Vor einigen Tagen ist die Seuche in meinen Träumen angekommen. Ich habe geträumt, dass wir auf einem Kindergeburtstag waren und die Kinder plötzlich Bauchschmerzen bekamen. Kurz darauf die Botschaft, dass ein Geschwisterkind positiv getestet wurde. Ich habe die Angst gefühlt, die mich sonst am Tag begleitet, die Hilflosigkeit und die Schuldgefühle: Wie konnten wir nur so leichtsinnig sein, auf einen Kindergeburtstag mit drei (!) anderen Kindern zu gehen.
In Wirklichkeit waren wir in den vergangenen zwei Jahren auf keinem einzigen Kindergeburtstag. Wir waren nicht im Kino und haben uns nur mit Freunden getroffen, wenn sich alle vorher getestet hatten. Meistens draußen, selbst bei Regen oder Schnee. Wir waren nicht bei der Einschulung meiner Nichte und haben keine Taufe gefeiert. Und seit einigen Wochen sind wir zu einer Schattenfamilie geworden.
Wir sind eine Familie mit zwei Kleinkindern in selbstgewählter und doch unfreiwilliger Isolation. Wir sind dazu gezwungen, weil die Politik es seit zwei Jahren nicht schafft, ein tragfähiges Konzept für Kitas, Kindergärten und Schulen zu entwickeln, in dem Kinder sich nicht unweigerlich infizieren oder in Winterjacken und mit Masken viele Stunden ausharren müssen. Oder in denen Erzieher mit FFP2-Masken Kleinkinder betreuen, die auf Mimik noch mehr angewiesen sind als auf das gesprochene Wort.
Wir sind dazu gezwungen, weil jede Kita selbst entscheiden kann und muss, ob sie das Testen der Kinder für sinnvoll erachtet und unsere Einrichtung dafür leider keinen Bedarf sieht. Anders als die Nachbarstadt zahlt unsere Kommune keinen Zuschuss zu solchen Tests. Pech gehabt.
Und wir sind zur unfreiwilligen Isolation gezwungen, weil einige Menschen, gerade der Altersgruppe 60plus, die Pandemie für sich als beendet sehen, seit sie geboostert sind und sich beispielsweise weigern, sich vor den Treffen testen zu lassen („sind doch geboostert“) oder auf liebgewonnene Freizeitaktivitäten zu verzichten. Dass sie damit eine Ansteckung von Menschen riskieren, die uns nahestehen und unseren Kindern nahekommen, scheint ihnen egal zu sein.
Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie zerbröselt die Solidarität. Oder war sie nie da?
Im Dezember hat sich unser kleiner Sohn Lenny mit dem RS-Virus infiziert, ein Erreger, der momentan die Kinderstationen in den Kliniken mit infizierten Kindern füllt, der die Lungenbläschen verklebt und kleine Kinder am Atmen hindert. Er ist wieder gesund, doch seine Lunge hat gelitten. Eine Corona-Infektion käme Russisch-Roulette gleich.
Ich habe mit der Kita-Leitung gesprochen und darum gebeten, ein Testkonzept zu entwickeln. Vergeblich. Ich habe in der Whatsapp-Gruppe der Einrichtung darum gebeten, die Kinder regelmäßig freiwillig zu testen. Drei Eltern waren einverstanden, einer schrieb mir: „Da machen wir keinesfalls mit. Omikron ist für Kinder nicht schlimmer als eine Erkältung.“ Der Rest blieb stumm.
Uns blieb keine andere Option, als den großen Bruder Anfang Januar aus der Kita zu nehmen, um den kleinen Bruder vor einer Ansteckung zu schützen. Drei Tage später hatte sich das erste Kind aus seiner Gruppe mit Omikron infiziert und mit ihm zwei weitere. Seither ist die Gruppe immer mal wieder ein paar Tage geöffnet und dann wegen des nächsten Positiv-Tests wieder für fünf Tage geschlossen.
Denn auch wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eine Durchseuchung in Kitas und Schulen als „unethisches Experiment“ bezeichnet und regelmäßig vor Long Covid und anderen Folgeerkrankungen warnt, so ist eine Durchseuchung momentan das, was in den Krabbelstuben, Kindergärten und Grundschulen passiert. Die Inzidenzen liegen bei Kindern und Jugendlichen in manchen Bundesländern über 5000.
Dass der Generationenvertrag offenbar einseitig geschlossen wurde, schmerzt uns sehr. Wir haben unseren damals zweijährigen Sohn im ersten Lockdown viele Wochen lang völlig allein betreut, irgendwie, neben der Arbeit her – die Kita wurde auf Anordnung des Staates geschlossen, Oma und Opa zu treffen war aus Sicht der Virologen so unverantwortlich wie unethisch. Wir taten unser Bestes, die vulnerable Gruppe der 60plus zu schützen.
Jetzt sind die Alten in weiten Teilen geimpft und geboostert – und zur vulnerablen Gruppe werden die Kinder, für die es momentan noch keine Impfungen gibt oder die noch nicht den vollständigen Impfschutz haben. Die sich oft nicht einmal durch Masken schützen können und der Seuche jetzt hilflos ausgeliefert sind.
Deren Verläufe meist mild sind, aber die Spätfolgen wie Long Covid oder PIMS noch weitgehend unerforscht. Für sie könnten die hohen Infektionszahlen gefährlich werden – doch kaum noch jemanden scheint das zu kümmern, liegt die Inzidenz doch in der Gruppe der 60 plus bei unter 200 und Lauterbach nennt die Pandemie „gut unter Kontrolle“.
Viele unserer Freunde jonglieren seit der Omikron-Welle wieder mit Kinderbetreuung durch Quarantäne und der eigenen Arbeit. Hat die Kita wieder offen, bleibt ihnen oft keine Wahl, als die Kinder hinzuschicken. Während sie also wie wir vor dem Dilemma stehen, arbeiten zu gehen oder die ungeimpften Kinder an einen Ort zu schicken, an dem sie sich unweigerlich über kurz oder lang mit Covid infizieren werden, Ausgang unbekannt, spucken uns viele der 60plus ihre Pandemiemüdigkeit entgegen.
Halten an der Supermarktkasse keinen Abstand statt eine Minute zu warten, bis wir aus dem Weg gegangen sind, treffen sich zu Kartenabenden oder verabreden sich zu Geburtstagsfeiern im Restaurant. Was für die Jungen seit Beginn der Pandemie selbstverständlich ist (Verzicht und ständiges Testen selbst der Kleinsten, alles, um die Alten zu schützen), scheint andersherum nun vermessen.
Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten, und ob wir verhindern können, dass Lenny sich ansteckt. Doch ich weiß, dass Soziologen und Politiker vor den Folgen der Isolation warnen. Es ist nicht kindgerecht, den ganzen Tag nur mit Mama und Papa zu spielen und zu allen anderen Kindern auf Abstand zu bleiben, wir haben das im ersten Lockdown gemerkt. Max fing an zu rennen, sobald er in hundert Metern Entfernung ein Kind erblickte. Er wollte dorthin.
Lenny absolviert seinen Pekip-Kurs online, für Max gibt es diese Angebote nicht. Er darf nicht ins Kinderturnen, nicht zum Zwergenjudo und nicht in ein Spielwarengeschäft. Ich hoffe, dass wir eines Tages rückblickend sagen können, dass unsere Entscheidung die richtige war. Es ist momentan die einzige, die uns bleibt.