Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Durch die Nacht mit dem Mamataxi

Im Mamataxi läuft immer die Musik, die die reifenden Kinder von früher kennen.

Ich liege auf der Couch, schaue Medical Detectives und hadere mit Spannungskopfschmerzen. Eigentlich gehöre ich ins Bett, aber ich muss noch ein bisschen durchhalten – meine Taxizentrale hat eine nächtliche Fuhre angenommen. Ja, ich weiß, Elterntaxi – das lebhaft diskutierte Hassthema. Verweichlichte Kinder, die jeden Meter mit dem Auto kutschiert werden, am besten direkt bis auf den Schulhof. Genervte Schulleitungen, die alle paar Monate aufs Neue Infozettel ausgeben und Halteverbotsschilder vor dem Schulgebäude für nicht belehrbare Eltern aufhängen.

So ein Elterntaxi bin ich aber nur bedingt. An besonders fiesen, verregneten und kalten Wintertagen lasse zwar auch ich mich beizeiten von meinen Töchtern überreden, sie zur Schule zu fahren, schmeiße sie dann aber zweihundert Meter früher aus dem Auto. Dies sehr zu Laras (17) und Mayas (14) Leidwesen, denn sie haben morgens keine Lust, das letzte Stück im Regen zur Schule zu marschieren, wenn es gerade noch so schön warm im Wagen war. Die Straße vor der letzten Kreuzung stellt meine persönliche Grenze dar, denn ab dort wird es für Autofahrer ungemütlich. Selbst schuld, wenn man diese Grenze überschreitet und dann nichts mehr vor und zurückgeht, weil eilige Schüler auf ihren Fahrrädern haarscharf von allen Seiten an einem vorbeibrausen.  

Auf der weiterführenden Schule geht es im Vergleich zu den Kitas und Grundschulen milde zu. Es mag ja sein, dass man „früher bei Wind und Wetter eine Stunde zu Fuß in die Dorfschule gelaufen“ ist, aber die Zeiten haben sich geändert. Heute werden viele Kinder, die nicht das Glück haben, fußläufig zu wohnen, mit dem Auto zur Schule gebracht, zur Kita sowieso. Busfahren ist irgendwie out geworden (bei uns definitiv wegen der unzumutbaren schlechten Verbindung) und Schulbusse kenne ich nur noch aus meiner eigenen Schulzeit.

Der Kindergarten sowie die Grundschule meiner Töchter lagen glücklicheweise bei uns um die Ecke. Dennoch, mit zwei Kindern im unterschiedlichen Alter, mit unterschiedlichen Freunden und Hobbys, spielt man dann nachmittags trotzdem oft genug den Privatchauffeur.  Montags Tanztraining der Großen, dienstags und samstags Training der Kleinen, mittwochs Musikschule und am Donnerstag vielleicht eine Spielverabredung, Kindergeburtstag oder Arzttermine. Mein Mann übernahm die ein oder andere feste Tour, aber aus organisatorischen Gründen blieb der größte Teil dann doch an mir kleben.  

Je älter die Kinder wurden, desto mobiler wurden sie. Viele Fahrten sind bei uns inzwischen weggefallen. Die Mädchen kommen auch ohne mich von A nach B. Sie brauchen mit dem Rad nur zehn Minuten bis zur Schule. Besonders Lara reißt so gut wie alles alleine ab. Darüber bin ich auf der einen Seite froh, aber auf der anderen Seite macht es mir gar nicht so wahnsinnig viel aus, die Kinder herumzukutschieren. Wenn ich nicht gerade nachts über die Autobahn muss, fahre ich nämlich ganz gerne Auto, am besten mit etwas Gutem auf den Ohren – 80er, Musicals, Filmmusik. Mein Auto! Meine Musikwahl! Meine Macht!

Hin und wieder spielt Maya den DJ und wählt die Musik aus. Dann grölen wir gemeinsam lauthals Mamma Mia oder The Time Warp und machen Faxen. Überhaupt, die lustigsten und intensivsten Gespräche mit meinen Töchtern finden im Auto statt. In meinem Mamataxi herrscht eine entspannte und intime Atmosphäre. Auf längeren Fahrten lassen sich wunderbar Probleme analysieren und diskutieren. Maya und Lara genießen meine ungeteilte Aufmerksamkeit, ohne dass jemand dazwischen grätscht und umgekehrt. Das ist ein bisschen wie bei der Kosmetik oder beim Friseur: Die Kundschaft schüttet während der Dienstleistung ihr Herz aus.  

