Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

„Was ich dir sagen will, mein Kind“

Kürzlich habe ich das erste Mal seit zwei Jahren wieder einen Film im Programmkino gesehen. Darin ersetzen Androiden die Lebenspartner, sie sind darauf programmiert, ihr Gegenüber glücklich zu machen. Um als spannende Gesprächspartner anzukommen, sind sie verknüpft mit Suchplattformen, digitalen Bibliotheken und Musikdatenbanken.

Durch diesen Joker sind sie in allen Themengebieten der Allgemein- und Spezialbildung bewandert, vom aktuellen Kunstmarkt bis zu Erster Hilfe, können ein Gedicht aus dem Stand aufsagen und das minimierte Risiko eines Verkehrsunfalls durch eine optimierte Sitzhaltung berechnen. Statt nachts zu schlafen, räumen sie auf, sortieren Bücher um und Gerümpel aus und wecken morgens mit frisch gebrühtem Kaffee und frischen Blumen. Ich war ein wenig neidisch auf sie. Keine Aufschieberitis, kein Gedankenkarussell, kein erschöpftes Ich-kann-nur-noch-auf-dem-Sofa-liegen-und-Netflix-gucken. Anfangen, anpacken, abhaken.

Nun bin ich natürlich kein Android und muss schlafen – aber könnte ich heute auch Koreanisch sprechen, wäre klüger, erfolgreicher und zufriedener, wenn ich seit meiner Jugend täglich zehn Seiten in einem Sachbuch gelesen oder zehn Minuten Koreanisch gelernt hätte?

Der Film sponn einen Gedanken weiter, den ich schon lange mit mir herumtrage: Die Frage danach, wie ich mein eigenes Leben in der Vergangenheit hätte optimieren können und welchen Rat zum Zeitinvestment ich meinen beiden Söhnen gerne mit auf den Weg geben würde. „Wenn sie nur jeden Tag ein bisschen weniger schlafen, ein bisschen joggen oder Skateboard fahren, Französisch lernen oder einige Seiten Ratgeber lesen, werden sie nach einigen Jahren alle diese Fähigkeiten wie selbstverständlich perfekt beherrschen“, sinniere ich. „Das ist doch Quatsch“, sagt mein Mann. „Wir wollten doch auch nie, dass unsere Eltern uns vorgeben, was wir wann zu tun haben. Die Kinder sollen selbst rausfinden, was sie wollen und wie viel Zeit sie da reinstecken wollen. Die Erfahrung müssen sie schon selbst machen.“

Ich weiß es ja. Zu diesen Erfahrungen gehört auch, sich 20 Jahre später darüber zu ärgern, damals nicht etwas fleißiger, interessierter oder eben auch cooler gewesen zu sein.

Fünf Stunden verbringen Amerikaner täglich an ihren Smartphones, habe ich heute wieder gelesen. Fünf Stunden vergeudete Lebenszeit, naja, mindestens viereinhalb, wenn man eine halbe Stunde für Kontaktpflege und Terminvereinbarungen abzieht. Wenn ich daran denke, wofür man diese Zeit alles nutzen könnte, wird mir fast schwindelig.

Zum Sport gehen, Gesellschaftsspiele spielen, schlafen, Yoga machen, Freunde treffen, Wein trinken und und und. Wer kleine Kinder hat, kann nachempfinden, wie wertvoll oft schon zehn Minuten sind. Und doch habe auch ich täglich drei bis vier Stunden Smartphone-Zeit angesammelt, das zeigt mir mein Telefon an.

Als Mutter von zwei sehr kleinen Kindern gestalte ich momentan noch in weiten Teilen ihr Leben. Ich entscheide, was ich für sie koche (das ist nicht unbedingt das, was sie später essen), wann sie schlafen gehen (aber leider nicht, wann sie aufstehen) und womit sie ihre Zeit verbringen (soweit unsere Vorstellungen kompatibel sind). Ich bin kein Fan davon, ihre Tage mit Terminen zu füllen.

Mit Max gehe ich einmal in der Woche zum Kinderturnen, im Rest der Woche lassen wir ihm bewusst die Nachmittage frei für die vielbeschworene Langeweile, die sich bei ihm doch nie einstellt. Max spielte schon immer am liebsten und am schönsten, wenn wir einfach dabeisaßen. Wir mussten gar nicht mitspielen, nur da sein. „Mehr sein, weniger machen“, ist ein Mantra, das mir häufig auf Instagram begegnet. Erst seit ich Kinder habe, begleitet es mich in meinem Leben.

