Immer wiederkehrenden Abläufe, auf die man sich verlassen kann, geben Kindern und Erwachsenen an Weihnachten ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Wir pflegen unsere persönlichen Familienrituale. Später, wenn die Kinder einmal erwachsen sind, werden sie sich nicht mehr haargenau an jeden einzelnen Geburtstag, an jedes einzelne Weihnachtsfest und an jeden einzelnen Zeugnisausgabetag erinnern können. Aber sie werden mit einem wohligen Gefühl im Bauch an diese besonderen Momente zurückdenken und sagen: „Weißt du noch, damals? Wenn einer von uns Geburtstag hatte, haben sich die anderen morgens in der Küche versammelt und das Geburtstagskind durfte erst reinkommen, wenn Happy Birthday von Stevie Wonder lief und die Kerzen brannten. Am 6. Dezember gab es abends bei Oma und Opa immer selbstgebackene Weckmänner. Heiligabend haben wir immer Raclette gemacht und wenn wir später ins Bett gingen, hat Mama angeschickert die Musik viel zu laut aufgedreht und bis spät in die Nacht singend die Küche aufgeräumt. Am ersten Weihnachtstag waren wir immer alle bei Oma und Opa. Und am Esstisch wurde es von Jahr zu Jahr enger, weil wir Kinder größer wurden und neue Familienmitglieder hinzukamen. Und dann, am zweiten Feiertag, sind wir immer zu Omi gefahren.“
Das Jahr 2020 wird uns allen als das Jahr im Gedächtnis bleiben, an dem alles so ganz anders wird und es eben nicht so läuft wie immer. „Wir müssen uns überlegen, wie wir Weihnachten handhaben“, nervte ich schon Anfang Dezember meinen Mann. Ich wollte für uns alle eine definitive Entscheidung, an der wir nicht mehr rütteln mussten und wollte sein Schulterzucken genauso wenig akzeptieren wie seine lapidare Antwort: „Mal schauen. Es hat sich noch keiner von den anderen geäußert.“ Die engste Familie meines Mannes besteht, uns mitgezählt, aus 4 Geschwistern, 4 Partnern, 4 Kindern, Oma und Opa. Kind 5 ist unterwegs. Das macht 14 Leute, die sich normalerweise am ersten Weihnachtsfeiertag an den viel zu kleinen Esstisch meiner Schwiegereltern quetschen.
Das stellt dieses Jahr überhaupt keine Option dar, zumal an jedem Partner noch eine eigene Familie mit Geschwistern, Kindern und Eltern hängt, die normalerweise ebenfalls an den anderen Weihnachtstagen besucht werden. „Wenigstens Weihnachten soll normal werden. Ich will das Wort Corona dann nicht hören“, sagte meine Tochter Maya, der die Situation sehr an die Nerven geht. „Corona hat mir schon den Sport genommen.“ Maya macht Rollkunstlauf und ihr Verein führt jedes Jahr ein Weihnachtsmärchen auf. Dazu gehören aufwendige Proben, Kulissenbau, Kostümproben und Fototermine. Der Dezember ist normalerweise furchtbar stressig, aber auch sehr schön. Und wenn Maya in der Halle aufläuft, wo die Lichter auf sie und die vielen anderen Kinder gerichtet sind, weiß sie, dass ihre Omi, Oma und Opa und all die anderen Verwandten und Freunde im Publikum sitzen, um sie zu bewundern. Doch 2020 wird keine Vorstellung stattfinden und meine Töchter haben ihre Großeltern das ganze Jahr über sehr wenig gesehen. „Wir müssen die Großeltern schützen. Du willst doch nicht, dass sie krank werden“, bekommen nicht nur meine Kinder daher seit März zu hören.
Meine Mutter ist alleinstehend und wohnt 50 Kilometer von uns entfernt. Ich habe selten Lust und vor allen Dingen nicht die Zeit, mich unter der Woche ins Auto zu setzen. An den Wochenenden sind Lara und Maya meistens beschäftigt. Maya trainiert, Lara trifft sich mit Freunden oder sie haben für die Schule tun. Unsere Besuchsfrequenz könnte generell besser sein, das gebe ich mit schlechtem Gewissen zu. Meine Mutter besitzt keinen Führerschein und ich will nicht mehr, dass sie den langen Weg mit der Bahn mit zweimaligen Umsteigen zu uns auf sich nimmt. Der erste Lockdown hat ihr zugesetzt. „Keiner kommt mehr! Dein Bruder war schon wochenlang nicht da, deine Schwester auch nicht und die Kinder (ihre erwachsenen Enkel) lassen sich ebenfalls nicht blicken. Sogar meine Gymnastik und meine Senioren-Spielnachmittage wurden ausgesetzt“, klagte sie im Frühjahr vorwurfsvoll. Sie fühlte sich nicht geschützt, sondern alleingelassen. Kaum war der Lockdown aufgehoben, fuhr sie ständig mit dem Bus in die Stadt, weil sie unglaublich viele und wichtige Besorgungen zu machen hatte, oder stieg in den Zug und fuhr ihre Geschwister besuchen. „Sie nimmt das Risiko bewusst in Kauf. Sie ist einsam“, zog meine Schwester ihr Fazit. Wir konnten meine Mutter verstehen.
