Zweimal haben wir es Corona-bedingt verschoben, aber jetzt hat es doch noch geklappt. Mein Vater hat uns besucht. Die Kinder haben sich riesig gefreut. Als sie seinen Wagen hörten, stürzten sie aus dem Haus: „Opa ist da!“ Nicht einmal in Ruhe aussteigen ließen sie ihn. „Opa, weißt du ..?“ oder „Opa, hast du ..?“ Er strahlte, als ich ihm seinen Koffer abnahm. Im Gepäck hatte mein Vater neben einer Basketball-Barbie und einem VfL-Osnabrück-Fußball – unsere Kinder haben beide kurz vor Weihnachten Geburtstag – auch wieder sein Werkzeug.
Mein Vater hat immer viel gearbeitet. Auch jetzt als Rentner fährt er ein paar Stunden in der Woche für eine Klinik Patienten durch die Gegend. Wenn er bei uns ist, kann er nur für einen sehr begrenzten Zeitraum einfach nichts tun. Darum lasse ich inzwischen Dinge wie Lampen aufhängen, Bohrarbeiten oder Glühbirnen austauschen extra liegen, wenn er sich ankündigt. Die Arbeiten werden dann (häufig) fachmännisch erledigt und (immer) voller großväterlicher Expertise kommentiert. Da fallen dann Sätze wie: „Das ist die Wetterseite, ist klar, dass es da nass ist“ oder „Wenn ich da nicht die Schraube festgedreht hätte, dann wäre aber Gott weiß was passiert“ oder auch „Du, den Siphon, den musst du mal austauschen“.
Früher haben mich diese Sprüche genervt, aber mittlerweile kann ich ganz gut damit leben. Ich überlasse ihm einfach das Spielfeld. Es gibt allerdings einen Bereich, in dem wir uns nicht ausweichen können, wo Konflikte programmiert sind: die Küche. Seit ein paar Jahren bestellen wir im Internet sogenannte Kochboxen, die von verschiedenen Anbietern direkt vor die Haustür geliefert werden. Der Vorteil dieser Boxen: Es ist alles drin, was man zum Kochen eines Gerichtes braucht. Die richtige Menge an Zutaten, die passenden Gewürze und das Rezept. Meine Frau und ich mögen es, nach einem Arbeitstag auf diese Weise zu kochen. Es ist lecker, gesund und unkompliziert, wenn man sich an die Rezepte hält. Betonung auf: wenn. Wer sich dieses Konzept ausgedacht hat, rechnete nicht mit meinem Vater.
„Was kochen wir denn?“ fragt mein Vater. Er steht mit frisch gewaschenen Händen, eifrigem Blick und einsatzbereit in der Küche – ein mehrarmiger teutonischer Bocuse, bereit, in den nächsten Minuten virtuos mit Töpfen, Messern, Pfannen und Lebensmitteln zu hantieren. „Es gibt zitroniges Fischfilet mit Kartoffelsalat“, antworte ich. „Du kannst dir schon mal das Rezept anschauen.“ Ich reiche ihm einen Zettel, auf dem die Kochschritte einzeln und mit exakter Verwendung der Zutaten aufgeführt sind. Er nimmt den Zettel entgegen und setzte seine Brille auf. Schweigen.
Ich stelle eine braune Papiertüte mit allen Ingredienzien für das Gericht auf die Arbeitsfläche. Er mustert sie skeptisch. „Ist das von Rewe?“ Ich erkläre ihm – nicht zum ersten Mal – das Konzept dieser Kochboxen. Dann werfe ich einen Blick auf das Rezept. „Du könntest schon mal die Kartoffeln schälen.“ Ich gebe ihm ein Schälmesser und ein Gemüsemesser sowie eine Schüssel (für die Kartoffeln) und die leere Papiertüte (für die Schalen).
Mit Kennerblick mustert er die Kartoffeln. „Das sind Festkochende, das sehe ich sofort.“ Dann beginnt er etwas widerwillig die zugegeben recht kleinen Kartoffeln zu schälen – mit dem Gemüsemesser wohlgemerkt. Das Schälmesser ignoriert er. Kurz darauf: „Also, ich koche ja die Kartoffeln immer erst, das geht viel leichter.“
„Heute machen wir das mal so, okay? Die Kartoffeln werden ja gleich noch in Scheiben geschnitten. Das geht roh besser.“ Schweigen und weiterschälen.
Schließlich helfe ich ihm. Kurz darauf köcheln die Kartoffelscheiben im Topf. Mein Vater hat sich inzwischen dem Fisch zugewandt: „Also, ich wasche den Fisch ja immer grundsätzlich mit kaltem Wasser ab.“ Im Rezept steht es anders, aber bitte: „Dann mach das doch.“
„Hast du irgendwo einen Teller?“ Ich gebe ihm einen Teller. „Ich würde den Fisch halbieren.“
„Hier steht zwar, dass er nur auf der Hautseite gebraten wird, aber wenn du meinst, dann teile ihn halt.“
„Hast du ein scharfes Messer?“ Ich reiche ihm aus dem Messerblock, der direkt vor ihm steht, das gewünschte Werkzeug.
