Lara konnte Zahlen noch nie leiden. Das fiel schon im Kindergarten auf. Die Vorschultage fand sie doof, besonders die, an denen sich die angehenden Erstklässler mit Zahlen beschäftigen sollten. Buchstaben und Geschichten bedeuteten dagegen für sie die Welt. Die Natur hat meine Tochter mit vielen schönen Gaben ausgestattet: Lara ist wahnsinnig kreativ und fantasievoll, empathisch und wissbegierig. Sie dachte sich schon als Kind mit Vorliebe ihre eigenen Geschichten aus und veranstaltete dann für die anderen Kinder im Kindergarten ein Puppentheater.
Mit Schuleintritt wurde schnell deutlich, wie sehr Lara mit den Zahlen auf dem Kriegsfuß stand. Während sie Lesen und Schreiben als Bereicherung empfand, weil sie nun all die Geschichten in ihrem Kopf selbst aufschreiben und sich nun regelrecht durch die Bücherregale der Stadtbücherei fressen konnte, bereitete ihr das Rechnen dagegen eine Qual. Ich versuchte ihr bei den Hausaufgaben zu helfen und war sehr oft sehr ungeduldig. Manchmal fühlte ich mich von ihr verschaukelt. „Verdammt noch mal! Jetzt hör endlich richtig zu! Das müsstest Du doch langsam verstanden haben!“, schimpfte ich. Aber Lara verstand nicht. „Ich bin dumm. Ein richtig dummes Mädchen“, sagte sie nicht nur einmal unter Tränen. Das brach mir damals das Herz und ich fing an mir Vorwürfe zu machen. Warum war ich nicht geduldiger mit ihr? Warum schaffte ich es nicht, ihr alles so zu erklären, dass es endlich hängenblieb? Und warum zum Teufel saßen wir schon wieder eineinhalb Stunden an den Mathe-Hausaufgaben einer 2. Klasse? Das konnte doch nicht normal sein?
Fehlende frühkindliche Förderung oder genetische Veranlagung?
Die Situation belastete mich, Lara und vor allen Dingen unser Verhältnis zueinander. Machte ich etwas falsch? Lag es daran, dass Lara noch so gerne spielte und anfangs lieber im Kindergarten geblieben wäre statt eingeschult zu werden? Hätte ich konsequenter auf Vorschulspiele bestehen oder frühzeitiger Abzählreime in unseren Alltag integrieren sollen?! Eine Mutter aus der Grundschule hat in diesem Kontext einmal tatsächlich zu mir gesagt: „Kinder, die viel schaukeln, sind gut in Mathe.“ Dieser Kommentar ließ mich ratlos zurück. Lara war mit ihrer Schaukel in unserem Garten verwachsen. Sie hat exzessiv und oft stundenlang geschaukelt: Kopf über, in der Hocke, stehend und „bis in den Himmel“. Hat anscheinend dennoch nicht so richtig funktioniert. Außenstehende, die selbst nicht drinstecken, können mit ungefragten Ratschlägen und Kommentaren sehr verletzend sein. Dabei suchen wir Eltern sowieso schon von selbst die Fehler bei uns, wenn es dem Kind nicht gut geht oder sie sich nicht exakt in der Norm entwickeln.
Ich sah plötzlich auch die Aussage meines Mannes, seine jüngere Schwester und er wären in der Schule auch kein Mathegenies gewesen, mit anderen Augen. Mir fiel auf, dass mein Mann vorteilhaftes Rechen, das ich wie selbstverständlich anwende (und ich würde meine eigene mathematische Begabung maximal im Mittelfeld ansiedeln), überhaupt nicht nachvollziehen konnte und genervt abwinkte, wenn ich nachhakte. Die jüngere Schwester meines Mannes erzählte mir, wie sie sich durchs Abitur boxen musste: „Ich stand in Mathe zwischendurch 6. Irgendwann fand ich einen netten Nachhilfe-Studenten, der es schaffte, mich für die Klausuren so gut vorzubereiten, dass es bis zum Abi einigermaßen hinhaute. Ich habe mir den Stoff für die Klausur reingepaukt und danach wieder vergessen.“
Mich beruhigte, dass man auf Anhieb weder bei meinem Mann noch bei meiner Schwägerin auf den Gedanken käme, einer der beiden würde an einer Rechenschwäche leiden. „Es wurde für mich später verständlicher und nachvollziehbar, als ich älter wurde, ich kaufmännischer dachte und Mathematik praktischer anwendete. Den komplizierten Formelkram braucht man später ja gar nicht mehr“, sagt mein Mann. Auch meine Schwägerin arbeitet heute in einem kaufmännischen Beruf.
