Kürzlich bin ich irgendwo in den Sozialen Medien, bei Instagram oder Facebook, mal wieder über diesen Spruch gestolpert: Sei Pippi, nicht Annika. Eine „Freundin“ hatte ihn gepostet. Einige ihrer „Freundinnen“ haben ihn geliked und ein paar sogar geteilt. Ganz neu ist der Spruch nicht, er taucht seit ein paar Jahren immer mal wieder auf.
Die Message hinter diesen vier Worten ist einfach. Im Positiven bedeuten sie: Sei stark, offen, frech, frei, mutig, unbelastet, lass mal Fünfe gerade sein (oder halt zweimal drei gleich vier). Tu, was dir Spaß macht – und vor allem: Mach dir die Welt eben widdewidde wie sie dir gefällt. Und sei auf der anderen Seite bloß nicht langweilig, schüchtern, nachdenklich, zögerlich, vorsichtig, zurückhaltend und vor allem kein Angsthase. Sei eben Pippi und nicht Annika.
Um es gleich zu vorweg zu nehmen: Ich kann diesem Spruch nichts abgewinnen. Absolut gar nichts. Mehr als das: Ich halte ihn für selten dämlich. „Sei Pippi, nicht Annika“ – das stellt die beiden Mädchen-Charaktere aus Astrid Lindgrens großartigem Buch so harsch gegeneinander. Entweder bist du Team Pippi oder Team Annika, schwarz oder weiß, stark oder langweilig. Dabei spielen Pippi und Annika doch im selben Team. Es sind Freundinnen, die gemeinsam ihre Abenteuer bestehen. Die Geschichten entwickeln vor allem aus dem Kontrast dieser beiden Charaktere ihren Zauber. Weil Annika ängstlich ist, kann Pippi mutig sein. Weil Pippi stark ist, kann Annika Schwäche zeigen.

Mir haben die Geschichten schon als kleines Kind gefallen. Ich mochte Pippi, na klar, aber auch Annika. Wenn Annika warnte: „Pippi, tu das nicht“, hat Pippi es erst recht getan. Das war cool. Pippi ist natürlich eine tolle Figur. Sie ist anarchisch und frech. Sie macht einfach ihr Ding. Allerdings ist Pippi kein normales Mädchen, sondern eine Superheldin. Sie fürchtet sich vor nichts, ist so stark wie fünf Männer, sie hat einen Koffer voller Geld, wohnt allein mit einem Pferd und einem Affen in einer Villa. Pippi ist eine tolle Figur, aber eben nicht von dieser Welt. Sie ist unerreichbar, wie Superman. Leider. Darum taugt Pippi Langstrumpf nicht als Vorbild.
Mit unserer Tochter Frida habe ich Pippi Langstrumpf gelesen. Das Kind war begeistert. Vor knapp einem Jahr wurde Frida eingeschult. Damals war sie, wenn man so will, eine Annika, schüchtern und still. Selbst wenn sie gerne eine Pippi gewesen wäre, sie konnte nicht anders. Sie kannte kein einziges Kind in ihrer Klasse. In den ersten Wochen musste ich Frida bis zu ihrem Platz bringen, und selbst da ließ sie mich nur widerwillig gehen, weil sie Angst hatte in ihrer neuen Umgebung.
Wie hat sie sich in diesem Jahr verändert! Sie hat Freundinnen gefunden, verabredet sich regelmäßig, geht inzwischen allein nach Hause. Sie flitzt in ihrer Gruppe über den Schulhof, spielt verstecken oder baut Häuser für Feuerwanzen. Trotzdem ist sie nach wie vor viel eher Annika als Pippi. Aber sie geht ihren Weg.
„Sei Pippi, nicht Annika.“ Wer postet so etwas eigentlich? Nach meiner ganz subjektiven Beobachtung sind es vor allem Frauen, die von einer Töpferwerkstatt auf Zakynthos oder einer Yogaschule auf Formentera träumen, während sie im wahren Leben auf einen Bildschirm in einem Büro in Wuppertal oder Wilmersdorf starren. Vom Alter her sind sie weder Pippi noch Annika, sondern eher die Prusseliese. Die Prusseliese, das ist die stocksteife, strenge Erzieherin, die immer wieder vergeblich versucht, aus Pippi Langstrumpf ein tugendhaftes, braves Mädchen zu machen.