Seit Lara am Wochenende flügge geworden ist, bin ich für sie zwar nachmittags weniger im Einsatz, dafür aber recht häufig an den Freitag- und Samstagabenden. „Bei Niklas ist Party. Kannst du mich abholen? Sonst fahre ich mit dem Rad nach Hause“, sagt Lara dann und ich schüttele schnell den Kopf. „Auf gar keinen Fall fährst du nachts noch alleine die lange einsame Strecke. Und erst recht nicht, wenn du getrunken hast.“ Ich weiß, wie sowas aussieht. Ich habe Lara mal von einer „Runde“ (so nennen die Jugendlichen ihre Homies, die keine richtige Partys darstellen, sondern im kleineren Kreis stattfinden) abgeholt. Auf dem Weg dorthin kamen mir auf der dunklen Landstraße, Schlangenlinien fahrend, Jugendliche auf dem Rad entgegen. Automatisch drosselte ich das Tempo und war froh, dass keiner von ihnen auf meiner Motorhaube gelandet war.

„Sie kann doch ein Taxi nehmen“, schlägt mein Mann vor, denn er schafft es selten, so lange wach zu bleiben. Ich traue es meiner Tochter eigentlich nicht zu, aber in meiner Jugend hat man das Taxigeld kassiert, in Alkohol investiert und ist doch zu Fuß oder mit dem Bus nach Hause gefahren, um dann brav bei den Eltern zu behaupten, man hätte sich ein Taxi genommen. Und dann gibt es noch andere Gründe, warum ich mich freiwillig hinters Steuer setze:

  • Aus Schlaflosigkeit: Ich kann sowieso nicht schlafen, solange Lara nicht zu Hause ist. Ich wälze mich unruhig im Bett hin und her, bis sich endlich das Schloss in der Tür umdreht. Wenn Lara mit dem Rad unterwegs ist, döse ich höchstens ein, um dann kurz darauf wieder herzklopfend aufzuschrecken. Ich grapsche nach meinem Handy, checke die Uhrzeit und prüfe, ob Lara sich gemeldet hat. Da bleibe ich lieber von vorneherein auf, schreibe oder lenke mich mit einem Film oder Medical Detectives ab.
  • Aus Neugierde: Wenn sie als Elternteil wissen wollen, was im Leben ihres Teenagers wirklich los ist, rate ich ihnen, im Auto ganz nebenbei und geschickt eine Unterhaltung anzuleiern. Wenn sie Glück haben, hat sich die Zunge des Teenagers durch den Alkohol gelöst und man erhält ein paar echte Einblicke vom Abend. Einem müden und verkaterten Teenie werden sie morgens am Frühstückstisch keine vernünftige Silbe entlocken können.
  • Zu Recherchezwecken: Oft schläft eine Freundin von Lara bei uns oder ich nehme Laras Kumpels mit. Dann bekomme ich Infos aus erster Hand, wer gerade mit wem zusammengekommen ist und wer sich mal wieder total daneben benommen hat. Ich erhalte einen ungefilterten Einblick, wie Jugendliche untereinander kommunizieren (sie vergessen meistens, dass ich auch noch im Auto sitze).
  • Ich lerne ständig neue Leute aus Laras Umfeld kennen: Mama, das ist Felix. Ist doch okay, wenn wir ihn mitnehmen?! Er wohnt nur ein paar Straßen von uns entfernt.“
  • Mein Job ist zeitlich befristet: Lara und viele ihrer Freunde machen bereits den Führerschein. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann wird mein Mamataxi nicht mehr regelmäßig gebraucht (bis Maya, mein zweiter Stamm-Fahrgast, am Wochenende auf Tour geht).  

Inzwischen ist es zwanzig nach eins. Ich gähne, schlüpfe nun in Schuhe und Jacke und schreibe Lara eine Nachricht, dass ich mich auf den Weg mache. Im Auto stelle ich meinen Lieblingssender 80s80s ein. Zehn Minuten fahre ich stadtauswärts, vorbei an Feldern und Wiesen und erreiche dann das einsam gelegene Gelände, auf dem die Sause heute stattfindet. Lara steht wie verabredet draußen. Fröstelnd steigt sie ein und seufzt wohlig auf, weil ich die Sitzheizung für sie aufgedreht habe. Der Abend war schön, erklärt sie bereitwillig, es gab leckere Pizza und sie haben viel getanzt, aber jetzt ist sie froh, nach Hause zu kommen. Wir fahren durch die dunkle Nacht, es fängt an zu nieseln. Der Scheibenwischer quietscht. Police singen „Every breath you take“. Lara trällert den Text leise mit und ich falle in ihren Gesang ein. Sie lehnt ihren Kopf an die Fensterscheibe und murmelt: „Wenn ich im Auto neben dir sitze und deine 80er-Musik läuft, fühle ich mich immer so geborgen. Das ist für mich Kindheit.“

Es sind Momente wie dieser, in denen mir Lara gefühlsduselig zeigt, dass sie mich und mein Mamataxi zu schätzen weiß. Und es sind Momente wie dieser, in denen ich diesen Job mit all seinen Facetten genieße.