Am Wochenende habe ich mein Familien-Fotobuch für 2020 zusammengestellt. Es ist recht dünn ausgefallen. Unser Fotobuch von 2019 dagegen – vollgepackt mit schönen Dingen, die wir unternommen und erlebt haben – kommt mir wie ein Relikt aus einer längst vergessenen Zeit vor.
Jugend mit angezogener Handbremse
Seit gut einem Jahr beschäftigt uns das Virus. Lara wurde im Frühjahr 2020, kurz vor dem ersten Lockdown, sechzehn. Ich erzählte damals in meinem Beitrag „Waren wir etwa auch so leichtsinnig“, wie sehr sie sich auf dieses besondere Lebensjahr freute. Um den Anlass gebührend zu feiern, plante sie für den Hochsommer eine große Gartenparty. Aber es kam bekanntlich anders. Die große Sause konnte bis heute nicht stattfinden. Inzwischen ist Lara siebzehn, und ihre Jugend verläuft mit angezogener Handbremse.
Auf die Frage, wie sie ihr letztes Lebensjahr empfunden hat, erwidert sie: „Och, der Sommer war eigentlich okay.“ Die Inzidenzwerte waren niedrig, das öffentliche Leben lief nach dem ersten Lockdown wieder an, Lara war oft im Schwimmbad und mit Freunden unterwegs. Sie genoss den Familienurlaub auf Kreta, zu dem sie sich ursprünglich nur widerwillig hatte überreden lassen. Wir verbrachten zwei Wochen in unserer Familien-Blase in einem kleinen Hotel ohne Action. Die Abende bestanden aus Cocktail-Trinken mit den Eltern und der kleinen Schwester, alleine am Strand sitzen und mit den Freunden in der Heimat telefonieren. Kein Urlaub, den sich Sechzehnjährige unter normalen Umständen wünschen würden. Lara erging es wie den vielen anderen Jugendlichen, die sich auf ihre erste Reise ohne Eltern, auf den Auslandsaustausch oder die Work-and-Travel Monate gefreut hatten und ihre Pläne auf ungewisse Zeit verschieben mussten.
Seit November hocken wir gefühlt 24/7 zu Hause. Wir haben versucht, das Beste aus den dunklen und endlos langen Monaten zu machen. Mit Kochen. Mit Backen. Mit Renovierungen im Haus. Aber langsam gehen uns die Projekte aus, und die Stimmung ist zunehmend gereizter. Wir verbringen zu viel Zeit miteinander und können uns nur schwer aus dem Weg gehen.
Mir macht es als Endvierzigerin wenig aus, mein Wochenende mit einem Glas Wein vor der Glotze zu verbringen, auch wenn mir das kulturelle Leben und die Abwechslung abgeht. Als junger Mensch kam mir jedes Wochenende ohne Action und jeder Tag ohne meine Freunde wie eine Bestrafung vor. Nun hockt eine ganze Generation zu Hause, weil Festivals, Konzerte, Geburtstagspartys und alles, was in diesem Alter so verdammt viel Spaß macht und unbedingt zum Erwachsenwerden dazugehört, verboten sind.
Manche Dinge lassen sich nicht nachholen. Wie traurig, dass sich viele junge Leute später ausschließlich an die stressige Zeit vor ihren Schul- oder Berufsabschlüssen und ihren Prüfungen erinnern werden, nicht aber an das große Befreiungsgefühl und die verdienten festlichen Feiern danach, weil die wegen eines blöden Virus nicht stattfinden durften.
Auf Facebook taucht in regelmäßigen Abständen ein Post auf, der mich inzwischen unsagbar nervt. Er beginnt mit: „Stell dir für einen Moment vor, du wärst im Jahr 1900 geboren. Wenn du 14 Jahre alt bist, beginnt der 1. Weltkrieg. Er endet nach 4 Jahren, wenn du 18 bist. Mit 22 Millionen Toten weltweit…“ Klar, schlimmer geht immer. Die meisten, die diesen Post teilen oder liken, sind Leute meiner Generation, die selbst keinen Krieg erleben mussten und ihre (schöne?) Jugend bereits hinter sich haben.
