Jubel auf dem Fußballplatz: „Tor!“. Ein Junge reckt die Fäuste in den Himmel, seine Mitspieler feiern ihn. „Nein, der war nicht drin!“, empört sich plötzlich ein Junge der anderen Mannschaft. „Doch, war er wohl.“ „Nein, war er nicht. Der war noch auf der Linie“. Eine Diskussion ist entfacht.
Leser, die jetzt befürchten, sie hätten einen Text vor sich, in dem es ausschließlich um Sport geht, kann ich beruhigen. Im Kommenden geht es um Kinder mit Verantwortung, möglicherweise mit zu viel Verantwortung. Vor allem geht es um Erwachsene, die sich nicht an Regeln halten.
Seit über vier Jahren spielt unser Sohn Theo (8) Fußball im Verein. Er liebt das und zieht jede Menge Selbstvertrauen und Energie aus dem Sport. Er verausgabt sich und lernt, mit Erfolgserlebnissen wie mit Niederlagen umzugehen und wie es ist, Teil eines Teams zu sein.
Vor gut zwei Jahren sind wir nach Bayern gezogen. Hier haben wir schnell eine Mannschaft für ihn gefunden. Er fühlt sich wohl. Die Kinder sind erfolgreich, entwickeln sich und haben Spaß.
In Deutschland spielen Kinder bis zum Alter von zehn seit einigen Jahren Fußball nach der sogenannten Fairplay-Regel. Sie wurde im Jahr 2005 geboren, nachdem ein Kinder-Fußballspiel abgebrochen wurde, weil bei Eltern die Fäuste flogen. So viel zum Vorbildcharakter … Fairplay bedeutet, es gibt bei Spielen keine Schiedsrichter. Stattdessen sollen sich die Kinder der beiden Teams untereinander einigen. Sie sollen klären, wer den Ball ins Aus geschossen hat, ob bei einer Aktion die Hand im Spiel war oder ob der Ball hinter der Linie war oder doch nicht. Das klingt erst mal total toll.
Der Bayerische Fußballverband hat seine Vorstellung vom Fairplay folgendermaßen aufgeschrieben:
…. „Die seit Jahren bewährte ‚FairPlay-Liga‘ …. Hier findet der reguläre Spielbetrieb ganz bewusst unter geänderten Rahmenbedingungen statt. Es wird wie früher auf dem Bolzplatz oder der Wiese ohne Schiedsrichter … [gespielt]. Die Entscheidungen über ‚Tor‘, ‚Aus‘ oder ‚Foul‘ treffen die betroffenen Spieler(innen) selbst. Damit aber nicht das ‚Gesetz des Stärkeren‘ zum Tragen kommt, greifen im Zweifel die beiden Team-Betreuer, die ihre Teams aus einer gemeinsamen ‚Coaching-Zone‘ betreuen, ein und entscheiden. Das ist in der Regel kaum nötig, verlangt aber auch von Trainern, sich verantwortungsvoll und fair zu verhalten.“
(Aus: Fairplay im Fußball, Bayerischer Fußball-Verband)
Klingt super, oder? Wer allerdings annimmt, diese Zeilen hätten irgendwas mit der Realität zu tun, der glaubt auch an den Osterhasen, den Wolpertinger, die Milka-Kuh oder daran, dass es für Markus Söder wirklich ok war, dass die Union Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten machte.
Nicht Fairplay, sondern dreist gewinnt
Fairplay, Bolzplatz, Kinder unter sich – klingt alles super. In der Realität sieht die Sache aber so aus: Wer in einer strittigen Situation am lautesten schreit, bekommt den Ball. Da wird nichts geklärt. Wer entschieden genug brüllt, gewinnt. Der bekommt den Einwurf, den Freistoß, den Elfmeter. Das „Gesetz des Stärkeren“ gilt, anders als im Text beschrieben, 1:1. Das ist nicht „Fairplay“, sondern „dreist gewinnt“, Ellenbogen raus. Survival of the fittest unter Achtjährigen.
Das ist nur ein kleiner Teil des Problems. Der Kern ist ein anderer: Auf dem Bolzplatz sind Kinder unter sich. Dort müssen sie sich einigen, sonst ist das Spiel vorbei, und es geht nach Hause. Bei richtigen Spielen stehen Eltern und Trainer am Platz und greifen in das Geschehen ein. Nicht, wie die Fairplay-Regel sagt, besonnen und moderierend, sondern häufig emotional und polarisierend. Da werden Achtjährige angeheizt, „mal richtig draufzugehen und dem Siebener zu zeigen, dass er dich nicht verarschen kann“. Wenn der gegnerische Spieler mit der Nummer sieben kurz darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden liegt, wird gelobt und applaudiert.
