In ganz Deutschland werden in diesem Jahr Christbäume ungeschmückt und Geschenke unverschenkt bleiben (Lieferprobleme aus China). Ganz Deutschland? Nein! Ein kleiner Haushalt in der Nähe von Frankfurt leistet Widerstand – und legt einfach selbst Hand an. Schon Ende November sind die Fenster mit Goldsternen geschmückt, Plätzchen gebacken, Wachskerzen gerollt und Weihnachtsdeko an Omas und Opas, Onkel und Tanten geschickt. In diesem Hause leben seit einigen Monaten zwei Bastelfanatiker – mein Sohn Max und ich. Lieferengpässe kümmern uns nicht, wir arbeiten von sechs Uhr früh bis in die Abendstunden.
Wer diese Kolumne öfter liest und mich und meine Familie schon einige Zeit begleitet, wird sich gerade sehr wundern, da ich mich noch im vergangenen Jahr als inkompetente Bastelphobikerin geoutet habe. Tonpapier, Krepppapier und Klebstoff, wir waren uns spinnefeind. Zwei Coronawinter und drei Wellen später bin ich schlauer und muss gestehen: Ich bin geläutert. Im Basteln mit meinem Sohn habe ich meine Berufung gefunden und er seine Erdung.
Doch Schritt für Schritt.
Es begann damit, dass ich für Max eine kleine Bastelschere kaufte, eine, die nur Papier schneidet, damit die Fingerchen des unruhigen Kindes unversehrt blieben. Doch schnell merkte ich: Auch der Spaß blieb damit auf der Strecke. Denn die Schere schnitt nur, wenn sie akkurat im 90-Grad-Winkel auflag. Zackige Kurven waren damit nicht drin. Auch bei Tonkarton, Transparentpapier oder Tesafilm streikte das dumme Ding.
Die Stifte, mit denen ich Max in einen Pappkarton setzte (hatte ich auf Instagram gesehen, der ultimative „So bleibt der Esstisch sauber“-Trick), erwiesen sich als ebenso unbrauchbar. Sie waren auf der dunklen Pappe kaum zu sehen.
Und so stand ich am Scheideweg der künstlerischen Ausübung und gab vollen Einsatz: No Risk no fun an der Bastelfront. Ich besorgte Stifte, die als Mischung aus Bunt- und Wachsmalstift so weich sind, dass sich damit mühelos alle Materialien bemalen lassen, inklusive Finger, Wangen, Tisch und Wand. Glücklicherweise sind sie auch sehr leicht abwischbar. Ich kaufte eine richtige Schere (immerhin mit abgerundeter Spitze), Kleber und weißes Papier und fing an, meine Freundinnen wie einst auf dem Pausenhof zu beäugen: Was haben die in ihren Bastelboxen? Was schnappen sich die Kinder als erstes? Was bleibt immer liegen?
Mit Max zu basteln, zu malen und zu phantasieren wurde immer mehr ein gemeinsames Ritual. Er wünschte sich Traktoren, Bagger und Autos, ich bot ihm unterschiedliche Materialien und Basteltechniken an. Wir beklebten Klorollen mit Krepppapier, malten mit Fingerfarbe, stempelten mit Kartoffeln, Händen und Füßen. Wir kneteten mit Salzteig, Kuchenteig, Knete und Wachs, zerschnitten Zeitschriften, Kalender und Wimmelbilder und klebten sie neu zusammen. Es gab eine Zeit, da hatte ich noch vor dem Frühstück ein Aquarium aus einer Schuhschachtel gebastelt, mit schwebenden Fischen, Pflanzen und Sand. Die gemeinsame Zeit machte uns beide glücklich, das Training unserer Fertigkeiten steigerte unser beider Selbstwertgefühl.
Beim Basteln legt Max oft seine kleine Hand auf meine große und sagt: „Bravo Mama“, oder „Das hast du gut gemacht“. Er muss es sich in einer seiner Kindersendungen abgeschaut haben, ich habe auch einen Verdacht, in welcher. Aber ich genieße diese Momente des Zuspruchs enorm. Offenbar so sehr, dass ich inzwischen in wahre Höhenflüge der Kreativität abhebe. Ich speichere mir die besten Bastelideen im Handy als Screenshots, kaufe Sticker- und Schnippelbücher und lege jeden Abend schon die wichtigsten Bastelutensilien bereit, damit mein Großer am Morgen ungebremst loslegen kann.
