Maya (13) hat vor zwei Wochen ihre erste Impfung gegen COVID-19 erhalten. Der Kinderarzt im Impfzentrum nahm sich viel Zeit für ein persönliches Gespräch und nach vierzig Minuten saßen wir wieder im Auto. Maya tat zwei Tage der Arm weh, und ich habe sie vorsorglich eine Woche beim Sport entschuldigt. Lara (17) wurde bereits vor den Ferien geimpft. Meine Töchter gehören damit zu den aktuell 33 Prozent der Gruppe der Zwölf- bis Siebzehnjährigen, die bisher mindestens einmal in Deutschland geimpft sind. Vollständig sind aktuell 22 Prozent geimpft (RKI Tabelle – wird laufend aktualisiert).
Ich bin weder Impfgegner, noch habe ich meine Kinder in der Vergangenheit gegen alles und jedes impfen lassen. Ich bin der Meinung, mit viel Schlaf und Ruhe bekommt man die meisten Infekte auch ohne Gang zum Kinderarzt und Antibiotikum in den Griff. Ich sehe Fieber als geniales Abwehrmittel des Körpers an und nicht als Symptom, das unter allen Umständen bekämpft werden muss. Ich bin davon überzeugt, dass das kindliche Immunsystem arbeiten und lernen darf und muss. Ich habe die Windpockenimpfung bei meinen Kindern ausgelassen, denn bis 2012 riet u.a. die Stiftung Warentest von der Varizellen-Impfung noch ab, manche Ärzte wiederum bewerteten die Impfung positiv. Ich wog ab und entschied mich dagegen. Beide Kinder infizierten sich im Kindergarten mit den Windpocken und hatten einen kurzen und unkomplizierten Krankheitsverlauf. Ich glaube, dass weder Maya noch Lara im Falle einer Covid-19 Infektion im Krankenhaus landen würden. Und dennoch sind sie jetzt beide mit Biontech geimpft.
Anfang letzten Jahres (noch vor Corona) sprach Lara mich an, warum sie nicht gegen HPV geimpft wäre. Alle ihre Freundinnen wären das längst. Humane Papillomviren (HPV) sind sexuell übertragbare Erreger. Bleibt eine Infektion damit bestehen, kann sie im Lauf der Zeit eine Krebserkrankung am Gebärmutterhals verursachen. Daher impft man Jugendliche, bevor sie sexuell aktiv werden. Ich sagte, dass die Impfung kein Garant gegen Krebs sei, ich aber wüsste, dass es seit einigen Jahren diese Impfempfehlung, gerade für Mädchen, gäbe. Lara war mit fast sechzehn Jahren alt genug, um eigenverantwortlich über ihren Körper entscheiden zu dürfen. Ich machte ihr einen Termin in meiner Frauenarztpraxis, sie ließ sich beraten und impfen.
Und so war es für mich selbstverständlich, dass meine nun Siebzehnjährige auch in der Covid-19 Frage ihre eigene erwachsene Entscheidung treffen sollte, auch wenn ich selbst dazu einen Standpunkt vertrat. „Auf jeden Fall lasse ich mich impfen. Ich will mein Leben zurück. Ich will endlich wieder normal meine Freunde treffen, mit ihnen Party machen, in die Schule und ins Schwimmbad gehen und verreisen“, sagte sie, als wir für sie ein Impfangebot erhielten. Ich war erleichtert, denn in unserer Familie pflegt sie die meisten Kontakte und trug somit von Anfang an in der Pandemie das größte Risiko einer Infektion. Ich gönnte ihr von ganzem Herzen das Mehr an Freiheit, das sie durch die Impfung erlangte.
Bei Maya lag der Fall anders. Hier mussten wir Eltern entscheiden. Ich weiß, dass Maya mir vollkommen vertraut. Natürlich habe ich sie vorher gefragt, ob sie mit der Impfung einverstanden ist, und ich habe ihr erklärt, dass sie im Falle einer Infektion sicher nicht stark erkranken würde. „Covid-19 ist in der Regel bei Kindern und Jugendlichen keine schwere Erkrankung. Die Mehrzahl der SARS-CoV-2-Infektionen verläuft asymptomatisch oder mit milden Symptomen“, so auch die Aussage des RKI und des beratenden Impfarztes. Aber ich glaube, dass Maya sowieso nicht um die Impfung herumkäme. Zumindest nicht, wenn sie halbwegs am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will und sich das letzte Schuljahr nicht wiederholen soll. Das zeichnet sich seit Monaten ab, machen wir uns nichts vor!
Erst wurde den Kindern erklärt, sie müssten zurückstecken, um die Alten zu schützen. Jetzt erhielten die Alten (ich schließe mich dieser Personengruppe durchaus an) viele Freiheiten zurück, dürfen unkompliziert verreisen, Freunde treffen und ins Theater gehen. Aber die Kinder sitzen weiterhin mit Maske in der Schule, müssen sich regelmäßig selbst testen, im Winter in den Klassenräumen durch die Dauerlüfterei frieren und werden nonstop daran erinnert, dass sie potentielle Krankheitsüberträger sind. Ein bisschen viel Bürde, die den Kindern da auferlegt wird!