Besonders emotional wird es bei engen Spielen, bei denen es um etwas geht. Da schreien Eltern und Trainer unreflektiert rein, was das Zeug hält. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich bin selber leidenschaftlicher Fußball-Vater, war bis vor Kurzem auch Trainer und tauge nicht als Vorbild, wenn es um besonnenes Handeln am Spielfeldrand geht.
Zwei alte Gockel beim Kinderfußball
Es ist das letztes Saisonspiel, eigentlich geht es um nichts mehr. Aber beide Mannschaften wollen gewinnen. Es entwickelt sich kein gutes, aber ein spannendes Spiel. Rund um den Platz wird es immer lauter und hektischer. Fünf Minuten vor Schluss steht es 2:2. Unser schnellster Stürmer zieht mit dem Ball am Fuß vor das gegnerische Tor. In letzter Sekunde stoppt ihn ein Verteidiger. Er trifft nicht den Ball, unseren Stürmer aber am Fuß. Der Junge sitzt auf dem Boden und beschwert sich. Leider hat er keine besonders kräftige Stimme. Es gibt keinen Protest. Die gegnerische Mannschaft inklusive Trainer scheint bei der Aktion nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Das Spiel läuft weiter.
Kurz vor Schluss fliegt ein langer Ball in unseren Strafraum. Einer unserer Verteidiger läuft rückwärts, fixiert den Ball, tritt dabei einen Gegner um und tut sich dabei selbst ziemlich weh. „Elfmeter!“ schreit plötzlich jemand neben mir. Es ist ein Betreuer oder Vater der gegnerischen Mannschaft. Wo kommt der denn her, denke ich. Vor ein paar Minuten hat er noch gegenüber bei seinen Leuten gestanden. In der Schlussphase hat ihn da offenbar nichts mehr gehalten. Ich gehe langsam auf ihn zu und sage: „Ach, hör auf.“ Er tritt mir entgegen: „Willst du mir etwa sagen, dass das kein Elfmeter war?“ Sein Kopf ist rot. Der ganze Kerl ist ziemlich emotionalisiert, um es freundlich zu sagen. „Das war kein Elfmeter!?!“ Er schaut mich herausfordernd an. Was tun? Der Typ hat recht. Unser Spieler hat den anderen, wenn auch unbeabsichtigt, gefoult. Anderseits gab es kurz vorher auch keinen Elfmeter für uns. Jetzt tritt der Typ auch noch so provozierend auf … Ich kann ihm unmöglich zustimmen, also wechsele ich in den Angriffsmodus: „Was hast du hier eigentlich zu suchen? Warum bist du nicht drüben bei deinen Leuten?“ Wie zwei Gockel stehen wir uns gegenüber.
Wahrscheinlich hätten wir uns weiter gezankt, werden aber unterbrochen. Unser Spieler liegt immer noch weinend auf dem Platz. Er ist umgeknickt. Ich laufe hin und kühle sein Gelenk. Kurze Zeit später ist das Spiel aus. Kein Elfmeter, kein weiteres Tor. Dafür gibt es wie nach jedem Spiel, egal wie es ausgegangen ist, Elfmeterschießen. Jedes Kind kommt dran. Die Stimmung entspannt sich mit jedem Schuss. Zum Ende bedanke ich mich immer bei der gegnerischen Mannschaft für das Spiel und wünsche uns allen ein schönes Wochenende. Ich gehe auf den Elfmeter-Vater zu. Wir klatschen uns ab, lachen erleichtert und umarmen uns kurz. Ist doch alles gutgegangen.
Die Lösung: Ein Spielleiter
Die Idee der Fairplay-Regel für Kinder ist an sich sinnvoll. Der Gedanke, dass sich Kinder unter sich einigen, ist gut. Dazu muss man wissen: Die Fairplay-Regel sieht ursprünglich vor, dass Eltern mindestens 15 Meter vom Spielfeld entfernt stehen. Das tut in der Praxis aber niemand. Und wenn Erwachsene nicht mitspielen, ist die Regel sinnlos. Es ist ehrlich gesagt nicht einfach, sich als Elternteil und Trainer zurückzunehmen. Natürlich wollen alle das Beste für ihr Team. Die Kinder sollen Spaß und Erfolg haben, am Ende ist Sport halt Wettkampf. Sie sollen lernen, sich durchzusetzen. Wenn es sein muss, hilft man als Erwachsener halt nach.
Darum würde ich diese Fairplay-Regel abschaffen. Kinder müssen Verantwortung lernen, brauchen aber auch Regeln, an die sich halten, und sie brauchen Orientierung. Mein Vorschlag wäre ein Spielleiter, der anders als ein Schiedsrichter, Kinder zum Spielen motiviert und nur dann eingreift, wenn sich eine Situation festgefahren hat und die Kinder sie nicht klären können. In Berlin, wo unser Theo die ersten beiden Jahre spielte, hat das gut funktioniert. Da gab es solche Diskussionen nicht. Dann klappt das doch in Bayern sicher erst recht.