„Mama, wo bin ich geboren?“, fragte unser Sohn Max mich neulich auf dem Rückweg vom Kindergarten. „Hier in der Nähe, mein Schatz, in einem Krankenhaus mitten im Wald.“ „In einem Wald?“ fragte Max erstaunt. „Aber ich habe den anderen Kindern doch gesagt, dass ich in Australien geboren worden bin.“ Ich musste lächeln. Der kleine Weltenbummler. Max ist mit seinen drei Jahren tatsächlich weiter gereist als meine Eltern und viele unserer Freunde. Er planschte als Säugling mit uns ins Singapur im Meer, er umrundete schlafend in seiner Trage den Ayers Rock in Australien. Er probierte Muscheln in Nordfrankreich und schipperte mit uns in einem Boot über den Zürisee.
Vor seiner Geburt lebten wir in einer kleinen loftigen Neubauwohnung mitten in der Stadt und bereisten in unserer freien Zeit die Welt – Indien, Malaysia, Amerika und weite Teile der arabischen Welt. Es konnte uns kaum trubelig genug sein, es war uns nie zu wuselig und selten zu laut.
Doch kaum zurück aus Australien, als Familie mit Kleinkind, war uns alles in unserem Stadtleben zu lärmend, zu eng, zu betoniert, zu hellhörig, zu stressig. Wir schliefen schlecht und fanden keine Ruhe in unserer Wohnung. Um Ruhe für Max zu finden, mussten wir einmal das ganze Viertel durchqueren. Kaum kamen wir mit dem Kinderwagen zu Hause an, schlug er die Augen wieder auf.
„Rausziehen ins Grüne“ – diese Vorstellung fand ich bis dahin so unattraktiv wie abstoßend. Die leere Weite Brandenburgs aus den Büchern von Juli Zeh, die fehlende Anbindung, die belächelten Spießer, die kurz nach der Geburt der Kinder in den Speckgürtel ziehen und sich in viel zu großen Häusern das Pendeln wie das Leben im Neubaugebiet schönreden („schon in 25 Minuten in der Stadt und im Ort gibt es sogar einen Bäcker“). Die sich in den immer vier gleichen Wänden langweilen, Netflix schauen und Pauschalurlaube buchen. Jetzt bin ich eine von ihnen.
Auch wir sind rausgezogen, weil wir unseren Kindern ermöglichen wollten, draußen Verstecken zu spielen und gute Luft zu atmen. Kino, Großstadt und Abwechslung haben wir gegen Platz, Ruhe und einen Garten mit Sandkiste und Kletterbaum eingetauscht. Direkt hinter dem Grundstück beginnen Felder und kurz dahinter der Wald. Max liebt es, dem Bauern in der Nachbarschaft eine Stippvisite abzustatten und saust mit seinem kleinen Roller energisch drauf los. Er kennt alle Vogel- und Wildtierarten und in der Nacht leuchtet über uns der Sternenhimmel.
Auch wir brauchen „nur“ 25 Minuten in die Innenstadt (mit den Öffis zugegebenermaßen leider 45), sind Mitglieder im Sportverein und freuen uns, dass es im Ort nicht nur einen Bäcker, sondern auch einen Supermarkt, ein italienisches Restaurant und in der Nähe ein Schwimmbad gibt. Auch wenn unsere Nachbarn ein bisschen kauzig sind und gefühlt die Zeit stoppen, wie lange ein fremdes Auto im Hof parkt oder wer als letztes die geleerte Mülltonne reinholt, hätten wir vor allem in den vergangenen beiden Pandemiejahren an keinem anderen Platz sein wollen. Dachte ich.
