Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Kriegsspiele

Mein Sohn Max liebt Kriegsspiele. In seinem Zimmer stehen Burgen und Ritterheere. Piratenschiffe kreuzen das Teppichmeer, römische Legionen und gallische Krieger stehen einander unversöhnlich an der Türschwelle zum Flur gegenüber. Insbesondere Playmobil hatte bis vor kurzem noch einige historisch inspirierte Themenwelten im Programm, die sowohl in Frankreich als auch in Deutschland großen Erfolg in den Kinderzimmern hatten.

Max hat inzwischen eine beachtliche deutsch-französische Playmobilbrigade aufgebaut. Außerdem liebt er kriegerische Rollenspiele, eine Leidenschaft, die er mit den anderen Jungs und einigen Mädchen auf dem Pausenhof teilt. Interessanterweise herrschte eine ganz ähnliche Faszination für Kriegsspiele in der französischen Ecole maternelle vor wie nun in der Grundschule in Deutschland.

Das Thema Kriegsspiel beschäftigt uns schon, seit Max bei einem Kindertheaterbesuch im Alter von dreieinhalb Jahren mit der Welt der Piraten konfrontiert wurde und er danach sofort und unbedingt einen Säbel haben wollte. Piraten ohne Säbel, Flinten und Kanonen sind schwer vorstellbar. Aber sie werfen für uns als Eltern und für Max die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich Gewalt ist, warum Menschen gegeneinander kämpfen und ob Krieg legitim sein kann.

Nach der Zeitenwende in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine werden diese Fragen für viele in einem neuen Licht erscheinen, aber die heftigen Debatten, die wir in Deutschland derzeit über die erforderlichen Hilfen für die Ukraine führen, zeigen, dass das Thema Krieg (und damit das Kriegsspiel) aus deutscher Sicht nicht unbelastet ist.

Es gibt ein Foto aus der Familie meines Vaters, das im Jahr 1944 entstanden sein muss. Man sieht meinen Großvater und meine Großmutter zusammen mit ihren Kindern, darunter meinen Vater im Alter von fünf Jahren, in der Stube vor dem prächtig geschmückten Weihnachtsbaum posieren. Alle sind festtäglich gekleidet und lächeln froh. Stolz hält mein Vater ein sehr realistisch gestaltetes Holzgewehr vor sich, mit Umhängegurt und Nachladevorrichtung. Links am Bildrand vor der neuen Puppe meiner Tante steht ein Metallpanzer, der erst auf den zweiten Blick ins Auge fällt und das friedliche Familienfoto in ganz unfriedlicher Zeit verortet: Spielzeug war im Dritten Reich eines von vielen Mitteln nationalsozialistischer Propaganda.

Es gab Panzer und Kriegsschiffe, Militärtransporter und Jagdflieger und jede Menge Zinnsoldaten in Wehrmachtsuniform, und natürlich dienten diese Spielsachen dazu, frühzeitig den Kindern einen militaristischen Geist einzupflanzen. Die ideologische Rolle von Spielzeug war so offenkundig, dass der Bundestag später, im Jahr 1950, sogar ein Verbot von Kriegsspielzeug beschloss (das allerdings nie umgesetzt wurde).  

Nun ist Max in den ersten sechs Jahren seines Lebens in Frankreich aufgewachsen. Auch in Frankreich gibt es kritische Rückfragen an die eigene militärische Geschichte, insbesondere hat sich gegen einige Widerstände in den letzten Jahren eine Debatte um Kriegsverbrechen des französischen Militärs während des Algerienkriegs entfaltet.

Doch um vieles stärker wirken die Erfahrungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg nach: Frankreich war in diesen beiden Kriegen das angegriffene Land, und das Militär wird im Wesentlichen aus dieser Perspektive heraus gesehen. Dies erklärt das unbekümmerte Festhalten an der Tradition der republikanischen Militärparade zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli, le défilé militaire sur les Champs-Élysées.

Max verfolgt jedes Jahr aufs Neue zusammen mit seinem Papy, dem französischen Großvater, höchst begeistert die Liveübertragung im Fernsehen und die Abfolge der verschiedenen militärischen Einheiten in den prächtigen Paradeuniformen, deren krönenden Abschluss die Reiterei der republikanischen Garde mit ihren golden leuchtenden Helmen bildet. Es ist einerseits ein Riesenspektakel, es ist andererseits ein Bekenntnis zu der Überzeugung, dass eine freie Republik wehrhaft sein muss und ein starkes Militär braucht. Der Vater von Max‘ Papy hat in der Resistance gegen die deutsche Okkupation gekämpft und die würdigende Erinnerung an dieses Engagement ist in unserer Familie selbstverständlich. Auch generell gilt, dass die Franzosen mit überwältigender Mehrheit ihr Militär positiv bewerten, wie eine Studie des renommierten Centre nationale de la recherche scientifique im Jahr 2019 zeigte.

