Autofenster herunter. Ich wäre sonst elendig erstickt! „Wenn ihr nach Rauch stinkt, bringt es nichts, wenn ihr euch mit zwei Liter Tosca-Omaparfüm, das ihr auf der Gästetoilette des Gastgebers gefunden habt, einnebelt und euch fünf Kaugummis gleichzeitig in den Mund stopft “, kommentierte ich die Situation und erntete ertappte Gesichter.
Natürlich passt es mir nicht, wenn Lara raucht oder Alkohol trinkt, und ich kann mir meine Weisheiten selten verkneifen. Aber ich weiß auch, dass übertriebene Strenge und Verbote ins Gegenteil umschlagen können. Als ich daher in unserem Garten einen kleinen schwarzen Plastikaufsatz finde und nur eine vage Vermutung habe, um was es sich bei dem Ding handeln könnte, zeige ich Lara meinen Fund und gebe mich offen und interessiert. „Ach, das ist von Johannas E-Zigaretten“, erklärt sie. Ich bin baff. Wieso E-Zigaretten? Ich erinnere mich, wie vor vielen Jahren diese hässlichen, unhandlichen Geräte auf den Markt kamen und von vielen Rauchern, die bis dahin verzweifelt versucht hatten, ihre Sucht in den Griff zu kriegen, als Revolution gefeiert wurden. Dampfen soll weniger gesundheitsschädlich sein als Rauchen und den Ausstieg aus der Nikotinsucht erleichtern. Weniger gesundheitsschädlich bedeutet aber auf keinen Fall harmlos, denn auch der Dampf erzeugt gesundheitsschädliche Stoffe, egal ob mit oder ohne Nikotin, wie die Stiftung Warentest die aktuelle Studienlage zusammenfasst.
Ich persönlich kenne niemanden in meinem direkten Umfeld, der E-Zigaretten dampft. Die Dinger wirkten auf mich bis dahin eher albern oder zumindest nicht sonderlich lässig. Darauf fahren Jugendliche doch nicht ab?! Bisher hatte ich eher die Shisha als potentielle Bedrohung für meine Teenager-Tochter eingestuft. Die Vorstellung, Lara könnte in irgendwelchen dubiosen Shisha-Bars, schlimmstenfalls in Hauptbahnhofgegend, abhängen, erzeugt bei mir mehr als ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Shisha wird bei meinen Freunden nicht so geraucht. Obwohl Jan letztens seine Shisha mit zu einer Party geschleppt hat. Aber das war voll eklig und aufwendig, die hinterher sauberzumachen“, erzählt Lara. Da wäre eine Juul, eine Vape, doch viel cooler, sagt sie. Juul? Nie gehört. „In deinem Freundeskreis werden auch E-Zigaretten geraucht?“ „Vapen, Mama! Vapen, heißt das oder eben Juulen.“ Nun bin ich neugierig. Man muss seinen Feind kennen, um ihn einschätzen zu können. Ich setze mich also an den Laptop und tauche in die Dampfwelt ab.
Wie durch dreistes Marketing junge Nichtraucher angeworben werden
Nach meiner Recherche bin ich auf der einen Seite total entsetzt, auf der anderen Seite tief beeindruckt von der unfassbar frechen Marketing-Strategie der E-Zigaretten Industrie. Der Hersteller Juul Labs befindet sich auf einer wichtigen Mission, so steht es auf der deutschen Webseite: Unsere Mission ist es, die Milliarde erwachsener Raucher weltweit von herkömmlichen Zigaretten abzubringen, deren Konsum zu beenden und den Gebrauch unserer Produkte durch Minderjährige zu bekämpfen.