Seit Juli geht Max in den Kindergarten. Er ist noch ein Stück kleiner als die anderen, er spricht etwas undeutlicher als sie, aber „im Basteln ist er ein echter Überflieger“, sagt seine Erzieherin. Sie muss es wissen, denn sie ist die Meisterin der Kindergartenbastelperfektion. Ich platze vor Stolz. Mein Kind.
Seit Max mit ihr bastelt, ist sein Elan in neue Sphären aufgestiegen, und meiner gleich mit. Bringt er eine aus einer Klorolle gefertigte Eule mit nach Hause, zücke ich grüne Wasserfarbe, Schere und Klebstoff und wir basteln aus einer Zewarolle ein grünes Krokodil als Freund. Wir pressen Blätter und kleben daraus stachelige Dinosaurier. Wir bemalen Pappe mit Filzstiften, Max schneidet Igel, Dinosaurier und schlafende Wildschweine aus und malt sie mit Wasserfarbe und Deckweiß an. Kürzlich haben wir gerade, bauchige und runde Kerzen aus Wachsplatten gerollt und mit ausgestochenen Sternen und Herzen verziert. Eine will Max seiner Erzieherin zu Weihnachten schenken.
Wenn Max und ich basteln, sind wir beide ganz ruhig. Ich schaue nicht aufs Handy, er sitzt hochkonzentriert und malt, schneidet oder klebt. Den Malerkittel trägt er nur für mich, er bekleckert sich nie, er zappelt nicht. Er schnippelt und faltet, die Kanten rieseln in seinen Mülleimer. Danach saugt er unter seinem Platz und ich bestaune dieses außergewöhnliche Kind. Doch auch ich finde zu mir selbst, hole mir ein Stück meiner Kindheit und Jugend zurück, in der meine Kreativität so oft als mittelmäßig, mein Werken als durchschnittlich beurteilt wurden.
„Da hat ihnen jemand was kaputt gemacht“, sagte mir neulich ein Bastelbuchautor auf dem Buchmesse, mit dem ich mich lange darüber unterhielt, wie man Kinder beim Basteln am besten begleitet. „Loben Sie, egal wie krumm die Kante ist“, sagte er. „Und machen Sie mit, haben sie einfach Spaß.“ Wir haben sein Bastelbuch in zwei Tagen durchgebastelt, ich habe ihm ein Foto gezeigt, er konnte nicht glauben, dass Max erst drei ist. Und ich habe tatsächlich eigentlich nur die Klebefalze festgedrückt, alles andere hat Max gemacht.
Am Wochenende war mein Patenkind bei uns zu Besuch. Er ist zwölf Jahre alt und mit seinen weiten Shirts und Haaren über den Augen sieht er aus, als würde er sich gerne unsichtbar machen. Max bestürmte ihn, er solle ihm ein Motorrad im Hof mit Kreide malen, danach ein paar Sterne basteln. Aber er hatte keine Lust. „Ich kann das nicht“, sagte er missmutig. „Das habe ich auch immer von mir gedacht“, sagte ich und nahm ihn fest in den Arm. „Wenn du eines Tages jemanden hast, der deine Arbeiten bedingungslos schön findet, wirst du merken, dass auch du es kannst. Dass es nicht nur auf Perfektion ankommt. Und dass es sogar richtig Spaß macht.“
Mein Patenkind hat dann am Abend für uns Sushi gerollt und ist dabei richtig aufgeblüht. Und die Zubereitung dieser Delikatesse ist dem Basteln ja gar nicht so unähnlich. Algenpapier auf den Tisch, Reis darauf verteilen, mit einer Bambusmatte rollen, vorsichtig auseinanderschneiden. Max lobte die Schönheit der Rollen und probierte sogar ein Stück. Die Augen meines Neffen leuchteten vor Glück. Und unsere dazu.