Sei Pippi, nicht Annika. Ich weiß gar nicht, wer der Adressat dieses Spruches ist. Wahrscheinlich in erster Linie diese Frauen selbst. Mach mal was Verrücktes, brich mal aus, zumindest in Gedanken. Ich möchte mich nicht über diese Frauen erheben. In gewisser Weise habe ich Verständnis für ihre Sehnsucht. Als Mann, der selbst so mancher Erinnerung nachhängt, in dem Wissen, das sämtliche Züge in diese Richtung lange abgefahren sind.
Die zu meinen Kindern stehen aber noch alle am Gleis. Unser Sohn Theo ist vom Typ her ein Tommy (das ist Annikas Bruder), der gerne in die Pippi-Rolle schlüpft. Wie Tommy Pippi findet Theo Kinder toll, die irgendwas besonders gut können und in seinen Augen mutig sind. Meist sind diese Kinder älter und etwas großmäulig. Theo will dann auch so sein, obwohl er das aufgrund seines Selbstbewusstseins, seines Charakters und seiner Offenheit gar nicht nötig hätte. Er möchte sich selbst die Welt so machen, wie sie ihm gefällt. Dabei stößt er auf Widerstände, manche sind so groß, dass er sich fügen muss. Das ist nicht einfach für ihn, aber er lernt es immer besser. Auch mal zurückzustecken und nicht jedem unter die Nase zu reiben, was man selbst für ein toller Kerl ist. Auch mal den leiseren und leichteren Weg zu nehmen, den Annika-Weg, wenn man so will.
Seine Schwester, obwohl zwei Jahre jünger, hat ihren Weg schon eher gefunden. Auf ihre Annika-Weise geht sie durchs Leben, wird selbstbewusster, lernt täglich, was sie will und was sie nicht will. und sie lernt, das auch zu sagen. So als hätte ihr jemand gesagt: „Sei Annika, nicht Pippi. Das ist dein Weg.“
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Annika ist das typische Mädchen ihrer Zeit und Tommy der typische Junge. Pippi ist Anarchie, und macht was ihr gefällt. Sie könnte aber auch die Tochter eines Millionärs, statt eines N—-könig sein. Ein verwöhntes Gör, mit Leibwächter und Freunden, die sich Flugreisen nach Paris und NewYork leisten kann. Die einzige Superkraft die eine reale Pippi benötig, sind reiche Eltern. Die Pippis ohne reiche Eltern, ihne Superkraft, die sich alleine in Abenteuer stürzen, enden als Geiseln in Rebellendörfen, im Bordell, im Keller eines Verrückten. Manche mag sich als Pippi fühlen, wenn sie einem „Castro“ folgt, doch ist sie, ohne Superkräfte, doch nur die Annika, die jemanden, oder einer Ideologie, hinterher läuft.
Pippi ist gut um Freiheit zu denken. Pippis Weg ist der Weg des Starken über die Schwachen. Annikas Weg der Weg des Kindes, dass die Regeln der Erwachsenen akzeptiert, allerdings ohne sie zu hinterfragen, noch. Annika würde nie einen Krieg beginnen, Pippi freut sich
Danke
Danke für den schönen Text. So ähnlich habe ich diesen Rat auch empfunden. Ein kleiner, ergänzender Aspekt: Pippi ist in den Geschichten oft einsam. Sie ist im Grunde, wenn man Lindgrens Bücher quasi mal aus einer psychologischen Perspektive deuten möchte, ein verlassenes Kind. Hin und wieder ist sie auch traurig deswegen. Es wird erzählt, dass ihre Mutter tot ist, der Vater ist sozusagen „Herrscher der Insel“ und weit weg. Diese Geschichte in der Geschichte reflektiert Lindgrens eigenes Trauma, ihr erstes Kind nicht aufziehen zu können. Pippi ist als AUCH eine Heldin aus der Not heraus. Das ist besser als zu verzweifeln, aber die Verzweiflung wohnt auch in dieser großartigen Figur.
Sei Ronja, nicht Pippi!