In einem gewissen Rahmen wächst sich eine Rechenschwäche, je nach Schweregrad, zwar nicht unbedingt raus, aber ein durchschnittlich intelligenter Mensch findet seine eigenen Wege und Strategien im Alltag damit zurechtzukommen. So auch mein Mann, der heute noch (er behauptet rein aus Bequemlichkeit) vorzugsweise mit Scheinen bezahlt und regelmäßig die vielen kleinen Münzen in den Münzautomaten im Einkaufszentrum wirft, damit sein Portemonnaie nicht aus allen Nähten platzt. Er liebt seine Kalkulationen und seinen besten Freund, den Taschenrechner. Und wenn er doch mal etwas ohne Taschenrechner rechnen muss, arbeitet er mit groben Überschlägen. „Ich probiere auch oft rum, bis das Ergebnis plausibel ist“, erklärt er.
Da es damals auffällig war, dass Laras Probleme nur in Mathe auftraten und sie seelisch immer mehr litt, riet ihre Klassenlehrerin dazu, sie auf Dyskalkulie testen zu lassen. Die Tests beim Schulpsychologischen Dienst machten schnell deutlich, dass wir richtig lagen. Doch im Gegensatz zur Lese-Rechtschreibschwäche gibt es in NRW keinen Erlass für Dyskalkulie. Man schätzt, dass etwa 5-7 % der Weltbevölkerung von der Rechenschwäche betroffen sind und – wenn man es genau nimmt – damit hängengelassen werden. Die Erkenntnis „Ihr Kind leidet an einer Dyskalkulie“ bringt einem nur Gewissheit und die Aufforderung aktiv anzusetzen, aber keine unmittelbare Hilfe. Die Finanzierung der Therapie beim Jugendamt einzufordern gestaltet sich schwierig und erfordert weitere Tests, die sensible Kinder wiederum seelisch belasten können. Die meisten betroffenen Familien bleiben auf den nicht unerheblichen Kosten für eine außerschulische Förderung sitzen.
Auch wir verzichteten auf diesen Weg und buchten auf eigene Rechnung Therapiesitzungen direkt beim Schulpsychologischen Dienst. Dennoch hatte Lara das Gefühl „therapiert“, „krank“ und „nicht normal“ zu sein. Sie war vor und während der Termine angespannt und aufgeregt, obwohl die junge Psychologin nett und geduldig mit ihr arbeitete. Also las ich mich selbst in die Thematik ein, ließ Lara die Klasse freiwillig wiederholen, um ihr nach all den nervenaufreibenden und unschönen Monaten Luft zu verschaffen, und besorgte eigene Lern-Materialien. Ihre neue Klassenlehrerin zeigte viel Verständnis und ich half Lara zu Hause konsequent und mit viel Zeitaufwand bei den Mathehausaufgaben und vor den Arbeiten. Mit dieser Methode kam Lara gut durch die Grundschulzeit und konnte sich auf einer 3 in Mathe halten, in der vierten Klasse schaffte sie sogar eine 2 auf dem Zeugnis.
Mit Matheschwäche auf ein Gymnasium?
Natürlich haben wir uns damals gefragt, ob wir den Sprung auf ein G8-Gymnasium überhaupt wagen können, steckte in Laras Mathenote doch so viel Fleiß und Schweiß. Wir wussten, auf dem Gymnasium würde und könnte man keine Rücksicht auf ihre Schwäche nehmen. Auch wollten wir in der neuen Schule keine großen Wellen schlagen. Die Lehrer sollten sich ein unbelastetes und vorurteilsfreies Bild von Lara bilden und sie nicht sofort in eine Schublade stecken. Viele Lehrer können nach wie vor mit der Diagnose „Dyskalkulie“ nichts anfangen und schon gar nicht arbeiten, da unser Schulsystem ihnen auch wenig bis gar keinen Spielraum erlaubt. Wer sich nun fragt, was ein Kind mit einer Rechenschwäche auf dem Gymnasium zu suchen hat, dem stelle ich gerne die Gegenfrage: Warum sollte diesen Kindern der direkte Weg zum Abitur verschlossen bleiben, wenn sie ansonsten intelligent und geeignet für diese Schulform sind? Lara ging mit einem Notendurchschnitt von 1,7 von der Grundschule ab. Sie war es bereits gewohnt hart für ihre (Mathe-)Note zu arbeiten. Der Übergang auf das Gymnasium fiel Lara im Vergleich zu ihrer jüngeren Schwester Maya, der auf der Grundschule alles zuflog und die später erst einmal lernen musste intensiv zu lernen, viel leichter. Dennoch hatten wir uns mit Lara neben zwei Gymnasien auch zwei Gesamtschulen und eine Realschule angeschaut. „Du wirst immer sehr fleißig in Mathe und auch in den anderen naturwissenschaftlichen Fächern sein müssen“, sagte ich damals, als Lara sich sehr selbstbewusst für ihre Wunschschule, ein Gymnasium, entschied. Also wagten wir den Schritt.