Meine Schwiegereltern beachten die Corona Regeln streng. Wir haben auch dort die Besuche auf ein Minimum reduziert. Mein Mann fährt manchmal kurz hin, trägt Maske und geht auf großen Abstand. Während des Sommers, als man draußen im Garten sitzen konnte und die Zahlen sich im Rahmen hielten, waren die Abstandsregeln besser einzuhalten. Das tradionelle Weckmann-Essen für die ganze Familie am Nikolaustag hat meine Schwiegermutter von sich aus abgesagt und den Kindern die Weckmänner an der Tür übergeben. Sicher, die Situation belastet sie wie uns alle, aber erstens haben sie und mein Schwiegervater einander und zweitens besitzen beide ein Smartphone und verstehen damit umzugehen. Sie halten regelmäßig mit der Familie Kontakt, verschicken und erhalten Fotos und Nachrichten. Im Falle von Corona hat die Digitalisierung mehr Vor- statt Nachteile gebracht. Meine Mutter hingegen tat sich selbst mit einem einfachen Seniorenhandy schwer. Nachdem der Mobilfunkanbieter ihre Prepaid-Karte zum x-ten Mal deaktivierte, weil sie mit dem Handy nicht telefonierte, das Ladegerät in irgendwelchen Schubladen Ferien machte und man sie so gut wie nie auf dem Handy erreichen konnte, gaben wir es auf. Der Umgang mit technischen Geräten fällt ihr zunehmend schwerer. Das fängt bei der Fernsehfernbedienung an und hört bei der Kaffeemaschine auf. Ein Smartphone würde sie hoffnungslos überfordern. Es ist sehr schade, dass ihr dadurch die digitale soziale Welt komplett verschlossen bleibt. Zum Telefonhörer greift man eben nur, wenn man sich wirklich Zeit nehmen kann. Aber eine Kurznachricht, ein Foto oder Video sind dagegen schnell mal zwischendurch und öfter am Tag verschickt. Das praktiziert meine Schwiegermutter inzwischen so exzessiv, dass Maya behauptet: „Oma hängt den ganzen Tag auf Youtube.“ Aber im Grunde genommen ist es klasse, dass sie dadurch nicht so komplett von unserer modernen Welt abgeschnitten ist wie teilweise meine Mutter.
Das hat zu unserer Entscheidung, wie wir Weihnachten gestalten, beigetragen. Wir werden die Eltern meines Mannes und die übrige Familie nicht besuchen und nur den zweiten Feiertag mit meiner Schwester, ihren erwachsenen Kindern und meiner Mutter verbringen. Meine Schwiegereltern werden mit der Familie ihres ältesten Sohnes Weihnachten feiern. „Das ist eine gute Lösung“, sagen meine Töchter. „So ist keiner allein und wir haben uns vorher nicht mit so vielen Leuten getroffen, wenn wir zu Omi fahren.“ Vor allem Maya ist froh, dass wir eine feste Regelung gefunden haben, auf die sie sich einstellen kann. Jetzt endlich stellt sich bei ihr die Vorfreude auf Weihnachten ein. Dass der große, trubelige Familien-Weihnachtstag ausfallen muss, sie ihre Cousinen, Onkels und Tanten, Oma und Opa nicht sieht, findet sie natürlich schade. Aber sie ist erleichtert, dass wir wenigstens zu meiner Mutter fahren werden, und freut sich auf das Essen bei meiner Schwester. Ihr ist klar, dass ein besonderes Jahr zu Ende geht. Ein Jahr, in dem alles anders ist und in dem man von seinen liebgewonnenen Gewohnheiten und Ritualen abrücken muss.
„Ich würde Omi so gerne mal wieder richtig fest umarmen“, sagt Maya. Auch wenn Fotos keine Besuche oder eine Umarmung der Enkelkinder und Kinder ersetzen können, schenken wir meiner Mutter zu Weihnachten einen digitalen Bilderrahmen und haben auf einen USB-Stick unzählige Bilder gepackt. Den einzigen Knopf, den sie drücken muss, um die Diashow zu starten, habe ich sicherheitshalber sehr auffällig mit einem Aufkleber markiert.