Als Deutscher in Frankreich muss man heute eigentlich nicht mehr befürchten, aufgrund der Ereignisse im Weltkrieg mit Ablehnung oder Distanz konfrontiert zu werden. Ich bin häufiger in Deutschland gefragt worden, ob das noch ein Problem sei, als dass ich in Frankreich historisch begründeter Zurückhaltung begegnet wäre. Allerdings ist die belastende Vergangenheit sehr präsent: Das öffentliche Gedenken der Gefallenen aus den beiden Weltkriegen ist in Frankreich eine Selbstverständlichkeit.
Am 11. November versammeln sich in den Gemeinden die Honoratioren zu einer zeremoniellen Kranzniederlegung. Das Leben und Sterben der letzten überlebenden Soldaten des Ersten und des Zweiten Weltkriegs sind Ereignisse, die große mediale Aufmerksamkeit erzielen. Die Tage, die das Ende der beiden Kriege in Erinnerung rufen, eben der 11. November sowie der 8. Mai, sind nationale Feiertage, es ist schulfrei. Historische Dokumentationen über Themen und Personen aus diesen Kriegen kann man im französischen Fernsehprogramm nahezu täglich finden.
Französische Kinder kennen aus dem Fernsehen am ehestens die deutschen Worte „Achtung!“ und „Schnell, schnell!“, eben was Wehrmachtssoldaten im französischen Spielfilm so rufen – man denke nur an La Grande Vadrouille mit Louis de Funès! Es gibt die Sachbuchserie Mes P’tits Docs d‘Histoire für Kinder ab drei, die eine Reihe typischer Themen wie Ritter und Piraten behandelt, aber eben auch zwei ganz kindgerechte Darstellungen der Schützengräben von Verdun und des Hitlerschen Terrorkriegs in Europa im Angebot hat. In diesem Kontext entwickelt man als Deutscher eine gewisse Sensibilität mit Blick auf das Thema.
Wie ich schon an früherer Stelle erwähnte, war mir daran gelegen, dass unser Sohn Max in Frankreich auch die deutsche Sprachwelt kennenlernt. Ich las ihm also regelmäßig Kinderbücher auf Deutsch vor, den ökologisch inspirierten Maulwurf Grabowski etwa oder die Geschichte von Max bei den Wilden Kerlen (die ja wirklich mysteriös ist – achten Sie einmal auf den Mond!), die Geschichte von Frederick, der mit Kunst und Literatur im kalten Mäusewinter Sinn stiftet, die Geschichte vom Kleinen Bär und Kleinen Tiger, zwei Männchen, die glücklich zusammenleben, und natürlich die Geschichte vom Grüffelo, die ja eigentlich die Geschichte einer sehr klugen Maus ist.
Man muss wissen, dass Frankreich das absolute Kinderbuchland ist. Es gibt jedes Jahr eine Fülle von Titeln verschiedener Verlagshäuser. Das Kinderbuch ist ein eigenes Genre der Hochkultur und erfährt auch seitens der öffentlichen Hand erhebliche Förderung. So ist es üblich, dass schon in der Ecole maternelle, also dem Pendant zum hiesigen Kindergarten, die Eltern für ihre Kinder ein Verlagsabonnement abschließen können. Gegen ein geringes Entgelt erhalten die ganz jungen Abonnenten dann monatlich ein Kinderbuch, zum Beispiel aus dem Haus Ecole des loisirs.
Sie müssen sich also meine Situation vorstellen: Überall wunderschöne französische Buchläden mit riesigen Regalflächen nur für Kinderbücher, eine Fülle an poetischen Titeln in liebevoller grafischer Gestaltung und davon dann noch ein staatlich subventionierter monatlicher Nachschub. So wurden Omas, Tanten und Patenonkel in Deutschland zum Buchschenken animiert; wenn die Ferien nach Deutschland führten, kümmerte ich mich um den Einkauf von Kinderbuchvorräten; aber ich griff auch auf meine eigenen Bestände zurück, die seit Mitte der Achtziger Jahre bei der Oma eingelagert waren und dort nun vom Dachboden und aus Kellerregalen hervorgeholt wurden. Darunter auch zwei deutsche Kinderbuchklassiker: Max und Moritz sowie Der Struwwelpeter.
