Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Wenn (nur noch) Neymar beim Lesen hilft

Nicht für jedes Kind ist es attraktiv, Lesen zwischen zwei Buchdeckeln zu lernen. Für manchen ist auch „Bravo Sport“ ein guter Einstieg.

Theo kommt in der Schule ganz gut zurecht. Den Umzug von Berlin nach Bayern und den damit verbundenen Schulwechsel hat unser Sohn ohne größere Probleme hinbekommen. Auch Corona hat seine Leistungen bisher nicht geschwächt. Er beteiligt sich eifrig im Unterricht, ist immer voll dabei, auch bei den Videokonferenzen. Seine Lernerfolge in Mathe, HSU (zu meiner Schulzeit hieß das Fach Sachkunde), Englisch, Kunst und in Deutsch sind durchweg gut. Im Sommer kommt er in die vierte Klasse.

Das Einzige, was uns nicht gefällt, ist Theos Rechtschreibung. Die ist, um es mal positiv auszudrücken, äußerst kreativ. Es kommt schon vor, dass er in einem kurzen Text ein und dasselbe Wort dreimal anders schreibt. Bis jetzt ist das nicht sonderlich relevant. Weil keine Diktate mehr geschrieben werden, hat seine miese Rechtschreibung keine Auswirkungen auf die Note. Trotzdem stört es uns. Nein, um ehrlich zu sein, ich ärgere mich sehr, wenn der Junge das Wort „kann“ zweimal richtig schreibt und beim dritten Mal plötzlich nur noch mit einem „n“. Das kan(n) doch gar nicht sein!

Eine Leuchte in Rechtschreibung war ich – ehrlich gesagt – auch nicht. Ich erinnere mich, wie ich in unserer kleinen Küche saß und mir meine Mutter stundenlang Texte diktierte, nachdem ich eine vier in einem Diktat mit nach Hause brachte. Es sind keine schönen Erinnerungen. Meine Mutter hatte genauso wenig Verständnis für meine Fehler wie ich jetzt für Theos, nur ließ sie mich das auch spüren. Haben mir diese Stunden in unserer kleinen Küche letztlich wirklich geholfen, Wörter richtig zu schreiben? Ich weiß es nicht.

Dabei ist jedem klar, was wirklich hilft: nämlich lesen, lesen, lesen. Nur ist das nicht so einfach. Denn Theo hat nicht besonders viel Lust zu lesen. Ja, er macht seine Hausaufgaben und liest auch die Texte im Lesebuch. Aber darüber hinaus hat er wenig Interesse an Büchern. Warum ist das so?

Seit dem Kleinkindalter lesen wir Theo und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Frieda vor. Abends vorm Schlafengehen oder auch mal zwischendurch. Die Kinder lieben das, auch heute noch. Ab der zweiten Klasse habe ich das Buch Theo weitergegeben und er hat absatzweise vorgelesen. Das klappte nicht so gut, vor allem weil Frieda keine Gnade mit ihrem sich stockend durch die Zeilen quälenden Bruder kannte: „Oh Mann!“ seufzte sie ungeduldig, wenn Theo an einem langen Wort hängenblieb, um dann zu fragen: „Papa, kannst du bitte weiterlesen?“

Für Theo war das hart. Er wollte dann irgendwann nicht mehr vorlesen. Gut, dann sollte er eben für sich selbst schmökern. Nur was? Zunächst versuchten wir es mit den Abenteuern des kleinen Drachen Kokosnuss. Die hatte ich den Kindern vorgelesen und Theo hatte sich köstlich amüsiert dabei. Allein sprang der Funke aber nicht über. Dann vielleicht die Klassiker von Astrid Lindgren und Erich Kästner, die ich selbst verschlungen hatte: „Pippi Langstrumpf“, „Kalle Blomquist“, „Pünktchen und Anton“ und „Das doppelte Lottchen“? Nein, auch das war nichts für Theo.

Ich dachte nach. Laut meiner Mutter hatte ich plötzlich mit dem Lesen begonnen, als ich ihre Asterix-Hefte entdeckte. Na klar, Asterix und Obelix – das muss es sein! In unserem Keller stehen anderthalb Meter Comics im Regal. Aber auch da sprang der Funke nicht über. Kein Asterix, kein Lucky Luke, kein Percy Pickwick, kein Tim und kein Struppi konnten Theos Interesse wecken. Ich war enttäuscht.

Seine Schulfreunde lasen in der Zwischenzeit „Die Schule der magischen Tiere“ (da gefallen ihm die Hörbücher, immerhin), „Die drei Fragezeichen junior“ (die sind ihm zu gruselig) und sogar schon Harry Potter. Als ich mich gerade damit abfinden wollte, dass Theo vor seinem 18. Geburtstag sehr wahrscheinlich keine drei Bücher gelesen haben wird, passierte es. Eher zufällig brachte ich ihm aus dem Zeitschriftenladen eine „Bravo Sport“ mit – das ist der „Kicker“ für Kinder.

Theo liebt Fußball. Das Eis war gebrochen. „Papa, wusstest du, dass Haaland der geilste Stürmer der Welt ist? Papa, glaubst du, dass Götze noch einmal in der Nationalmannschaft spielen wird? Der ist übrigens jetzt in Eindhoven in Holland, wusstest du das? Papa, war dir klar, dass Neymar und Mbappé die besten Freunde sind?“ Solche Fragen bekomme ich täglich rund um die Uhr gestellt. Ich will aber nicht klagen, denn es hat funktioniert, der Junge liest. „Bravo Sport“ und vor allem Fußball sei Dank. Nach einem Champions-League-Spieltag bekommt das Kind jetzt am nächsten Morgen das Smartphone, liest die Spielberichte und gibt mir dann eine Zusammenfassung.

Auch das „Fifa Zocken“ auf der Spielekonsole hat eine neue Qualität. Theo managt im Karrieremodus eine Mannschaft. Er muss E-Mails lesen, beantworten, Verträge verhandeln und Spieler kaufen und verkaufen. Ob das pädagogisch fragwürdig ist, ist mir absolut Wurscht. Der Junge liest endlich. Inzwischen spielt er mit einem Softball in seinem Zimmer die Champions League nach. Er notiert die Spiele auf einem Zettel.

Unsere Geduld hat sich also ausgezahlt. Zwang oder zu viel Druck bringen gar nichts. Dem Kind zu sagen, wenn du liest, machst du weniger Fehler beim Schreiben, bringt aus meiner Erfahrung auch nicht viel. Kinder sollten Lesen und Schule trennen. Wenn ein Kind keine Lust hat, hilft es, Literatur zu einem Thema zu finden, zu dem ein generelles Interesse besteht. Eine Sportart, ein Hobby oder etwas in der Art. Irgendwann springt der Funke über. Was sich bei uns ebenso als hilfreich erwiesen hat: Man muss dem Kind immer wieder klarmachen, dass es durch die Fähigkeit zu lesen unabhängiger wird. Denn wenn man lesen kann, kann man auch entscheiden, was man liest.

In den Osterferien haben Theo und Frieda wieder einmal in einem Zimmer geschlafen. Abends hat er ihr vorgelesen. Es war ein Abenteuer des kleinen Drachen Kokosnuss. Es ging um seinen ersten Schultag in der Drachenschule. Frieda hat nicht einmal über seine Art zu lesen gemeckert. Im Sommer wird sie eingeschult. Anders als ihr Bruder wird sie eine Leseratte, da bin ich sicher.