Man möchte meinen, dass eine solche gesellschaftliche Haltung auch in der Bewertung von kindlichen Kriegsspielen eine Rolle spielt. Was sagen Erziehungsratgeber zu dieser Frage? Auf der Website des Magazins „Parents“ (ein Äquivalent zur deutschen Zeitschrift „Eltern“) erklärt der Autor Antoine Blanchet das enorme Interesse von Kindern am Kriegsspiel damit, dass sie auf diese Weise ihre Aggressivität kanalisieren lernten, eigene Handlungsmacht erlebten und einen Beschützerinstinkt entwickelten. Kriegsspiele unterstützen, so das Argument, diese Entwicklungsprozesse.

Der Autor rät sogar davon ab, Kindern Kriegsspiele zu verbieten, denn das könne dazu führen, dass sie nicht lernten, mit ihren aggressiven Trieben umzugehen, so dass in der Folge die Aggressivität latent bleibe und sich künftig gegen Schwächere entladen könne. Bei einem Verbot von Kriegsspielen drohten sich Kinder sogar auf eine passive Haltung zurückziehen, kein Selbstvertrauen aufzubauen und später in der Auseinandersetzung mit anderen leichter zum Opfer zu werden.

Blanchet rät zu guter Letzt: „Verbieten Sie nicht Spiele, die Gewalt inszenieren, aus Sorge, in Ihrem Kind könne sich ein gewalttätiges und dominantes Temperament entfalten. Denn indem Sie sich weigern zuzulassen, dass es seine Aggressivität kanalisiert, riskieren Sie, seine Persönlichkeit aus dem Gleichgewicht zu bringen.“

Aus guten Gründen ist der Blick auf Militär und Krieg in Deutschland ein anderer. Das hat Rückwirkungen auf mich als Vater. Kriegsspielzeug aller Art ist zwar auch hierzulande beliebt. Aber es erfüllt mich doch mit einem gewissen Unbehagen, wenn mein Sohn mit allzu großer Begeisterung ins Kriegsspiel zieht, sei es mit Playmobilrittern, sei es mit Holzschwert und Platzpatronenpistole. Und tatsächlich tragen die deutschsprachigen Erziehungsratgeber im Internet deutlich mehr Bedenken. Auch hier rät man zwar davon ab, das Kriegsspiel zu unterbinden. So deutete der Kinderpsychologe Holger Simonszent in der Berliner Zeitung das Spiel mit Waffen als Rollenspiel, bei dem die Unterscheidung zwischen Gut und Böse erlernt werde.

Im „Online-Familienhandbuch“ des Staatsinstitut für Frühpädagogik und Medienkompetenz (IFP) in München aber beurteilt die Sozialpädagogin Beate Weymann das Spiel mit Waffen sehr viel kritischer: Das Interesse an Waffen und Kriegsspielzeug werde durch Werbung und das Angebot im Spielwarenhandel erst geweckt. Für sie ist ungeklärt, ob das Spiel mit Spielzeugwaffen Kindern schade, aber es stehe fest, dass es „gewaltorientierte Handlungskonzepte“ fördere und die kindliche  Phantasie „einseitig in eine Richtung“ lenke.

Weymann rät Eltern dazu, Kindern ihre ablehnende Haltung zu Waffen vorzuleben: „Motto: Waffen stellen für mich nichts Nützliches dar, ich verbinde mit ihnen ausschließlich Gewalt, Not, Grausamkeit, Sinnlosigkeit, Furcht, Trauer, Tod. Es lohnt sich, dem Kind schon früh beizubringen, dass eine Pistole etc. anderem Spielzeug nicht ebenbürtig ist.“

Angesichts dieser doch sehr eindeutigen Positionierung suche ich nach weiteren Meinungen und finde auf www.papa.de („dem Elternmagazin aus Sichtweise des Papas“) einen einschlägigen Artikel zum Thema. Dort werden auch die bereits erwähnten Interpretationen des kindlichen Kriegsspiels genannt, und doch scheint zugleich auch hier ein Unbehagen zu herrschen, denn der ungenannte Autor empfiehlt, für das Spiel mit Spielzeugwaffen klare Regeln aufzustellen.

So soll ich beispielsweise mit meinem Kind „ganz deutlich über die Gefahren, die von einer echten Waffe ausgehen“, sprechen, ihm vermitteln, dass „mit einer Spielzeugwaffe keine realen Konflikte ausgetragen werden dürfen“ und es „zu gesundem Selbstvertrauen“ erziehen, „so dass es sich nicht durch den Waffengebrauch stärken muss“.