Homeschooling: Dresscode Schlafanzug
Ich würde uns zu den privilegierten Familien zählen, die das Homeschooling unter optimalen Bedingungen wuppen können. Meine Mädchen sind mit dreizehn und siebzehn „aus dem Gröbsten raus“. Wir besitzen ein Haus und jedes Mädchen sein eigenes Zimmer. Wir sind digital ausgerüstet. Lara hat zum Sechzehnten einen neuen Laptop bekommen. Für Maya habe ich meinen PC-Arbeitsplatz im Wohnzimmer geräumt und sitze seitdem mit meinem Laptop in der Küche. Unser Gymnasium arbeitet mit Microsoft Teams, das technisch von Anfang an einwandfrei lief. Nach der ersten holprigen Homeschooling-Phase hat die Schule ihre Hausaufgaben gemacht. Der Unterricht ist im Großen und Ganzen, den Umständen entsprechend, gut organisiert.
Ich bin weder Krankenpflegerin, die Doppelschichten schiebt, noch alleinerziehende Kassiererin, die morgens mit schlechtem Gewissen ihr Kind alleine vor den PC sitzen lassen muss. Ich bin es gewohnt, im Homeoffice zu arbeiten. Mein Mann verlässt jeden Morgen das Haus, um zur Arbeit zu gehen. Die Pandemie hat uns wirtschaftlich bisher nicht direkt geschadet. Ich koche jeden Tag. Ich bin für die Mädchen jederzeit ansprechbar. Ich helfe Maya, wenn der PC spinnt, der Ausdruck im Drucker hängenbleibt oder sie mit der PowerPoint-Präsentation nicht klarkommt. Ich schieße den Großteil des Mathestoffs der Mittelstufe aus der Hüfte und bin in Englisch einigermaßen fit.
Mir ist bewusst, dass sich die Pandemie und das Homeschooling für viele Familien sehr viel problematischer darstellt. In erster Linie werden Kinder aus bildungsfernen Familien noch sehr, sehr lange das Nachsehen haben. Und doch gehen selbst Leute wie wir, denen es unter diesen Umständen denkbar gut geht, inzwischen auf dem Zahnfleisch. Es war kein normales Schuljahr! Während in den unteren Klassen der verlorene Stoff bestimmt aufgeholt werden kann, so ist es für Lara in der 10. Klasse des G8-Gymnasiums schwierig. Sie ist im letzten Jahr gleich in mehreren Fächern um eine Note abgerutscht. „Mir tut das Homeschooling nicht gut“, gibt Lara selbst zu. „Dieses Rumlungern zu Hause macht mich lahm. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich motivieren und aus dem Bett kommen soll.“ Deswegen blieb sie die letzten Wochen morgens einfach liegen, schnappte sich ihren Laptop und wartete, bis sie sich wach genug zum Aufstehen fühlte.
Den Mädchen fehlt der alltägliche, morgendliche Stress, die Fahrt mit dem Rad zur Schule, auf der sie wach werden und ihr Kreislauf in Schwung kommt. Der Austausch mit den Freunden. Ein Ausgleich zum Schulstress, körperlich wie seelisch. Besonders Maya, die normalerweise fast schon gruselig diszipliniert ist und am Anfang der Pandemie wie ein Uhrwerk funktionierte, setzt die Situation immer mehr zu. Sie wirkt von Tag zu Tag mut- und lustloser. Auf ihr Sportprogramm, das sie letztes Jahr noch konsequent und fast täglich durchzog, verspürt sie kaum noch Lust. Zog sie sich anfänglich während des Homeschoolings morgens nach dem Frühstück sofort an und setzte sich dann kerzengerade vor den PC, so läuft sie inzwischen bis nachmittags im Schlafanzug rum.
