„Jetzt beginnt der Ernst des Lebens“ – diesen Satz hat meine Oma tatsächlich gesagt, als ich vor gut vierzig Jahren eingeschult wurde. Knapp dreizehn Jahre später stellten wir bekannten Persönlichkeiten „Fragen an das Leben“. Wir schrieben sie an, Politiker, Künstler, Geistliche und Wissenschaftler und baten um sinnvolle Ratschläge für uns Abiturienten. Wir bekamen erstaunlich viele Antworten. Die der Regisseurin und Schauspielerin Gerda Gmelin habe ich bis heute nicht vergessen. Ihre Antwort war nur ein lakonischer Satz: „Ihr werdet es nie wieder so schön haben wie in der Schule.“
Im September hat für unsere Tochter Frida (6) der Ernst des Lebens begonnen. Sie wurde eingeschult. Schon Monate vorher war ihre Vorfreude groß. Sie begriff, dass jetzt etwas Neues, Aufregendes startet und dass das Kapitel Kita aus guten Gründen vorbei ist. Allerdings hatte sie auch riesigen Respekt vor diesem unbekannten Neuen. Denn sie kannte nicht ein einziges Kind in ihrer Klasse. Meiner Frau und mir war klar: Fridas Einschulung wird nicht ganz so einfach laufen wie bei unserem Sohn Theo (8). Der kannte nach unserem Umzug nach Franken zwar auch kein Kind in seiner Klasse, ist aber von seiner Art her unvergleichlich offener und strotzt vor Selbstbewusstsein. Als ich ihn nach seinem ersten Schultag abholte, kam er mir mit ein paar Jungen im Schlepptau entgegen: „Papa, ich habe drei neue Freunde!“
Bei Frida sollte es anders laufen. Das wurde uns schon am Tag der Einschulung klar. Bei der Begrüßungsfeier sollten die Erstklässler die ersten zwei Reihen Stühle einnehmen – allein. Die Eltern sollten weiter hinten Platz nehmen. „Setz‘ Dich hierher, ich sitze neben Mama da hinten. Guck mal, wenn du dich umdrehst, siehst du uns. Wir winken dir zu“, sagte ich zu Frida und wollte mich auf den Weg machen. Sie wollte aber nicht bei den vielen fremden Kindern sitzen. „Ich habe Angst“, schluchzte sie und brach hinter ihrer kleinen gelben Gesichtsmaske mit den blauen Sternchen in Tränen aus. Das war keine Show. Das Kind hatte wirklich Angst. Ich versuchte ihr zu erklären, dass sie anderen Kinder hinter ihren bunten Masken auch Angst hätten, dass auch für sie die Schule neu war und dass keiner von ihnen alle anderen Kinder kennen würde. Es half nichts. Sie klammerte sich mit beiden Händen um meinen Arm. Also blieb ich neben ihr sitzen. Als einziger Vater unter 25 Erstklässlern auf einem viel zu kleinen Stuhl.
Nach der Begrüßung der Schulleitung, dem Auftritt der beiden Pastoren und einer Aufführung der zweiten Klasse, die Frida angespannt und ohne große Freude und vor allem ohne ihre Finger von meiner Hand zu lösen verfolgt hatte, stellte sich ihre Klassenlehrerin vor. Eine junge, sympathische Frau, frisch zurück aus der Elternzeit und zum ersten Mal Klassenlehrerin „von Erstis“, wie sie zugab. „Das ist aber eine nette Lehrerin, Frida. Mit der wirst du sicher Spaß haben“, versuchte ich unsere Tochter zu bestärken.
Im Anschluss an die Einschulungsfeier sollte die Lehrerin den Kindern die Klasse zeigen – ohne Eltern, versteht sich. Offensichtlich hatte die Gute uns schon von der Bühne aus beobachtet. Sie ging geradewegs, aber ganz ruhig auf Frida zu. „Wie heißt du denn?“ fragte sie meine verunsicherte Tochter. Dann nahm sie sie an der Hand und die ganze Klasse marschierte los. Wir Eltern gingen nach draußen und ich hätte nach zwölf Jahren Abstinenz fast jemanden um eine Zigarette angeschnorrt.