Ich habe tatsächlich für das Kriegsspiel gewisse Regeln aufgestellt: Im Umgang mit Spielzeugpistolen (ob nun als Plastikmodell aus dem Spielwarenhandel oder als Holzstück aus dem Wald) gilt beispielsweise, dass auf echte Menschen nicht gezielt oder gar „geschossen“ werden darf. Wird die Regel verletzt, kann die Waffe beschlagnahmt werden, wobei die Rüstungskontrollmechanismen, mit denen ich die Einhaltung der Regel überwache, oft nicht besonders effektiv sind, so mein Eindruck.

Also versuche ich durch eigene Mitwirkung am Kriegsspiel bestimmte Einstellungen und Handlungskonzepte zu vermitteln: In den Playmobilkriegen war es beispielsweise immer so, dass derjenige, der den Krieg beginnt, im Unrecht ist und also die Rolle des Bösen spielt. Krieg zu beginnen, ist das Markenzeichen des Bösen schlechthin. Legitim und gut hingegen ist der Verteidigungskampf des Angegriffenen.

Die Wirkmächtigkeit dieser Prinzipien in der realen Welt zeigt sich nicht nur in der Verurteilung der russischen Aggression gegen die Ukraine durch eine überwältigende Mehrheit der Staaten dieser Welt, sondern auch darin, dass Russland selbst seinen Krieg als eine Art Verteidigungskampf gegen vermeintliche Nazis in der Ukraine zu rechtfertigen versucht.

Es handelt sich um eine Kriegsethik, die nicht allen denkbaren Anlässen gerechter Kriege Rechnung trägt (etwa der Nothilfe), aber für den zum Zeitpunkt dieser Regelsetzung vierjährigen Anfänger im Kriegswesen bietet sie erst einmal eine ganz gute Grundorientierung. Die Aggressoren werden bei uns gemeinhin von den Drachenrittern verkörpert, die außer vielen Soldaten, schweren Waffen und Feuerdrachen nichts zu bieten haben und mit ihrer gewaltigen Übermacht das friedliche Reich der Löwenritter unterjochen wollen.

Für das Kriegsgeschehen gelten weitere Regeln: Feindliche Soldaten werden möglichst nur verletzt, so dass sie nicht mehr kämpfen können. Verletzte Ritter oder Zivilisten werden nicht als Schutzschilde gebraucht. Verwundete Soldaten werden gerettet und ins Krankenhaus der Deutschordenritter (ja, die gibt es auch bei Playmobil) gebracht, wo sie versorgt werden, und das gilt auch für feindliche Soldaten. Die guten Ritter sorgen dafür, dass Alte, Kranke, Mütter und Kinder frühzeitig aus der Kampfzone evakuiert werden.

Außerdem achte ich immer darauf, dass es eine gewisse Anzahl Ritterinnen gibt, so dass Max sich gar nicht erst klischeehafte Rollenkonzepte aneignet. Johanna von Orléans, eine Ritterin mit schwarzem Haar und weißem Pferd, gehört inzwischen zu den wichtigsten Kämpfern im Ritterheer (und nicht nur zu den wichtigsten Kämpferinnen, um hier en passant einmal eine Lanze für das generische Maskulinum zu brechen). Sie stellt sich den bösen Drachenritter ebenso mutig entgegen wie ihre männlichen Kollegen.

Seit der Lektüre von „La guerre de Cent Ans“ aus der Reihe „Mes p’tits histoires“, einem französischen Kinderbuch über den Hundertjährigen Krieg, trug bei uns der Anführer des bösen Playmobilheers stets den Namen Eduard der Dritte – benannt nach dem englischen König, der den Franzosen einige bittere Niederlagen, etwa 1340 oder 1346, beibrachte. Vor kurzem kam es zu einer Namensänderung. Es war auf einmal König Wladimir, der mit seiner militärischen Übermacht vor den Toren der Stadt aufzog und mit Mörsern und Katapulten den Widerstand der Verteidiger zu brechen versuchte. Der anschließende Kampf war heftig und erforderte die Mobilisierung aller Verbündeten, selbst der Tiere aus dem nahegelegenen Wald. Am Ende erlitten die Drachenritter unter König Wladimir eine krachende Niederlage und die aufgeriebenen Überreste der einst gewaltigen Militärmacht zogen geschlagen ins Drachenland zurück.

In der Realität der Erwachsenen verlaufen Kriege leider nicht immer so, dass die Aggressoren besiegt werden und das Gute triumphiert. Doch beim kummervollen Blick auf das Geschehen in der Ukraine kam mir ein neuer Gedanke zu  Sinn und Zweck des Kriegsspiels: Ist es vielleicht auch ein Mittel, um die Schrecken der realen Welt für sich selbst beherrschbar zu machen? Geht es womöglich darum, eine Welt zu schaffen, in der das Gute sicher siegt, wenn dies in unserer Realität völlig ungewiss ist?