Immer häufiger ertappe ich sie, wie sie abwesend vor dem Computer sitzt und mit irgendetwas rumspielt: „Ich kann nicht mehr stundenlang auf diesen blöden Bildschirm starren. Es ist so anstrengend! Ständig hat einer aus meiner Klasse Verbindungsprobleme, oder man versteht die Hälfte der Schüler akustisch nicht. Das crasht den Unterricht. Manche machen es inzwischen extra und behaupten einfach nur, sie können ihre Stummschaltung nicht aufheben.“ Den Lehrern geht es nicht besser: „Mir fehlen eure Gesichter, an denen ich ablesen kann, ob ihr wirklich versteht, was ich euch erkläre“, beschrieb letztens Mayas Mathelehrerin ihre Situation.
Nun wurde in dieser Woche der Präsenzunterricht für die Klasse 5 bis 10 wieder aufgenommen. Meine Töchter haben bis zu den Osterferien Wechselunterricht. Das bedeutet, fünf Tage Unterricht in der Schule und fünf Tage selbständiges Arbeiten alleine von zu Hause aus, ohne Videokonferenzen. Immerhin, der erste Schultag des Präsenzunterrichts fühlte sich für uns alle wunderbar normal an. Selbst Lara schwang ihre Beine morgens mühelos aus dem Bett.
Am liebsten würde Maya auf die Osterferien verzichten: „Was soll ich denn dann den ganzen Tag machen, wenn ich niemanden sehen darf und wir nicht wegfahren können?“, fragt sie, und ich zucke mit den Achseln, weil ich das auch nicht weiß.
Kein Raum für Mama
Unsere Küche mit Blick in den Garten ist der schönste Raum in unserem Haus. Aber nun, nach diesen vielen Monaten, sind diese vier Wände zu meinem kleinen Gefängnis geworden, in dem ich zwischen Laptop, Kühlschrank, Spüle und Herd switche und nie ganz zur Ruhe komme. Wen der Hunger quält, wer Hilfe in Mathe oder Erdkunde benötigt, den interessiert es reichlich wenig, dass Mama gerade an einem Text bastelt. Meistens bringe ich es nicht übers Herz, Maya oder Lara abzuweisen, wenn sie mich ansprechen. Doch es gibt diese Momente, in denen ich es kaum ertrage, dass schon wieder jemand meine Arbeit unterbricht, sich neben mich setzt und laustark in sein Toastbrot beißt.
Es ist mein Job als Mutter, meine Töchter in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Aber je länger die Pandemie dauert, desto schwerer fällt es mir, den Li-La-Laune-Bär und Motor für alle zu spielen und pausenlos jemanden um mich zu haben. Die Tage, an denen ich bereits morgens keine Lust auf den Tag verspüre, häufen sich inzwischen gefährlich. Wenn mein Mann am Freitagabend gut gelaunt sein Wochenende einläutet, bremse ich ihn schlechtgelaunt. Wochenende? Ende von was? Freude worauf? Manchmal bin ich regelrecht neidisch auf ihn, dass er wie gewohnt das Haus verlassen kann, während ich mich gefangen fühle und meine einzige Abwechslung aus Einkaufen und Waldspaziergängen besteht. Andererseits tut es mir leid, dass er die Launen von gleich drei schlechtgelaunten Zicken ertragen muss.
Leben in der Familienblase
Welches Fazit ziehe ich nach einem Jahr Pandemie? Ich habe festgestellt, dass wir als Familie auch (oder gerade) in Krisenzeiten gut funktionieren. Wir haben mit viel Einfallsreichtum versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Wir haben extrem viel Zeit miteinander verbracht. Dies habe ich oft als belastend empfunden, es aber mindestens genauso häufig als Geschenk angesehen. Wir haben herzhaft zusammen gelacht und uns leidenschaftlich gestritten. Ich merke, dass unsere Akkus nach der langen Zeit leer sind und wir uns alle nach Normalität, Perspektiven und Ausbruch aus der Familien-Blase sehnen. Es wird Zeit, die Handbremse zu lösen. Doch die klemmt leider noch extrem.