Juul Labs hat eine schicke schwarze, schlanke, modern und cool aussehende, dreiteilige E-Zigarette designt. Den kleinen USB-Ladestecker könnte man leicht mit dem USB-Empfänger einer kabellosen PC-Maus verwechseln. Die JUULpods (ja, man darf sich an dieser Stelle ruhig wundern, warum die Mundstücke, also die Hüllen mit den E-Liquids auf Nikotinsalzbasis, Pods heißen – zumindest assoziiere ich mit dem Wort „Pod“ automatisch Apple-Produkte oder Begriffe aus der modernen, digitalen Welt) werden in unterschiedlichen Aromen angeboten. Von roten Beeren über Mango, Apfel und Pfefferminze ist für den (jugendlichen) Geschmack alles dabei. Wenn das mal nicht die Zielgruppe der armen, alten Raucher anspricht, die seit Jahrzehnten darauf wartet, endlich von ihrer Zigaretten-Sucht befreit zu werden! Ist die E-Zigarette wirklich das Methadon der herkömmlichen Zigarette? Neben dem Hersteller Juul Labs mit Sitz in San Francisco existieren einige ähnlich cool aussehende Produkte anderer Hersteller wie MyBlu oder Vype, die zweifelsohne keinen Deut besser sind als Juul Labs.
Die Amerikaner waren uns Europäern eigentlich in der Nikotinsucht-Bekämpfung immer einen Schritt voraus. Als ich in den Neunzigern (damals noch als Raucherin) ein paar Wochen in Kalifornien verbrachte, trafen mich die für uns Europäer zu dieser Zeit noch völlig ungewohnten Rauchverbote an vielen öffentlichen Plätzen und in Lokalen schwer. Bei uns war es erst 2007 soweit. Und nun dominiert Juul Labs in Amerika mit einem geschätzten Marktanteil von über 70 % den E-Zigarettenmarkt. Auch meine Tochter verwendet den Begriff „Juulen“, obwohl sie eigentlich „Dampfen“ meint. Der Markenname Juul stellt also bereits in ihrem Sprachgebrauch ein Deonym dar, ein Synonym für diese Gattung der Vaping-Produkte. So wie man um ein „Tempo“ bittet, wenn man ein Taschentuch verlangt. Juul Labs wurde in Amerika dafür verantwortlich gemacht, dass innerhalb kürzester Zeit die Anzahl der jugendlichen Vaping-Kunden kometenhaft in die Höhe schoss. Mit poppig-bunten Werbefotos, auf denen ausnahmslos junge, hippe und hübsche Menschen zu sehen waren, Werbung via Snapchat (wie ausgesprochen klug – welcher Erwachsene tummelt sich schon auf dieser Plattform und bekommt das mit?), Instagram und Co. wurde Juul rasend schnell zu einer angesagten, kultigen Jugendmarke. Junge Nichtraucher wurden zu Dampfern. Einstieg statt Umstieg! Besser kann man es aus Marketing-Sicht eigentlich nicht machen.
Todesfälle durch Vaping
Seitdem sich jedoch in Amerika Todesfälle häufen, die mit Vaping in Zusammenhang gebracht werden, ist die Regierung aktiv geworden und hat den Verkauf von süßen Patronen in Frucht- und Minzgeschmack, die vorrangig bei Jugendlichen beliebt sind, verboten. Der Bundesstaat New York verklagte Juul Labs und warf dem Hersteller vor, gezielt Jugendliche als Konsumenten angeworben zu haben. Juul Labs gelobte Besserung, stoppte die Werbung, legte die Social-Media-Konten lahm und betonte, es wäre nie ihre Absicht gewesen, Teenager zu verführen. Nun hoffen sie, dass man ihnen ihre neue Mission „Rettung aller erwachsenen Raucher von herkömmlichen Zigaretten“ abnimmt, auch hier in Deutschland. Ich werde weder Juul noch sonst einem E-Zigaretten- oder Tabakwarenhersteller seine Produkte oder scheinheiligen Aussagen abkaufen. Soweit geht meine Liebe zu Märchen dann doch nicht. Da bleib ich lieber bei Cinderella und Pierre Cosso.
Im Juli hat der Deutsche Bundestag den Entwurf für ein zweites Gesetz „zur Änderung des Tabakerzeugnisgesetzes“ beschlossen, der Werbebeschränkungen für Tabakerzeugnisse vorsieht. Das Außenwerbeverbot für Tabakerhitzer und E-Zigaretten soll leider erst ab 2023 beziehungsweise 2024 kommen. Wir können unsere Kinder nur darüber aufklären, warum der Tabak- und E-Zigarettenindustrie so daran gelegen ist, jungen Suchtnachwuchs heranzuzüchten und welche Rolle Werbung und Image-Aufbau dabei spielen.