Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Mama, wir werden die Masken nie, nie wieder los“

Maya (14) sagt, sie müsse nun „endlich, endlich“ in Weihnachtsstimmung kommen und möchte sich einen lustigen, weihnachtlichen Film anschauen. Wir suchen Verrückte Weihnachten mit Jamie Lee Curtis, Tim Allen und Dan Aykroyd aus. Die Story: Luther Krank, alias Tim Allen, beschließt, Weihnachten ausfallen zu lassen und stattdessen mit Frau Nora die Feiertage in der Karibik zu verbringen. Da Tochter Nora im Ausland weilt, ist für das Ehepaar Weihnachten sowieso nicht das, was es mal war. In einer Anfangsszene hechtet Luther durch den strömenden Regen in ein Geschäft, um Pistazien und weiße Schokolade zu besorgen. Plötzlich stöhnt Maya neben mir auf. „Oh Gott, ich habe gerade wieder gedacht: Hey, der läuft ohne Maske in den Laden.“ Lara (17) nickt: „Habe ich gerade auch gedacht. Die meisten Filme kommen mir inzwischen vor wie aus einer anderen Epoche, selbst wenn sie noch gar nicht so alt sind. Ich kann mich bald nicht mehr daran erinnern, wie es vor Corona war und wie es ist, ohne Maske irgendwo reingehen zu dürfen.“

Unter 2-G-Bedingungen: Weihnachtsmarkt in Essen
Unter 2-G-Bedingungen: Weihnachtsmarkt in Essen

Das geht mir genauso. Corona hat sich in unserem Alltag breitgemacht und gaukelt unschuldig Normalität vor. Es ist daher gut, wenn Film und Fernsehen an unser altes Leben erinnern. Ich will keinen Tatort, in dem die Ermittler mit Maske rumlaufen, nur weil man sich um eine aktuelle Darstellung bemüht oder die Statisten nicht oft genug getestet wurden. Ich verstehe die Hälfte der Dialoge aufgrund der schlechten Tonqualität in den Öffentlich-Rechtlichen auch so schon kaum. Wenn dann noch durch Masken genuschelt wird, kann ich direkt abschalten. Außerdem möchte ich, zumindest auf dem Sofa vor dem Fernseher, die Pandemie für ein paar Stunden vergessen dürfen.

Maya hat im Sommer den neuesten Band der Conni & Co. Reihe gelesen und enttäuscht festgestellt, dass Corona in der Geschichte erwähnt wird. Das hat sie unsagbar genervt. „Kann nicht wenigstens bei Conni alles beim Alten bleiben?“, sagte sie beleidigt. Ich verstand sie. Ich sehe keine Notwendigkeit, dass in Filmen und Büchern, die der Unterhaltung und Ablenkung dienen, dem Virus unnötig Raum geboten wird. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass meinem Radiowecker irgendwann eine andere Begrüßung als „Guten Morgen, hier sind die aktuellen Corona-Zahlen“ einfällt. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, meinen Töchtern nicht bis zum Abitur „Habt ihr auch das Frühstück und die Masken eingepackt?“ hinterherrufen zu müssen. Dabei kann ich mir die Erinnerung eigentlich sparen. Maya und Lara würden eher ihr Frühstück als den Mundschutz vergessen. Er ist für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Hin und wieder, sagt Maya, wäre die Maske sogar ganz praktisch. Zum Beispiel, als sie im Sommer ihre feste Zahnspange bekommen hatte und sie die ungewohnten Gerätschaften in ihrem Mund prima verstecken konnte. An kalten Tagen, wenn ihr der Fahrtwind auf dem Rad kalt ins Gesicht bläst, benutzt sie die Maske als Wärmeschutz. Und wenn wir die Straße zur Post entlanggehen, wo es immer so streng riecht, ist sie dankbar, etwas über die Nase ziehen zu können. Und da sie von dem dauerhaften Masken-Tragen mit Hautirritationen und Pickelchen um den Mund zu kämpfen hat, fühlt sie sich „ohne“ manchmal regelrecht unwohl.

Dass die Adventszeit 2021 nach wie vor von Covid-19 geprägt sein wird, habe ich – wie die meisten Politiker – nicht wahrhaben wollen. Ein bisschen hatte es mich allerdings dann schon gewundert, als plötzlich die Teststellen und Impfzentren abgebaut und stattdessen Weihnachtsmärkte aufgebaut wurden, nur um dann anschließend einen großen Teil der Weihnachtsmärkte wieder zu schließen und die Teststellen und Impfzentren an anderer Stelle hochzuziehen. Ich persönlich kann auch dieses Jahr auf den Weihnachtsmarkt verzichten. Obwohl geimpft, verspüre ich keinerlei Lust auf Stadtbummel und Co. und bin – so leid es mir für den Einzelhandel tut – zum Onlineshopping übergegangen, um die notwendigsten Geschenke zu besorgen. Dabei mag ich eigentlich die Weihnachtszeit. Zumindest war das bis vor zwei Jahren so.

