„Sie hieß Cordula Grün.
Ich hab‘ sie tanzen gesehen…“
Unser Regional-Radiosender beglückt seine Hörer heute nonstop mit Karnevals- und Partymusik. Gerade laufen Die Draufgänger mit Cordula Grün. Ich wechsele den Sender. Für dieses Musikgenre benötige ich die richtige Stimmung oder einen gewissen Alkoholpegel. Hat es eigentlich noch keiner mitbekommen? Karneval fällt aus! Mir ist das eigentlich egal. Ich bin mit meinem Mann und den Mädchen die letzten Jahre während der dollen Tage lieber in den Kurzurlaub gefahren. Doch 2020 trat meine Tochter Lara in den Streik. Sie wollte zu Hause bleiben, um den Straßenkarneval ausgiebig mit ihren Freunden zu feiern. Nach einer heftigen Diskussion („Wir lassen eine Fünfzehnjährige auf gar keinen Fall über die Karnevalstage alleine zu Hause“) setzte Lara sich schließlich durch. Wir blieben ihr zuliebe daheim. Lara feierte so ausgelassen, dass wir Aschermittwoch drei Kreuze schlugen, als alles überstanden war und wir wieder ruhig schlafen konnten.
2021: Kein Februar-Kurzurlaub für uns und auch kein Karneval für Lara. Zumindest können wir beruhigt schlafen. Es besteht keine Gefahr, dass sich meine Tochter leicht bekleidet bei eisigen Temperaturen den Tod holt, weil die Feiglinge sie von innen so schön wärmen und sie die Kälte nicht spürt, nicht mal, wenn sie nicht mehr aufstehen kann. Sie wird das Wochenende brav zu Hause verbringen und sich die Langeweile schon irgendwie vertreiben.
Oft leistet ihr Freundin Gina beim Vertreiben der Langeweile Gesellschaft. „Weißt du, dass Gina und ich inzwischen die einzigen Singles in unserem Freundeskreis sind?“, fragte Lara letztens. Ich hatte meine Tochter auch schon darauf angesprochen. Der Lockdown eignet sich doch hervorragend für die erste große Liebe. Der Freundeskreis kann einem kein schlechtes Gewissen machen, dass man mit dem Liebsten abgetaucht ist, denn die Regierung liefert das perfekte Argument: Während des Lockdowns ist ein Treffen nur mit einer einzigen nicht dem Haushalt angehörenden Person erlaubt. Beste Voraussetzung also für intensive Zeit zu zweit mit langen, romantischen Wald-Spaziergängen und anschließendem Filmabend, eng aneinander gekuschelt unter einer Decke. Aber Lara hatte erwidert, sie würde es doch reichlich übertrieben finden, sich aus purer Langeweile einen Freund anzuschaffen. Und außerdem wüsste sie nicht, wo sie mal so eben einen passenden Typen herzaubern sollte.
Also ist ihre Freundin Gina meist „die nicht dem festen Haushalt angehörende eine Person“. Gina zählt praktisch zur Familie. Sie übernachtet häufig bei uns und veranstaltet mit Lara DVD-Nächte. Sie saß in der Vorweihnachtszeit mit uns bei Grillwürstchen und Glühwein an der Feuertonne im Garten, backte mit uns Weihnachtsplätzchen und feierte Silvester mit uns. An diesem letzten Abend des Jahres taten mir die Mädchen besonders leid. Statt aufgebrezelt auf der coolsten Party ever aufzuschlagen, hockten sie mit meinem Mann, Maya (13) und mir am Küchentisch, nippten zivilisiert an ihrem Hugo-Cocktail und spielten mit uns Therapie – ein uraltes Spiel aus meiner Jugendzeit. Ich hätte mir für zwei Sechzehnjährige wirklich einen spektakuläreren Jahresausklang gewünscht!
Und daher überlege ich nicht lange, als Lara mich fragt: „Spielen Papa und Du mit mir und Gina heute Abend eine Runde Beer-Pong? Gina und ich wollen im Keller ein bisschen feiern und Musik hören.“ Ich weiß zwar nur, dass dieses Spiel etwas mit Bechern, einem Tisch und Bier zu tun hat, stimme aber sofort zu. Meine sechzehnjährige Tochter will Zeit mit ihren Eltern verbringen! An Karneval! Ich wische mir gerührt eine Träne aus dem Auge und versuche auszublenden, dass sie unsere Anwesenheit nur aus totaler Alternativlosigkeit in Betracht zieht. Lara hat in den letzten Tagen wiederholt nachgebohrt „ob es wirklich total verboten ist ein paar wenige – wirklich nur ein paar – Freunde in den Keller einzuladen, um mit sehr viel Abstand zur Karnevalsmusik zu schunkeln und dabei ganz diszipliniert ein oder maximal zwei Bier zu trinken.“ Da wir ihr diese Frage mit „Ja, total verboten“, beantworten mussten, versuchen Lara und Gina nun, wie schon das gesamte Jahr über, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Und irgendjemand muss ja den Alkohol und die Knabbereien bezahlen und die Tischtennisplatte aus dem Garten durch den Schnee schleppen.
