Bei uns in NRW wurden am 2. Juli die Zeugnisse ausgegeben. Noch nie habe ich das Schuljahresende so sehr herbeigesehnt wie diesen Sommer. Mit der offiziellen Verabschiedung des Schuljahres 2020/2021 setzte ich feierlich einen Schlussstrich unter eine schwierige Zeit. Das letzte halbe Jahr hat mich eine Menge Nerven und Kraft gekostet. Obwohl im Juni mit neuerlichem Start des Präsenzunterrichts und Schulausflügen ein Stück Normalität in unseren Alltag zurückgekehrt ist, habe ich die Tage bis zu den Ferien gezählt.
Wie sehr mich die letzten Monate gefordert haben, kann man zwischen den Zeilen der Briefe lesen, die ich meinen Töchtern zum Zeugnis geschrieben habe. Es ist unsere kleine Tradition: Jedes Jahr, am Tag der Zeugnisausgabe vor den Sommerferien, erwartet meine Kinder an ihrem Platz am Esstisch ein Kuchen, ein kleines Geschenk, ein paar Süßigkeiten oder besondere Schulmaterialien. Bei uns gibt es das klassische Zeugnis- oder Notengeld nicht. Ich finde nicht, dass man eine Eins oder eine Zwei mehr honorieren sollte als beispielsweise eine hart erkämpfte Drei oder Vier. Natürlich freue ich mich über gute Noten, aber viel wichtiger ist doch, dass man seinen Kindern signalisiert, wie stolz man auf sie ist, und würdigt, was sie das gesamte Schuljahr über geleistet haben. Dass man ihre Versetzung, die Empfehlung für die weiterführende Schule oder den Schulabschluss nicht als selbstverständlich hinnimmt und immer nur Bestleistungen erwartet. Kinder brauchen Anerkennung, egal, wie alt sie sind.
Daher lasse ich in einem schön gestalteten Brief jedes Schuljahr Revue passieren. So handhabe ich es seit der ersten Klasse für beide Mädchen. Anfangs habe ich auf eine große, gut lesbare Schrift geachtet und den Text mit Verzierungen und Zeichnungen versehen, altersgerecht und jeweils den Lesekenntnissen entsprechend. Später wurden die Briefe umfangreicher. Ich sage meinen Kindern, dass wir Eltern stolz auf sie sind, was in dem Schuljahr besonders schön oder schwierig für sie war, erwähne Meilensteine wie Schulwettbewerbe oder Klassenfahrten und wünsche ihnen schöne wohlverdiente Ferien.
Dieses Jahr habe ich meinen Text am PC getippt. Die Worte strömten nur so aus meinen Finger. Ich bin Schreiberling mit Leib und Seele und konnte mich noch nie besonders gut kurzhalten. Schreiben bedeutet für mich Ballast abwerfen. Auch dieses Blog hier hilft mir, Geschehnisse zu reflektieren und zu verarbeiten. Ich fühle mich befreit, wenn ich Dinge, die mich beschäftigen, niederschreiben und dann loslassen kann. Manchmal sind die Gedanken, die ich hier teile, sehr persönlich und emotional. Dann frage ich mich, ob es nicht zu viel ist, was ich von mir preisgebe. Aber dann fühle ich mich gut, es ausgesprochen zu haben. Und vielleicht geht es dem ein oder anderen ja ähnlich, und er findet sich in meinen Texten wieder.
Bei Lara lief es im ersten Halbjahr schulisch nicht sonderlich gut. Die Umstellung von der Mittel- auf die Oberstufe, in der von den Schülern des G8-Gymnasiums viel Eigeninitiative und Selbstständigkeit verlangt wird, setzte ihr zu. Sie kämpfte mit drei Fremdsprachen und ihrer Matheschwäche. Dieser Umstand, Covid19 und das Homeschooling traf sie daher mit voller Wucht. Ich hatte viele schlaflose Nächte. Ich machte mir Sorgen, weil es Lara nicht gut damit ging. Würde Lara es schaffen und vor allen Dingen wollen, das Ruder rumzureißen, oder würde sie sich komplett gehen lassen und aufgeben? Ich habe mir die Nächte mit YouTube-Videos um die Ohren geschlagen und versucht, sie in Mathe zu unterstützen. Ich habe ihr eine Nachhilfe gesucht. Ich habe mir den Mund fusselig geredet. Ich blieb an ihr dran und ließ mich nicht abwimmeln, wenn sie mir die Tür vor der Nase zuschlug. Und war froh, wenn Lara ihre Tür wieder öffnete und mich reinließ, in ihr Leben und ihre Seele.