Mich macht das wütend. Ich will nicht mehr, dass meine dreizehnjährige Tochter nur noch mit ihren Sorgen beschäftigt ist. Maya sorgt sich, dass sie im kommenden Herbst und Winter wieder ständig in Quarantäne gehen muss, weil das Virus in der Schule grassiert. In unserem Gymnasium gibt es aktuell vier Coronafälle. Es wird ein Auf und Ab bleiben, und allen graut es vor den nächsten Monaten. „Heute waren alle negativ in der Klasse. Wir waren alle so froh“, sagte Maya heute. Schultag für Schultag halten die Kinder nun an den Testtagen den Atem an. Hat es jemanden erwischt? Oder dürfen wir mit den Unterricht beginnen? Wen es erwischt, der oder die muss unverzüglich den Klassenraum verlassen, und alle schauen ihm mitleidig hinterher. Was für ein unschönes Szenario!
Das Gesundheitsamt unserer Stadt (die Vorgaben unterscheiden sich im Land, wäre sonst auch zu langweilig) verordnet, dass alle Kreuz- und Diagonal-Sitznachbarn eines mit Covid-19 infizierten Schülers in Absonderung gehen müssen. Vollständig geimpfte Kinder dürfen weiterhin die Schule besuchen, müssen sich vierzehn Tage lang täglich testen und eine FFP2-Maske tragen. Für die ungeimpften Kinder in Absonderung bedeutet das aber kein „normales“ Homeschooling wie bisher (soweit man überhaupt von normal sprechen kann), sondern selbständiges Nacharbeiten zu Hause. Denn man kann kaum von den Lehrkräften verlangen, abends zusätzliche Videokonferenzen mit den einzelnen Quarantäne-Kindern durchzuführen.
Das letzte Jahr hat Maya zugesetzt. Für sie wäre jede neuerliche Quarantäne schrecklich. Aber ihre größten Sorgen sind nicht-egoistischer Natur. Zu Beginn der Pandemie war ihre größte Angst, sich zu infizieren und uns Eltern anzustecken. „Ich möchte nicht, dass du wegen mir krank wirst. Manchmal bekommst du doch auch so schlecht Luft“, sagte sie einmal weinend. Die Bilder im Fernsehen – Leute auf den Intensivstationen mit Beatmungsgeräten – erschreckten sie. Sie verzichtete ohne Meckern auf Kontakte, verabredete sich kaum, saß viel in ihrem Zimmer herum und malte, litt unter dem fehlendem Vereinssport und der allgemein beklemmenden Situation.
Seitdem mein Mann, Lara und ich vollständig geimpft sind, empfindet Maya ihren Impfstatus als Stigma. Egal, was wir als Familie unternehmen, Mayas Impfstatus ist lästig. Während wir auf der Urlaubsreise lediglich unsere Smartphones mit der CoVPass-App vorzeigten, musste Maya für ihre Ein- und Ausreise getestet werden. Bei jeder Testung begleitete uns ein mulmiges Gefühl: „Was machen wir, wenn der Test positiv ausfällt?“
Zwei Wochen bevor wir in den Urlaub fuhren wollte Maya nicht mehr zum Training. Sie hatte Angst, dass es im Verein zu einem weiteren Coronafall kommen würde. „Dann bin ich schuld, wenn wir wegen mir nicht in den Urlaub können.“ Klar, genau dieser Gedanke ging auch mir durch den Kopf, aber ich sprach ihn nicht aus. Maya hatte so lange auf ihren Sport und vieles andere verzichtet, ich wollte nicht, dass sie sich einschränken muss. Dennoch war ich dankbar, dass sie von sich aus dieses Opfer brachte und der Sporthalle fernblieb. Mal wieder.
Nach unserem Urlaub hatten wir Karten für das Open-Air-Kino. Doch uns wurde der Zugang für Maya verweigert, ihr Antigen-Test war nicht mehr aktuell genug. Ich ärgerte mich, dass mir die 3-G-Info durchgegangen war. „Jetzt können wir wegen mir nicht ins Kino“, sagte Maya.
Wenn die Testzentren erst einmal geschlossen sind, wird es für die Ungeimpften sehr ungemütlich. Und zwar für alle Ungeimpften, auch für die Kinder. Davon bin ich überzeugt. Und da ich es sowieso für unvermeidbar halte, habe ich Maya impfen lassen. Ich will ihr so früh wie möglich und so viel wie möglich Last von den Schultern nehmen.
Bei aller Diskussion darf man den Druck, den die Kinder sich selbst machen, nicht vergessen. Kein Kind will der Sündenbock sein, dessentwegen der halbe Verein oder die Klasse in Quarantäne muss. Kein Kind möchte, dass seinetwegen die Klassenfahrt abgebrochen werden muss. Das ist schlimmer, als Läuse in den Kindergarten oder in die Schule einzuschleppen. Es sind zutiefst peinliche und unangenehme Situationen für das betroffene Kind. Wer fühlt sich schon gut, wenn er weiß, dass die anderen (einschließlich der Eltern) tuscheln: „Die/der hat…“ Wer fühlt sich gut in der Rolle des Krankheitsüberträgers?
Wir Eltern müssen sehr oft Verantwortung übernehmen und Entscheidungen für unsere Kinder treffen. Wir müssen hoffen, dass es die richtigen sind, und damit leben, wenn vielleicht nicht. Maya empfindet Erleichterung. Sie hat gerade im Kalender nachgeschaut und gerechnet, wann ihre Zweitimpfung erfolgt und von welchem Datum an sie dann wie der Rest der Familie als vollständig geimpft gilt.