Als die Elternschaft eine gute halbe Stunde später zum Klassenzimmer geführt wurden, saß Frida ganz vorne, direkt vorm Lehrerpult. Sie hatte nicht mehr geweint, sondern im Gegenteil eine ziemlich gute Zeit gehabt. „Wir haben schon Hausaufgaben auf!“, strahlte sie uns an.
In den nächsten Tagen brachte ich sie zur Schule. Bis zu ihrem Platz im Klassenraum, sie bestand darauf. Die Trennung fiel ihr schwer, und wieder flossen Tränen. So verging die erste Woche, mit Aufs und Abs. In der zweiten verabredete sie sich zum ersten Mal. Mit Tilda, einem Mädchen aus ihrer Klasse, das wie sie in der Mittagsbetreuung war. Sie ist im Grunde immer bester Laune, wenn ich sie abhole. Nicht, weil sie endlich nach Hause darf, sondern weil sie Spaß hatte. Vielleicht liegt es daran, dass die Mittagsbetreuung mehr wie die Kita ist. Die Kinder erledigen zwar ihre Hausaufgaben, können sonst aber frei spielen. Sie besteht sogar darauf, dass ich draußen vor dem Schultor auf sie warte.
Über fünf Wochen ist Frida jetzt in der Schule. Alles wurde immer unkomplizierter. Selbst nach den Wochenenden konnte sie sich schnell lösen. Montag gab es aber einen Rückschlag. Die Klassenlehrerin musste zu Hause bleiben, ihre Tochter war krank. Als ich Frida in der Klasse ablieferte, war noch kein Lehrer da. Außerdem saß ein Junge auf ihrem Platz – neben ihrer Freundin Tilda. „Ich wollte endlich mal neben Fabian sitzen“, sagte der Junge zu seiner Verteidigung und zeigte auf den Schüler zu seiner Linken. Frida passte das gar nicht. Sie war verunsichert und wusste nicht wohin. In dem Moment betrat eine Lehrerin den Raum. „Eure Klassenlehrerin kommt heute nicht, darum läuft alles etwas anders.“ Die Frau machte auf mich den Eindruck, als könne sie mit zwei Silben und einem scharfen Blick eine überfüllte Turnhalle im Nullkommanix zum Schweigen bringen.
Auf meine Tochter machte das ebenfalls Eindruck – leider nicht in die gewünschte Richtung. Sie wurde noch unsicherer angesichts dieser resoluten, fremden Frau. Die Schulglocke klingelte. Ich war das einzige Elternteil im Raum und versuchte, wenigstens Fridas Platz neben Tilda zurückzuerobern. „Du kannst doch auch neben dem Mädchen da drüben sitzen“, sagte die Lehrerin zu Frida. Frida schüttelte den Kopf und schluchzte. Ich versuchte der Frau zu erklären, dass das mit Umsetzen ausgerechnet an dem Tag, an dem die Klassenlehrerin nicht da ist, vielleicht keine gute Idee sei. Sie ignorierte meinen Einwand und sagte stattdessen: „Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Wir kriegen das schon hin.“ Als ich mich in der Tür noch einmal umdrehte, kullerten Tränen auf die Maske meiner Tochter.
Im Klassenchat las ich später, dass einige Kinder ihren Eltern von einem wahren Horrortag in der Schule berichtet hatten. Die Vertretung hatte überwiegend ein Lehrer übernommen, der wegen seiner Strenge einen berüchtigten Ruf genießt. Der Mann sei über sechzig, ungeduldig und habe die Kinder mehrfach angeschrien. Ein paar Kinder hätten gesagt, sie wollten nicht mehr zur Schule gehen, wenn der Mann sie noch einmal unterrichte.
Als ich Frida abholte, war sie vergnügt wie immer. Angesprochen auf den Lehrer berichtete sie zwar, er habe geschrien und sei ganz streng gewesen. Einen traumatischen Eindruck schien er bei ihr nicht hinterlassen zu haben.