Kurz darauf finden mein Mann und ich uns mit Lara im Supermarkt wieder. Gutgelaunt geht sie ihre Einkaufsliste in ihrem Smartphone durch, rennt durch die Gänge und schmeißt neben Chips und Süßigkeiten auch Bio-Erdnusscreme, Mandelmilch, Avocados und kiloweise Beeren und Bananen in unseren Einkaufswagen. Lara ist in den letzten Monaten zur experimentierfreudigen Superköchin geworden: Egal ob healthy und sugarfree Banana-Pancakes, Gemüse-Pasta, Good Life Salad Bowl oder Beeren-Smoothies, Lara ist kein Rezept zu kompliziert.
In der Getränkeabteilung fachsimpeln wir ausgiebig und einigen uns schließlich auf eine Biersorte mit Tequila-Aroma und eine Flasche Malibu, weil Lara behauptet, Malibu mit Arizona Iced Tea gehört einfach zu jeder richtig angesagten, coolen Party. Und cool muss unser Abend natürlich auf jeden Fall werden! Für Maya kaufen wir Kindersekt und Cola. Als wir mit unserem überladenen Einkaufswagen an der Kasse stehen und der dreistellige Betrag angezeigt wird, zucken mein Mann und ich nicht einmal mit der Wimper.
Einkaufen stellt im Moment unsere einzige Luxusbeschäftigung dar. Wir schaffen es momentan nicht, uns auf das Notwendigste zu beschränken. „Sollen wir uns eine neue Waage kaufen? Meine ist bestimmt schon fünfundzwanzig Jahr alt“, schlug ich meinem Mann beim letzten Einkauf vor. „Wozu? Die alte tut doch noch, was sie soll. Sie zeigt dir deine Kilos an.“ Ich seufzte und antworte: „Hast ja recht“, und kaufte stattdessen sechs schwarze Buchstützen, die ich genauso wenig brauchte wie eine neue Waage, und die nun nutzlos bei uns rumfliegen. Daher kommt mir unser Karnevals-Party-Einkauf mit einer echten Mission heute genau richtig. Ich war schon mindestens drei Tage nicht mehr im Supermarkt!
Um sechs Uhr klingelt Gina und erzählt, sie hätte zu Hause schon Rotz und Wasser über das verlorene Karnevalswochenende geheult. Sie beginnt mit Lara auszurechnen, wie viele Karnevals-Sausen sie wohl in ihren (jungen) Leben noch maximal feiern können, bevor sie alt werden und der Spaß vorbei sein wird. Mein Mann hat bei einem Kollegen einen Beer-Pong-Tisch aufgetrieben und freiwillig den Keller aufgeräumt. Ich stelle die Wäschekörbe zur Seite, Maya sorgt mit der Discokugel für stimmungsvolle Beleuchtung und Lara holt die Lautsprecherbox. Beer-Pong ist schnell erklärt und nicht gerade coronakonform, aber wir sind ja unter uns: Pro Mannschaft füllt man zehn Plastik-Becher zu einem Viertel mit Bier und plaziert sie, ähnlich wie beim Billard, zu einem Dreieck an die beiden Tischenden. Die Mannschaften – mein Mann und ich treten mit Mayas Unterstützung gegen Lara und Gina an – versuchen nun abwechselnd, einen Tischtennisball in die Becher der Gegenmannschaft zu versenken. Gelingt dies, heißt es: Becher austrinken.
Natürlich sind mein Mann und ich kein Ersatz für Ginas und Laras Freunde. Genauso wenig wie unsere Mini-Sause auch nur ansatzweise mit dem normalerweise stattfindenden, jecken Trubel auf der Straße mithalten kann. Aber ich bin froh, dass die Mädchen sich nicht komplett die Laune verderben lassen.
Als Lara fünf Jahre alt war, bekam sie kurz vor Karneval die Windpocken und die Mädchen musste in Quarantäne. Lara war damals unsagbar traurig, dass die große, bunte Karnevalsparty im Kindergarten und der Rosenmontagszug für sie ausfiel. Ich kaufte Berliner, Popcorn und Getränke, verteilte Luftschlangen im Keller, Lara und Maya verkleideten sich, spielten und tanzten zur Karnevalsmusik. Damals tröstete ich sie mit dem gleichen Satz, den ich auch heute von mir gebe: „Nächstes Jahr ist wieder Karneval und dann feiert ihr für dieses Jahr einfach doppelt mit.“ Im Nachhinein bin ich froh, dass Lara sich letztes Jahr durchsetzen und Karneval auf den Putz hauen konnte, so wie es Jugendliche nun mal tun. Wer hätte denn ahnen können, dass wir dieses Jahr alle so ausgebremst werden würden?!
Und unsere kleine Beer-Pong-Party? Ich verrate nur so viel: Nach dem dritten Match singe ich lauthals und freiwillig „Cordula Grün“ und „Ich bin ne Räuber“ von De Höhner mit.
Helau und Alaaf, ihr Jecken da draußen!