Wenn man darüber nachdenkt, was man für die eigenen Kinder wünscht, fällt einem natürlich unweigerlich die eigene Kindheit ein, die Ideale und Wünsche der eigenen Eltern. Ein Instrument zu spielen und eine Sportart auszuüben, waren bei meinen Eltern Pflicht. Ich habe recht gut Flöte spielen gelernt, doch obwohl ich Woche für Woche zum Handball trottete, wurde aus mir nie eine große Spielerin. Ich hätte wohl mutiger sein müssen und einfach mal die Sportart wechseln. Erst als Teenager begann ich zu tanzen und fand darin meine Leidenschaft.

Die Vorstellung, dass meine Kinder ihre Jugend vielleicht mit Herumhängen, Kiffen oder Computerspielen verbringen könnten, ist quälend für mich. Dabei hatte auch ich Phasen, in denen ich mich vor allem mit Computerspielen, Telefonieren oder Schwärmen für Oberstufenschüler beschäftigt hatte.

Ich stelle mir stattdessen lieber vor, dass ich ihnen die Begeisterung fürs Tauchen und die Unterwasserwelt vermitteln kann und wir in Ägypten gemeinsam für ihre Tauchprüfung büffeln. Dass sie nicht aus dem Geschichtsunterricht in der Schule rausfliegen, weil sie eingeschlafen sind, sondern dass sie zumindest eine grobe Vorstellung von unserer Vergangenheit entwickeln und irgendwann fragen, ob wir mal in die Staaten fahren könnten, weil sie die Freiheitsstatue sehen möchten. Dass sie sich im Frankreichurlaub verlieben und plötzlich froh sind, weil ich sie auf langen Autofahrten mit der Musik von Zaz einlullte, die die neue Flamme nun auch toll findet.

Ich will, dass sie mutig durchs Leben gehen, mit dem Herz am richtigen Fleck und einer Begeisterung für die Möglichkeiten, die das Leben ihnen bietet. Ich hoffe, dass ich ihnen später den Rat geben darf, es einfach zu wagen mit dem Auslandsaufenthalt. Und ihnen versprechen darf, sie in allen Ferien zu besuchen, sollte das Heimweh zu schlimm werden. Dass ich sie dafür begeistern kann, eine Fremdsprache zu lernen oder sich auch mal an ein Matherätsel heranzuwagen. Unterschiedliche Sportarten auszuprobieren und auch mal Pläne über den Haufen zu werfen.

Ich würde gerne besser Französisch sprechen, mehr Sachbücher lesen und tatsächlich mal ein Kochbuch durchkochen. Davon abgesehen habe ich nicht das Gefühl, in meinem eigenen Leben viel versäumt oder Zeit vergeudet zu haben. Ich mag einfach das Gedankenspiel, was alles noch dringewesen wäre, wenn ich nur eine Stunde am Tag anders gefüllt hätte.

Der Gedanke, das eigene Leben zu optimieren, lässt meinen Mann übrigens ziemlich kalt. Wo ich mit Listen und Akribie an das Thema herangehe, empfindet er solche Vorausplanungen und Festlegungen als abstoßend. Jeden Tag ein neues Rezept aus einem Kochbuch kochen – wie soll das schon zeitlich gehen? Er ist ein Gefühlsmensch, er probiert neue Rezepte aus, wenn er Zeit, Lust und Muse hat.

Im letzten Lockdown haben wir uns einmal auf das Abenteuer eingelassen, und wollten zwei Wochen lang statt in den Urlaub zu fahren kulinarisch um die Welt reisen. Jeden Tag haben wir ein Gericht aus einem anderen Land gekauft oder geholt, passende Musik dazu aufgelegt oder einen Stadtspaziergang auf Youtube auf unserem großen Fernseher angesehen.

Wir waren so in Japan, in Frankreich, in der Schweiz, in Thailand und in Italien. Das war cool. Aber dann ging uns die Puste aus. Neues ist anstrengend, merkten wir beide, man kann nicht immer nur optimieren und für neuen Input sorgen. Man braucht auch die ruhigen Phasen, in denen man wächst und sich das Neue einverleibt, so dass es Teil der Persönlichkeit wird.

Mein Kind, was ich dir sagen will: Ich werde dich begleiten, auf Fußballplätze, beim Vokabellernen und bei deinem ersten (und auch zweiten und dritten) Liebeskummer, wenn ich das darf. Ich werde versuchen, dir die Weichen für ein erfülltes Leben zu stellen, dich ermahnen und antreiben, wenn du mal antriebslos und ohne Lust bist (weil Eltern das eben tun müssen), dich aber nicht mit Listen zur Selbstoptimierung quälen. Und ich kann es nicht erwarten, dich das erste Mal Französisch sprechen zu hören. Vielleicht lerne ich dann ja noch mal mit. Nur zehn Minuten am Tag.