Ich bin mir nicht sicher, ob Wilhelm Busch Max und Moritz wirklich als Kinderbuch gedacht hat, wirkt das Ganze aus heutiger Sicht doch eher als die Satire einer Gesellschaft, die – auf soliden moralischen Werten gegründet – zu deren Verteidigung nicht vor dem bestialischen Mord an zwei Kindern zurückschreckt. Aus kindlicher Sicht jedoch erhalten die beiden Übeltäter Max und Moritz, die insbesondere der Witwe Bolte und dem Lehrer Lämpel böse mitspielen, ihre gerechte Strafe, wenn sie der Müller am Ende von der Mühlmaschine zu Schrot zerkleinern lässt.
Der Struwwelpeter war eindeutig als Kinderbuch gedacht und bot Eltern des 19. Jahrhunderts sicher manche Hilfestellung, wenn es um die Ausrichtung des moralischen Kompasses ihrer Kinder ging. Als Kind habe ich dieses Buch so geliebt, dass ich mehrere Geschichten auswendig hersagen konnte. Beide Bücher konfrontieren die Kinder mit der Welt des Bösen. Max und Moritz handeln zweifellos böse: Sie quälen Hühner zu Tode und nehmen in Kauf, dass ihr Lehrer schwerste Brandverletzungen davonträgt. Bei Heinrich Hoffmann ist es der „Böse Friederich“, der Katzen totschlägt und Fliegen die Flügel ausreißt, oder die drei Mobber, die sich über einen Mann mit dunkler Hautfarbe lustig machen.
Während diese Übeltäter ihre „gerechte Strafe“ erhalten, gibt es aber auch die Geschichte vom Paulinchen, von der – nach dem Spiel mit den Zündhölzern – nur zwei Schuhe und ein Haufen Asche übrig bleiben, oder die Tragödie vom Suppenkaspar, der nach vier Tagen Weigerung, seine Suppe zu essen, verhungert. Beide Kinder erleiden die Konsequenzen ihres Ungehorsams. Ungehorsam ist schließlich auch Thema der schlimmsten dieser Bildergeschichten, jener von Konrad, dem Daumenlutscher, dem der Schneider mit der großen Schere schnipp-schnapp die Daumen abschneidet. Ungehorsam, unbotmäßiges Verhalten, drakonische Strafen, heute kann man über die zugrunde liegenden Erziehungsideale lächeln.
Bei der Wiederentdeckung im französischen Kontext jedoch wurde mir mulmig zumute. Auf einmal beschlich mich Unbehagen: Kann man zwischen dem Autoritarismus und der Brutalität dieser Kindergeschichten und der dominanten Geisteshaltung der deutschen Gesellschaft im Vorfeld der beiden Weltkriege einen Zusammenhang herstellen? Der Gedanke ging mir nicht mehr aus dem Kopf, dass ein Franzose, der Max und Moritz oder den Struwwelpeter liest, sich womöglich nicht mehr über den Absturz der „Kulturnation“ Deutschland in Autoritätsgläubigkeit, Aggression und Massenmord wundern würde.
Im Kindergarten durften die Kinder immer mal wieder ihre Lieblingsbücher von zuhause mitbringen. Ich achtete darauf, dass unser Max nicht auf die Idee käme, den Struwwelpeter mitzunehmen. Vielleicht ist es aber auch so, dass ich in meiner interkulturellen Sensibilität womöglich ein bisschen zu sensibel war.
Unser Sohn liebte die Geschichten, vor allem den Struwwelpeter. Jetzt zurück in Deutschland denke ich: es sind einfach gute Geschichten! Man kann sie sehen als Horrorgeschichten für Kinder – zum wohligen Gruseln, nach deren Lektüre man sich versichern kann, dass die eigene Realität doch nicht so schlimm ist. Eine der absolut liebsten Geschichten von Max war übrigens die von Konrad, dem Daumenlutscher.