„Kommt da Mehl drauf, auf den Fisch?“
„Guck im Rezept nach. Es liegt neben dir.“
Zwei Minuten später: „Mist, den Fisch kann man nicht halbieren.“
„Dann mach doch mal das Dressing für den Salat. Das Rezept steht unten links auf dem Zettel.“
Mein Vater liest, greift nach einer Zitrone und wäscht sie gründlich. Nachdem ich ihm Küchenreibe und Saftpresse aus dem Schrank geholt habe, reibt er die Schale ab und presst die Zitrone aus. Er arbeitet sich durch das Rezept und würzt mit Zucker, Salz und Pfeffer, die ich ihm auf Nachfrage hingestellt hatte, nach.
„Hast du noch mehr Zucker?“ fragt er. Ich runzele die Stirn: „War das nicht genug?“
„Nee, das ist zu sauer. Honig geht aber auch.“ Ich gebe ihm den Honig.
Kurze Zeit später brutzelt der Fisch auf dem Herd.
„Achte auf die Temperatur, nicht zu heiß“, warne ich.
„Hallo, das mache ich mindestens einmal in der Woche“, antwortet der Kenner leicht empört. „Wie ich Fisch brate, musst du mir wirklich nicht erklären.“
Zwei Minuten später lautes Gefluche vom Herd: „Ach, so ein Mist!“ Mit einem Pfannenwender versucht mein Vater, den angebratenen Fisch vom Boden zu kratzen. „Das ist aber auch eine Sch… Pfanne! Die kannst du am besten gleich wegschmeißen! Diese Alu-Dinger taugen nichts. Ihr braucht eine aus Gusseisen.“
Kurz darauf sind wir fast fertig. Der Fisch liegt beinahe ganz und ohne Haut auf dem Teller. Als ich ihn mit dem Zitronenabrieb garnieren will, suche ich diesen vergeblich. „Der ist im Kartoffelsalat,“ gesteht mein Vater kleinlaut, um im nächsten Moment inbrünstig fortzufahren: „Aber mit dem Honig schmeckt man das gar nicht.“ Guerilla-Freestyler am Herd. Jamie Oliver würde vor Neid erblassen.
Meine Kinder kommen zum Abendessen. „Juhu, es gibt Kartoffelsalat!“ Nach der ersten Gabel verziehen sie das Gesicht. „Das ist voll sauer, das esse ich nicht“, sagt unser Sohn und unsere Tochter meint einfach nur: „Bäh!“ Zum Glück habe ich zwischendurch Fischstäbchen in den Ofen geschoben. Und mich ansonsten zurückgehalten. Denn ob es leicht fällt oder nicht: Es ist wirklich manchmal das Beste, auf die Erfahrung der Großeltern zu setzen.
Den Beweis erbringt mein Vater am nächsten Tag. Er hat sein Werkzeug aus dem Kofferraum geholt: Spritzbeutel unterschiedlicher Größe mit verschiedenen Aufsätzen und als Krönung einen Fleischwolf, der noch nie zu seinem ursprünglichen Zweck benutzt wurde. Zudem legt er leicht feierlich ein dunkelblaues Mäppchen auf die Anrichte, in dem in Klarsichtfolien verpackte Zettel stecken. Sie sind handbeschrieben und leicht vergilbt. Vorsichtig holt er ein paar dieser Blätter heraus und setzt seine Brille auf.
Unser Wohnzimmertisch wird zur Arbeitsplatte. In den nächsten Stunden arbeitet mein Vater hoch konzentriert. Aus allerbestem Mehl, Nüssen und Kakao bereitet er mehrere Teige vor. Sie haben unterschiedliche Farben, von beige bis dunkelbraun. Mit Hilfe seiner Werkzeuge und zum größten Vergnügen meiner Kinder formt ihr Großvater aus dem Teig Plätzchen in verschiedenen Formen. Jedes für sich ein kleines Kunstwerk aus Mehl, Wasser und Zucker. Der Fleischwolf kommt bei einem besonders festen (und extrem leckeren) Teig zum Einsatz, den man nicht durch die Spritzbeutel pressen kann. Zum Schluss bekommen einige Plätzchen eine Schokoladenglasur und einen Überzug aus Puderzucker. Meine Tochter garniert ein paar Kekse mit knallbunten Einhörnern aus Zucker und Farbstoff. Sie ist begeistert. Am Ende sind zwei große Dosen bis zum Rand voll mit Weihnachtsplätzchen. Das ganze Haus riecht danach und ich denke an meine Kindheit. Die Kinder probieren begeistert, mein Vater lächelt zufrieden und schweigt. Beim Aufräumen helfe ich ihm. Die handbeschriebenen Zettel heftet er sorgfältig wieder in die dunkelblaue Mappe.
Ich hoffe, im nächsten Jahr schafft mein Vater es eher zu kommen. Er peilt das Frühjahr an. Und dann wird wieder gekocht! Die Pfanne habe ich weggeworfen und eine aus Gusseisen besorgt.