Auch Maya brauchte mich während der Pandemie und des Homeschoolings. Eine Erklärung hier, eine Hilfestellung dort, Zuspruch, Langeweile vertreiben und Motivation da. Die Schule lief bei ihr problemärmer als bei Lara. Darüber war ich sehr froh. Aber Anfang des Jahres traten gesundheitliche Probleme auf. Eine harmlose Untersuchung zog einen Rattenschwanz nach sich. Es folgten unschöne, sehr belastende Monate, in denen ich mit Maya viele Stunden in der Klinik verbrachte. Eine OP, Maya lag bereits in Narkose, wurde abgebrochen, weil man sich am OP-Tisch über die Diagnose nicht einig wurde. Darauf folgen weitere Untersuchungen. Lange und quälende Wartezeiten auf Ergebnisse, die doch keine endgültige Klarheit brachten und daher weitere Untersuchungen erforderten. Ich lief Arztberichten hinterher. Man verwies uns in eine andere Klinik, an einen Spezialisten. Warten auf einen Termin. Schlaflose Nächte. Untersuchungen. Besprechungen. Zugfahrten. Keinerlei Ablenkung von den Sorgen, weil die Pandemie dies nicht zuließ. Die schlimmsten Osterferien meines Lebens. Zuhause sitzen und grübeln. Dem Kind seine Sorgen nicht zu sehr zeigen. Endlich eine OP. Ein fähiger Arzt und eine erfolgversprechende Prognose.
Ich bin glücklich, dass sich inzwischen alles zum Guten gewendet hat. Nicht nur für Maya, sondern auch für Lara. Und somit gleichzeitig für mich. Denn wenn es meinen Töchtern schlechtgeht, geht es mir auch schlecht. Lara hat hart gearbeitet und sich das zweite Schulhalbjahr richtig reingekniet. Sie war froh, als der Präsenzunterricht wieder startete, freute sich auf einen möglichst normalen Schulalltag und auf ihr Pflichtpraktikum in ihrem Wunschumfeld, für das sie sich schon sehr zeitig beworben hatte. Umso enttäuschter war sie, als man ihr mitteilte, dass sie den größten Teil des zweiwöchigen Praktikums im Homeoffice verbringen sollte. Man forderte von ihr, telefonisch jederzeit erreichbar zu sein. Sie bekam wenig bis gar keinen Einblick in den Arbeitsalltag. Während der zweiten Woche saß sie frustriert und sauer zu Hause, wartete auf Anrufe, die nie kamen, und musste anschließend ihrer Beurteilung hinterherlaufen. Aber sie zog es dennoch durch und versuchte es positiv zu sehen. „Immerhin steht das Praktikum jetzt als Referenz in meinem Lebenslauf. Vielleicht kann ich ja noch einmal ein anständiges, freiwilliges Praktikum woanders machen.“
Mayas Lehrerin schrieb eine Woche vor den Zeugnissen während der großen Hitze einen „kleinen“ Mathetest, den sie anschließend wie eine Arbeit bewertete. Ich sah überhaupt nicht ein, warum meine Tochter bei 35 Grad so kurz vor den Ferien in ihrem Zimmer hocken sollte, um sich Geometrie reinzupauken. Sie war verzweifelt, weil sie diesen Stoff verpasst hatte. Ich riet Maya, sich einen schönen Nachmittag im Garten zu machen. Wen interessierte die Mathe-Note auf einem Zeugnis der siebten Klasse. Ob Drei oder Vier: auch schon egal. Kräht in ein paar Jahren kein Hahn mehr nach. Ich war selbst ein bisschen erschrocken über meine Einstellung. Denn unter normalen Umständen hätte ich Maya beim Lernen unterstützt und sie ermutigt, ihr Bestes zu geben. Aber irgendwann musste auch mal Schluss sein, das Kapitel beendet werden. Die Psyche zur Ruhe kommen. Meine wie ihre.
Nun liegt das Schuljahr endlich hinter uns. Und darüber schlage ich drei Kreuze. Meine Akkus sind leer. Wie leer, habe ich an dem Tag der Zeugnisausgabe gemerkt, als ich Lara zum Zeugnis gratulierte, sie umarmte und losheulte. Nicht wegen ihrer Noten, die sich für mich durchaus sehen lassen können, sondern, weil insgesamt eine riesige Last von mir abgefallen ist. Ich fühle mich zerschlagen, so als hätte ich einen dicken Kater nach einer durchzechten Nacht. Ich nenne es mein persönliches Long-Covid-Syndrom. Covid-19 hat seine Spuren und Schäden auch bei denen hinterlassen, die bisher nicht direkt daran erkrankt sind. Ich frage mich, wie es weitergehen wird nach den Sommerferien. Ob das Schuljahr 2021/2022 wieder die Normalität bringt, die wir uns alle herbeisehnen.
Wenn sie diese Zeilen lesen, versuche ich gerade meine Akkus nach der langen Durststrecke aufzuladen. Im Urlaub. Mit meiner Familie. Für meine Familie. Für Sie, liebe Leser*innen, damit ich nach meiner Rückkehr wieder erzählen darf.