In der Unterstufe achtete ich peinlich darauf, dass Lara ihre Mathe-Hausaufgaben ordentlich, vollständig und korrekt anfertigte und kaute jeden Schritt mit ihr durch. Dadurch punktete sie mündlich, wenn sie die Hausaufgaben im Unterricht anschließend präsentieren konnte. So fiel ihre Schwäche erst einmal nicht auf. Ihr Mathelehrer der 5. Klasse hielt mich anfangs für eine überengagierte Mutter, die Bestnoten von ihrer Tochter forderte, als ich am ersten Elternsprechtag vorsichtig erwähnte, dass Lara in Mathe recht schwach auf der Brust ist und viel üben müsste. Ihm war aufgefallen, dass Lara vor Mathe-Arbeiten extrem nervös wirkte. Doch im Laufe der Zeit wurde jedem Mathelehrer, der Lara in den nächsten Jahren unterrichtete, klar, wie sehr sie kämpfen muss.
Kein Nachteilsausgleich für Schüler mit Dyskalkulie
Lara boxte sich (je nach Thema) mit mal mehr und mal weniger großen Mathe-Problemen, meiner Hilfe und externer Nachhilfe durch die Unter- und Mittelstufe, ohne Nachteilsausgleich oder sonstige Sonderbehandlung von Seiten der Schule. Nun besucht sie die 10. Klasse des G-8-Gymnasiums. Die EF, die Einführungsphase vor Eintritt in die zweijährige Qualifikationsphase, bedeutet nicht nur durch Covid-19, den massiven Homeschooling-Phasen und den vielen neuen Kursen ein besonderes und schwieriges Jahr für Lara. Sie ist sechzehn. Ein Teenager, dem viele Dinge auf der Seele lasten, nicht nur der Schuldruck. Dieses Schuljahr stellt für sie – in erster Linie durch das Fach Mathe – eine echte Belastungsprobe dar. Das Schulministerium NRW vertritt übrigens zur gymnasialen Oberstufe eine ganz klare Haltung: Rechenschwäche kann in Nordrhein-Westfalen im Einklang mit den Regelungen der Kultusministerkonferenz grundsätzlich nicht im Rahmen eines Nachteilsausgleichs berücksichtigt werden. Man ist also der Meinung, dass spätestens in der Oberstufe eine Dyskalkulie „geheilt“ bzw. „austherapiert“ sein muss.
Eine genaue Idee, wohin es nach dem Abi für sie gehen könnte, hat Lara noch nicht und zu intensiv möchte sie darüber auch gar nicht nachdenken. Aber ich wünsche mir, dass sie eine Richtung einschlägt, die ihren Fähigkeiten und Interessen gerecht wird und ihr so viele Türen wie möglich offenstehen, auch die eines Studiums. Ich wünsche mir, dass sie auf der letzten, schwierigsten Etappe nicht über Umwege und Schulwechsel zum Abitur gelangen muss oder womöglich aufgibt und sich irgendwann halbherzig in irgendeine Ausbildung stürzt, die ihr gar keinen Spaß macht.
Es stimmt mich traurig, wenn sie nun immer häufiger frustriert sagt, sie wäre zu blöd für alles. Ein anderes Mal gibt sie sich wieder betont gleichgültig und cool, um sich selbst zu schützen. Die Psychologin, die uns damals betreut hat und mit der ich lose in Kontakt stehe, hat mir geraten, Lara klarzumachen, dass es allein ihrem Fleiß und ihrer Intelligenz zu verdanken ist, dass sie es trotz ihrer Rechenschwäche bis in die Oberstufe geschafft hat. „Von zu blöd für alles“ ist sie sehr weit entfernt, aber ich verstehe ihre momentane Gefühlslage. Ich hoffe, sie kämpft weiter, denn Aufgeben stellt im Leben immer die schlechteste Option dar.
Und irgendwann, da bin ich mir sogar ziemlich sicher, wird Lara – weit weg von quadratischen Funktionen und Gleichungen – ihren Frieden mit den Zahlen schließen.