Ende November war ich mit Maya in der Stadt, um ein paar Dinge zu erledigen. Es war ein trockener, sonniger und kalter Tag, die 2-G-Regel für den Einzelhandel war in NRW gerade verkündet worden. In der Fußgängerzone war auffallend wenig los. Mir verging dennoch schnell die Lust, weil ich mich in jedem Geschäft mit meiner beschlagenen Brille abmühen musste. Nachdem wir ein paar Dinge gekauft hatten, wollte ich Maya eine Freude machen und mit ihr eine Runde über den Weihnachtsmarkt drehen. Ich schlug vor, einen neuen Stern für unser Fenster zu kaufen und einen Fruchtpunsch zu trinken, um in Weihnachtsstimmung zu kommen.

An der Einlasskontrolle kämpfte ich mit meinen Taschen, dem Handy, fummelte mit eiskalten Fingern die Personalausweise aus dem Portemonnaie, ließ dabei die Hälfte fallen und war endgültig genervt. Nach der ordnungsgemäßen Kontrolle bekamen wir einen Stempel auf unseren Handrücken und durften in den mit Gittern abgesperrten Bereich. Der Platz war leer, lediglich am Reibekuchenstand tummelten sich ein paar Leute. Uns taten die Leute mit ihren Ständen leid, die uns erwartungsvoll anschauten und nicht so aussahen, als hätten sie an diesem Tag schon viel verkaufen können. Es lief keine Musik, und wir fühlten uns durch die Stille merkwürdig beklemmt. Wir kauften ein paar gebrannte Mandeln und entschieden nach nur wenigen Minuten, den Besuch abzubrechen und nach Hause zu fahren.

Um an diesem Abend die vorweihnachtliche Kurve zu bekommen und weil meine Tochter traurig wirkte, erhitzte ich zu Hause Fruchtpunsch, zündete Kerzen an, ließ Weihnachtsmusik laufen und spielte mit Maya am Küchentisch Uno und Monopoly. 

„Wir bleiben Zuhause“ – zwangsläufig auch in diesem Jahr das Credo. Deswegen sitzen wir, wie schon im vorangegangenen Jahr, sehr oft gemeinsam auf dem Sofa und schauen Weihnachtsfilme: Eine schöne Bescherung, Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, Als Michel das Fest für die Armen gab, Tatsächlich Liebe, Versprochen ist Versprochen, Kevin allein zu Haus, Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück, Der Grinch, Last Christmas und heute eben Verrückte Weihnachten.

„Mama“, sagt Maya nun. „Wann glaubst du, ist Corona verschwunden?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Weißt du, was ich denke? Wir werden die Masken nie, nie wieder los.“

Ihre Aussage stimmt mich traurig. Am Anfang der Pandemie war ich noch positiv eingestellt und habe meinen Töchtern immer wieder versichert, dass wir zwar alle durch diese blöde Zeit müssen, aber dass es auch irgendwann vorbei sein würde … Wenn wir uns jetzt alle zusammenreißen und Kontakte meiden … Wenn der Impfstoff entwickelt ist … Wenn die alten Leute und Risikogruppen geimpft sind … Wenn genug Impfstoff für alle zur Verfügung steht… Wenn die Impfquote erreicht ist … Wenn keine weiteren Virusvarianten bei uns ankommen … Inzwischen mag ich keine unqualifizierten Prognosen mehr abgeben.

Die Pandemie kommt mir selbst als Erwachsener inzwischen unendlich lang vor. Und ich bin eigentlich in einem Alter, in dem die Monate und Jahre immer schneller und schneller zu vergehen scheinen. Aber unangenehme Dinge dauern gefühlt immer länger als schöne Zeiten. Wie muss es sich erst für ein Kind anfühlen? Wie eine Ewigkeit?! Wie Normalität? Sind Masken und Lolli-Tests für Grundschüler inzwischen etwas Normales, immer schon Dagewesenes? Werden sich die Kinder später an den Geschmack der Stäbchen in ihrem Mund erinnern, wenn sie an ihre Grundschulzeit zurückdenken? Werden sie sich an die Gesichter ihrer Grundschullehrerinnen und -lehrer erinnern können?

Obwohl ich es Luther Krank gerne gleichtun und Weihnachten am liebsten ausfallen lassen würde, werde ich auch dieses Jahr versuchen, alles so alt-normal und schön wie möglich für die Kinder auszurichten. Das tun die Kranks dann letztendlich ihrer Tochter zuliebe ebenfalls in alter gewohnter Weise.

Man muss so viele schöne Erinnerungen wie möglich schaffen, um die nicht so schönen Ereignisse qualitativ und quantitativ zu überlagern. Für nächstes Jahr wünsche ich uns allen, dass Masken und derlei nicht mehr mit so einer großen Selbstverständlichkeit unseren Alltag bestimmen. Ich wünsche uns, dass Weihnachten 2021 unser letztes verrücktes Weihnachten sein wird.