Bis Max mir vor kurzem ein Treffen mit einem neuen Kindergartenfreund aus den Rippen leierte. Wir trafen uns auf dem Waldspielplatz, setzten an zum üblichen Elterntalk – wo wohnt ihr, was macht ihr, wie lange seid ihr schon hier – als das Gespräch eine lange nicht mehr eingeschlagene Wendung nahm. „Wir waren jetzt drei Jahre in Singapur“, sagte die Mutter. „Sind erst im Herbst zurückgekommen.“ Singapur! Wie schnell waren die Spielplatzthemen vergessen, und wir schwärmten gemeinsam von den kleinen und großen Foodständen, den Gardens by the Bay und dem Klima, in dem T-Shirt und Flipflops eine angemessene Garderobe sind.
Sie erzählte vom Alltag in einer internationalen Community, Sportkursen im Botanischen Garten und digital aufgerüsteten Kindergärten und Schulen – und mein Herz gab mir einen Stich. Auch wir hatten vor einigen Jahren überlegt, einige Jahre ins Ausland zu gehen, einfach, um noch einmal etwas anderes zu erleben, flexibel zu bleiben, mit neuem Wind durchgepustet zu werden. Wir hatten den Plan verworfen, weil Max Schwierigkeiten mit Veränderungen hatte. Wir wollten ihn nicht aus seiner gewohnten Umgebung reißen, weg von Oma und Opa, hinein in eine Millionenmetropole mit vollgestopften U-Bahnen, neuer Sprache und anderer Erziehungsmentalität.
Und dennoch fühlte sich nach dem Treffen auf dem Spielplatz mein Leben hier draußen plötzlich grau und langweilig an, weit weg von allem Lebendigen, dem Quirligen der Stadt und Flexibilität der Stadtkinder, die mühelos U-Bahn fahren oder in Malls Eis essen, während hier jedes Lastenrad, jedes Flugzeug und jede Kehrmaschine für Entzücken sorgt und schon ein Besuch im Supermarkt manchmal zu Überforderung führt.
Ich fühlte mich behäbig und spießig mit unserer kleinen Welt aus selbstgeschnippelter Hühnersuppe und Kuchen aus Sandkastensand, aus strengen Schlafengehzeiten und Diskussionen ums Zähneputzen. Ich ärgerte mich über die noch spießigeren Nachbarn und die Vereinzelung in den Häusern und wünschte mich weit weg beziehungsweise: mitten hinein ins „echte“ Leben.
Eine Woche lang war ich ziemlich deprimiert, schaute missmutig auf den im Winterschlaf befindlichen Garten, die wegen Personalengpass geschlossene Pizzeria und den alltäglichen Rushhour-Verkehr auf der Autobahn, den wir von einem der matschigen Feldwege beobachteten. Bis mich eines Morgens unser Garten voller Schneeglöckchen begrüßte, ich auf dem Weg zur Kita einen Vogel singen hörte und ein neues koreanisches Café in der Nähe des Spielplatzes entdeckte.
Ich setzte meine verspiegelte Sonnenbrille auf, setzte mich auf eine Parkbank und sah meinem großen Kind zu, wie es sich glücklich in seinem Skianzug einen Matschhang hinunterkugelte, sich hinter den dicken Bäumen versteckte und dann Boote aus Blättern im Bach schwimmen ließ. „Komm, wir spielen Verstecken, Mama.“ Das Glück durchflutete mich, noch bevor ich es merkte.
Ich weiß, dass wir hier am richtigen Platz sind, nah an der Natur mit viel Raum und spießigen Routinen. Es werden andere Zeiten kommen – und darauf freue ich mich. Bis dahin lebe ich nach dem Motto: „Stadt ist, was du draus machst“ und suche mir hier im Ländlichen meine „Stadt“-Inseln – ein Café, einen Bücherschrank, einen asiatischen Supermarkt. Mein Mann und ich haben bald wieder gemeinsam Elternzeit. Dann wollen wir mit beiden Kindern wieder losreisen. Städte, eine Fähre und einige Abenteuer stehen auf der Liste. Doch ich weiß jetzt, dass ich mich auch schon wieder freue, danach hierher zurückzukehren.