In den Pfingstferien sind wir endlich einmal wieder nach Norddeutschland gefahren. Wir haben unsere Familien besucht. Nach über einem Jahr haben unsere Kinder ihre Großmütter wiedergesehen. Ein Fazit kann ich vorwegnehmen: Es hat sich nicht viel geändert.
Meine Mutter hat bisher vier Enkelkinder. Ein besonderes Verhältnis zu ihrer Oma hat unsere Tochter Frida (6). Vielleicht, weil Frida das einzige Mädchen unter den Enkeln ist und mit zweitem Namen wie ihre Oma heißt. Dass die beiden sich so mögen, ist schön, bleibt aber ein kleines Rätsel. Denn so oft haben sich die zwei noch nicht gesehen. Frida wurde in Berlin geboren, meine Mutter lebt über 400 Kilometer entfernt. Da sie selber nicht reist, waren es immer wir, die zu Besuch kamen. Auch jetzt, wo wir nach Franken gezogen sind.
Außerdem ging es meiner Mutter eine Weile schlecht. Sie war im Krankenhaus. Inzwischen hat sie ihr Tief überwunden, fast ohne fremde Hilfe. Sie lebt allein und hat gerade während der Pandemie keine besonders angenehme Zeit gehabt. Außerdem wird sie mit zunehmendem Alter verwirrt und vergesslich. Ob Frida und ihr Bruder Theo (8) diese Verwirrtheit mitbekommen, kann ich nur vermuten. Thematisiert haben wir das bis jetzt noch nicht. Ich denke, dass sie merken, dass mit Oma etwas seltsam ist. Sie gehen nur unterschiedlich damit um.
Auch Theo liebt meine Mutter, hat aber aus meiner Sicht ein engeres Verhältnis zu meiner Schwiegermutter, seiner anderen Oma. Vielleicht, weil er sie als Baby häufiger gesehen hat als meine Mutter. Ich erinnere mich, wie sie ihn auf einer Feier einmal stundenlang mit einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch unterhalten hat. Der Junge war wie hypnotisiert.
Mit Sicherheit hat Theos größere Zuneigung mit den Geschenken zu tun. Während meine Schwiegermutter den Kindern regelmäßig zu allen Anlässen Pakete schickt und die Kinder bei jedem Besuch etwas zum Spielen von ihr bekommen, macht meine Mutter ihnen fast nie Geschenke. Sie denkt einfach nicht daran. Vielleicht müssten wir ihr dabei etwas unter die Arme greifen.
Theo kommt mit meiner Schwiegermutter auch deshalb besser klar, weil sie aktiv mit den Kindern spiel. Oma schlüpft in andere Rollen, macht Quatsch, und alle lachen. Daran erinnert er sich zu Hause dann immer wieder gerne. „Wir müssen mal wieder zu Oma fahren, Mama“, sagt er dann. Frida ergänzt immer mit Nachdruck: „Ja, aber wir müssen auch mal wieder die andere Oma besuchen.“ Dabei schaut sie mir in die Augen und erwartet meine Bestätigung.
Vergangene Woche haben wir beide Omas besucht. Eine Woche lang quartierten wir uns auf einem kleinen Reiterhof in Norddeutschland ein. Dort halfen die Kinder jeden Morgen beim Stallausmisten und durften hinterher an der Longe reiten.
Beim ersten Wiedersehen mit meiner Mutter war die Freude riesig. Es wurde gekuschelt und gedrückt. Während sich Theo aber schnell mit seinen Cousins auf dem Trampolin vergnügte, setzte sich Frida immer wieder zu ihrer Oma und löcherte sie mit Fragen: „Hast du früher auch geritten? Hattet ihr auch einen Hund?“ Das Mädchen wollte sie integrieren. Und Oma machte mit: „Pferde hatten wir nur, wenn auf dem Feld gearbeitet wurde. Da hat mein Papa sich eins ausgeliehen, und ich durfte auf seinem Rücken sitzen. Einen Hund hatten wir aber: Der hatte kurze Beine, hellbraune Locken und hieß Wolfi.“ Frida hörte aufmerksam zu, fragte weiter und setzte irgendwann ihr Spiel fort.
Am nächsten Tag – meine Frau musste arbeiten – machten Theo, Frida, meine Mutter und ich einen Spaziergang durch meinen Heimatort. Es war herrlich: Die Kinder tobten durch den Park, warfen Steinchen in den Teich, und Oma erzählte, dass man früher für 30 Pfennige ein Boot mieten und zur Enteninsel rüberfahren konnte. Die Kinder staunten. Frida fand eine Gänsefeder und war auf einmal Indianerin. Am Schluss gab es für die Kinder ein Eis und für Oma einen Espresso und eine Zigarette.
An den nächsten Tagen sahen wir meine Mutter regelmäßig und unternahmen etwas zusammen. Dann besuchten wir die andere Oma. Sie wohnt fast hundert Kilometer entfernt nahe der Grenze zu Holland. Meine Schwiegermutter ist eine sehr gute Gastgeberin, freut sich immer schon Tage vorher auf unseren Besuch und bereitet jede Menge zu Essen vor.
Nachmittags regnete es, darum verschoben wir das obligatorische Pizza-Essen einfach nach vorne. Dabei erinnerten wir uns mit den Kindern an die Eichenprozessionsspinner vom vorletzten Sommer, die Oma mit einem Kehrblech weggefegt hatte, und an Theos folgenden Hautausschlag. „Oh Mann, das hat gejuckt!“ rief er.
Worüber wir mit den Kindern nicht sprachen, waren die Probleme, die Sorgen, die es auch in der Familie meiner Schwiegermutter gibt. Aber immerhin sprachen wir Erwachsenen einmal offen wie noch darüber, während die Kinder unten auf der regennassen Wiese barfuß einem Ball hinterherjagten.
Am Abend begann der Regen wieder. Die Kinder saßen in Schlafanzügen und mit geputzten Zähnen auf der Rückbank und winkten Oma traurig zu, die in der Tür stand und mit den Tränen kämpfte. „Das ist ungerecht“, schimpfte Theo. „Wir sind eine ganze Woche hier im Norden und besuchen Oma nur an einem einzigen Nachmittag.“ Meine Frau und ich beschlossen, unseren nächsten Urlaub in der Heimat etwas gerechter zwischen den Omas aufzuteilen.
Die Woche ging rasend schnell vorbei. Am Abreisetag verpassten wir durch ein Missverständnis meine Mutter und konnten uns nicht von ihr verabschieden. Ich rief sie von unterwegs an und wir sagten bis zum nächsten Mal und dass ich ihr Fotos schicke.
Jedes Mal, wenn ich von ihr wegfahre, denke ich, ob ich sie beim nächsten Mal noch gesund und munter wiedersehen werde.
Unsere Omas sind unterschiedlich wie ihre Enkel. Es gibt keinen Wettbewerb, keine noch irgendwie geartete Rivalität. Bei ihren seltenen Treffen haben sie sich sehr gut verstanden. Unsere Kinder lieben die beiden, wie ein Kind seine Oma eben lieben sollte. Sie sind zwei Frauen jenseits der siebzig, mit denen es das Leben nicht immer gut gemeint hat. Ich frage mich, wann der richtige Zeitpunkt ist, mit den Kindern darüber zu sprechen. Noch ist er nicht da.