Die Kernfrage ist doch: Was brauchen Kinder? Nicht physisch, wie genug zu essen und Bewegung, sondern zur mentalen Entwicklung und Bildung ihrer Persönlichkeit. Und zwar neben ihren Eltern.
Und da wird deutlich, dass Pippi eher eine Traumfigur ist als ein Ideal. Pippi ist ohne Eltern, hat einen (fast) nie auftauchenden Vater, mit dessen Job man furchtbar angeben kann. Usw. Pippi ist fern der Realität und kommt aus einer Welt, in die man gerne mal eintauchen möchte, aber die doch zum Leben nicht geeignet ist.
Für Mädchen in der beginnenden und voranschreitenden Pubertät denke ich immer wieder gerne an „Ronja Räubertochter“. Sie wächst auf und soll mit den Gefahren des Lebens umgehen lernen. ‚Wenn du raus gehst spielen, pass auf, dass Du nicht in den Fluss fällst, die reißende Strömung nimmt dich sonst mit!‘ bekommt sie von ihrer Mutter mit auf den Weg. Und auf die Frage ‚Wo hast du heute gespielt?‘ antwortet Ronja ‚Ich bin auf den Steinen am Rand des Flusses g
Sei Ronja, nicht Pippi! (Fortsetzung)
(Fortsetzung:)
‚Ich bin auf den Steinen am Rand des Flusses gesprungen.‘ ‚Habe ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen, dass du nicht ins Wasser fällst‘ ‚Habe ich doch auch! Wenn ich im Wald spiele, kann ich nicht aufpassen, dass ich nicht ins Wasser falle, da ist kein Fluss.‘ – Eine umwerfende Weisheit, die Eltern anerkennen sollten. Nur wer sich an die Grenze wagt, kann damit umgehen – und auch mal die Grenze übertreten.
Und als Ronja dann mit ihrem Freund auszieht und beide kaum hinreichend erfahren im beginnenden Winter hungern müssen, sucht sie die Mutter und hilft ihr in der echten Not.
Da wird einem Jugendlichen viel mehr die Zuversicht mitgegeben, etwas zu wagen, etwas auszuprobieren, etwas zu machen, was gut gehen kann, aber auch schieflaufen könnte. Die Zuversicht auf einen rettenden Anker kann die Mutter sein und Eltern sollten sich nie aus dieser Aufgabe selber herauskatapultieren, indem sie Kinder vorstoßen. Es kann aber auch Gott sein, der nicht
Überall Hubschrauber
Sehr schön und lustig zu lesen!. Als die Elternbeschreibung der Urheber von „Sei Pippi, nicht Annika“ kommt, ist auf einmal der Himmel vor meinem geistigen Auge voll mit Helikoptern.
Danke für den Text.
Komplementäre Charaktere
Der Beitrag zeigt, wie wichtig das Verständnis für alle Charaktere bei Pipi Langstrumpf ist. Wechselwirkung, Gruppenstärken und sich ergänzende Rollen lernen die Kinder hier. Allerdings müssen wir uns nichts vormachen. Bei allen komplementären Konstellationen gibt es diejenigen, die als Superhelden wahrgenommen werden und für die unverzichtbaren Annikas dieser Welt bleibt nicht viel Wertschätzung übrig. Trotzdem, die Pipis dieser Welt wären aufgeschmissen ohne Annikas.
Titel eingeben
Jetzt wird das gute alte Kinderbuch analysiert und den Frauen wegen eines harmlosen Posts zu nahe getreten.
Meine Vermutung hingegen ist: Der Verfasser ist insgeheim etwas unzufrieden oder besorgt wegen der zurückhaltenden Natur seiner Tochter, weil er weiß, dass die Vorlauten ganz gut durchs Leben kommen. Vielleicht fühlt er sich auch an sich selbst erinnert.
Ich bin gerne eine Annika
Lieber Matthias. Ich sehe es auch so wie Sie, mich hat dieser Spruch früher schon gestört, als ob eine nur eine Art gibt, ein Mädchen zu sein (und zwar eben KEIN typisches Mädchen!). Die Pippi-Annika-Dichotomie geht für mich in Richtung „ich bin nicht wie die anderen Mädchen“ und ist meiner Meinung nach überholt.