Am nächsten Tag war die Klassenlehrerin wieder da, und alles war gut. Fast alles, denn sie sagte mir, sie werde die nächsten beiden Tage wieder bei ihrer kranken Tochter zu Hause bleiben, heute hätte ihr Mann das übernommen.
Dieser nächste Tag war gestern. Alles lief normal: Schulweg, wir setzten unsere Masken vorm Betreten des Gebäudes auf und hängten Jacke, Schal und Mütze an die Garderobe. Dann betraten wir die Klasse: Noch nie hat Frida sich so an mich geklammert. Sie hatte richtig Angst. „Ich will bei dir bleiben, kann ich nicht mit dir nach Hause gehen?“ schluchzte sie. Noch war kein Lehrer zu sehen. „Jetzt setz dich erst einmal auf deinen Platz“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Frida, das geht nicht. Du kannst nicht nach Hause, du bist gesund, und ich muss arbeiten.“ Keine Chance, sie klammerte sich noch fester an mich, schluchzte noch tiefer und bewegte sich keinen Millimeter in Richtung ihres Platzes. Dann betrat der Lehrer den Raum. Ich brauchte keine Erklärung, ich erkannte den Mann, der die Kinder vor zwei Tagen so erschreckt hatte, auch so.
Es klingelte. Der Lehrer sagte guten Morgen – und verschwand wieder. Inzwischen waren mir zwei Mädchen zu Hilfe gekommen, die ganz lieb auf Frida einredeten, sie möge sich doch beruhigen. Das Kind wollte davon nichts wissen und klammerte weiter. Ich versuchte es mit Logik und Vernunft: „Schau mal, Frida“, flüsterte ich, „ich bin der einzige Papa hier im Raum. Das ist doch ein bisschen seltsam. Alle anderen Kinder sind allein und kommen gut zurecht. Wenn ich dich nachher wieder abhole, wird es dir gutgehen, weil du einen guten Tag hattest.“ „Ja, Frida, was ist denn los?“ fragte eine grummelige Stimme plötzlich von vorne. Es war der Lehrer, der Zettel verteilte: „Wir machen heute viele gute Sachen.“ Nachdem er mit dem Austeilen fertig war, verschwand er wieder. „Frida, ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte ich ernst. „Wenn der Lehrer wieder da ist, ich habe Angst, wenn kein Erwachsener hier ist“, schluchzte sie. „Du, ich glaube, der Lehrer findet das nicht gut, dass ich noch hier bin“, antwortete ich, „und das kann ich auch verstehen. Wenn ich Lehrer wäre, würde ich das auch komisch finden, wenn ein Papa die ganze Zeit in meinem Unterricht wäre.“ „Wenn er wiederkommt, darfst du gehen, Papa.“ Es dauerte noch endlose anderthalb Minuten, bis er gemeinsam mit einer zierlichen, freundlichen Frau wieder auftauchte und selbst erleichtert wirkte hinter seiner FFP2 Maske. „Ich bin heute und morgen eure Lehrerin“, sagte die Frau. Ich ging.
Es wird nach und nach besser laufen mit Frida in der Schule. Und dann werden auch wieder anstrengendere Tage kommen. Wenn sie unser einziges Kind wäre, würde ich mir sicher Sorgen machen. Aber ich habe den Vergleich. Sie ist schüchterner und zurückhaltender als ihr Bruder. Sie benötigt eine Weile, sich eine neue Umgebung vertraut zu machen. Wir geben ihr Zeit und halten die kleinen Rückschläge aus. Es bedarf elterliche Ruhe, Verständnis, Geduld und vieler guter Worte. Es ist die Schule. Ein ziemlich großer Schritt für ein Kind, das eben noch in der Kita war. Aber ein „normaler “ Schritt, den alle Kinder machen und den die allermeisten unbeschadet überstehen. „Der Ernst des Lebens“, wie meine Oma sagte, ist es vielleicht nicht. Aber zum ersten Mal müssen sich Kinder in einem großen Raum behaupten, ohne ihre Eltern. Trotzdem: Die Chancen, dass Frida irgendwann ihre Schulzeit rückblickend als schön und unbeschwert empfindet, stehen ziemlich gut. Gerda Gmelin wird Recht behalten.