Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Juli ist der neue Advent

In wenigen Minuten zur Schmetterlingsfee: Ein Mädchen wird geschminkt.

Wir sind entwöhnt. Das zeigt sich daran, dass wir nicht mehr einschätzen können, wie viele Veranstaltungen wirklich viel sind. Mit „wir“ ist unsere Familie gemeint, zwei Erwachsene und drei Kinder im Alter zwischen gerade sechs und schon etwas länger elf. Wir hängen gerade in einer Zwischenwelt: noch nicht aus Corona raus, aber auch noch nicht wieder in der Welt drin, die viele Jahre als normal galt.

Neulich war so ein Tag. Der Geburtstag des Mittleren musste nachgefeiert werden. An einem Samstag, an dem es besser passt als unter der Woche. Das erste und einzige Mal Kindergeburtstag im Indoor-Spielplatz. Schon Einladungen zu schreiben war herausfordernd. Denn auf das Kärtchen hatte er geschrieben, dass alle Kinder um 14.30 Uhr abgeholt werden sollten. Aber dann wäre es unmöglich gewesen, rechtzeitig bei der Kindergartenfeier mit Musikaufführung des Jüngsten aufzutauchen.

Also schrieben wir die Planänderung auf den Umschlag – in der Hoffnung, dass alle Eltern die widersprüchlichen Botschaften entschlüsseln würden. Trotzdem fragten wir uns, ob die dreieinhalb Stunden für Rutschen, Springen, Pommes reichen würden. Als die Kinder verschwitzt den letzten Rest Slush-Ice auslöffelten und die ersten Eltern kamen, wussten wir, dass alles richtig war.

Denn die eine Familie musste weiter zur Poolparty außerhalb der Stadt, die andere hatte Schulfest des größeren Sohns. Und wir hatten genug Zeit, um mit den Rädern zur Kindergartenfeier zu kommen. Am Abend stand dann noch die jedes Jahr und sogar während Corona regelmäßig gehaltene Geburtstags-Gartenparty eines Freundes um die Ecke an. Am Abend waren die Kinder zu müde, um noch darüber nachzudenken, dass das der erste Abend ohne Eltern und ohne Babysitterin war. Die über Corona aus unserem Leben glitt, um dann irgendwann bei einem zufälligen Treffen mitzuteilen, dass sie selbstverständlich weiterhin zur Verfügung stehe. Es wurde getanzt und spät.

Aktuell sind die wilden Wochen ausgebrochen. Vor den Sommerferien soll alles stattfinden, was wir zweieinhalb Jahre entbehren mussten: Kindergartenfeste, Klassengrillen, Einladungen der Freunde nach Hause, Konzerte, Festivals, Ballettbesuche. Wir versuchen, aktuell umzukehren, was ich in einem Tweet im November 2020 so formuliert habe: „Zähle zum Team #Zuhausebleiben. Aber wie wir gerade täglich durch fehlende Türundangelgespräche, St. Martinsumzüge, Glühweinabende, Sporttreffen, Weihnachtsfeiern etc. nicht Gesellschaft schaffen, ist besorgniserregend. Dringender Nachholbedarf nach der Impfung!“

Auf dem Kindergartenfest dann die Einlösung des Versprechens: Etwa fünfzehn Kinder tragen vor, was sie mit ihrer Musiklehrerin über Wochen einstudiert haben, sie zeigen ihre gemalten Kulissen und Requisiten. Am Ende tanzen Kinder, Eltern und Erzieher gemeinsam „Erde ist mein Körper“ – außer die Erzieherin, die gerade die Hände voll hat, um die Schminkstation vorzubereiten. Eine halbe Stunde später rennen lauter Feen/Schmetterlinge und Löwen/Spider Men über den Innenhof, während andere Kinder Buttons mit selbst gemalten Motiven stanzen dürfen.

In der Zwischenzeit schaffen die Eltern das, was sie seit dem 13. März 2020 nicht mehr geschaffen haben: nämlich Gesellschaft. Ich weiß erst jetzt von der Schwester eines Kindergartenfreundes meines Sohns, dass sie seit einiger Zeit Triathlon macht, von der Erzieherin, die immer so nett grüßt, dass sie vorher in der Touristikbranche gearbeitet und keine Lust mehr hatte. Ich werde endlich nicht nur gegenüber dem Leiter der Einrichtung los, wie sehr wir uns als Familie gefreut haben, dass sie in der ersten Phase der Pandemie immer wieder Lebenszeichen per Video gesendet haben, während die Schule sich vergraben hat. Sondern auch, warum wir schon zweimal den Waldtag vergessen haben. So viel los.

All diese vielen Treffen, die jetzt endlich stattfinden und selbstverständlich vor den Ferienbeginn gestopft werden müssen, sind natürlich anstrengend. Gesellschaft zu schaffen ist anstrengend. Zumal wir ja vieles auch erst wieder neu lernen müssen: Zu dem Vater, mit dem wir uns bislang viel zu wenig unterhalten haben, einfach dazustellen und ein Gespräch anzufangen. Mit der Köchin der Einrichtung plaudern und erfahren, dass sie auch zwei Kinder hat und es zu Hause gar nicht immer so einfach ist, mit frischem Essen zu punkten. Und schließlich mit der Erzieherin zu sprechen, die als Mutter eines Kita-Kindes entschied, in diesem Kindergarten zu arbeiten und nun endlich richtig angekommen ist.

Es sind natürlich auch turbulente Wochen: Während Corona hatten wir uns Routinen angewöhnt, die jetzt selbstverständlich weiterlaufen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass der Terminkalender an anderer Stelle immer voller wird. Natürlich findet der wöchentliche Jogging-Jour-Fixe weiterhin statt. Selbst die Video-Verabredungen mit den Freunden von außerhalb sind noch nicht vollständig abgeschafft. Und dann kommen auch endlich all diese Musiker, für die man sich schon vor drei Jahren Tickets besorgt hat, während für 2022 natürlich längst neue Auftritte angekündigt wurden.

Ergebnis dieses Event-Marathons: der Stapel halb gelesener Zeitungen links, der Stapel nicht angefangener Bücher rechts. Das war während der akuten Phasen der Pandemie anders. Das Vorhaben aber, die Atmosphäre vor dem Phoebe-Bridgers-Konzert in der Batschkapp zu schnuppern, um dann das vollständige Herbie-Hancock-Konzert in der Alten Oper zu erleben und zu den Zugaben in die Festhalle zu Pearl Jam zu wechselten, scheiterte an der Vernunft.

Aber nicht immer setzt sich der Pragmatismus durch. Nach dem Klassenfest in der weiterführenden Schule schnell am einzigen möglichen Tag zum alten Professor nach Heidelberg. Bei zwei Drittel des Grillabends schnell mit dem Mittleren zum Wilco-Konzert. Am Tag nach der Geburtstagsparty mit der Ältesten zu Patti Smith. Es gibt kein besseres Alter, um sich von dieser Ausnahmekünstlerin vorführen zu lassen, warum es sich lohnt, die eigenen Ideen durchzusetzen, statt nach dem Geschmack der Masse zu gehen. Morgens dann fährt der Mittlere auf seine erste Klassenfahrt.

2022 ist eine Zwischenwelt. Und so wie es interessant wird, wie wir einmal die Pandemie verarbeiten werden, so wird auch ein Nachdenken darüber spannend sein, mit welcher Sehnsucht nach Kommunikation, Gemeinschaft und Austausch wir zweieinhalb Jahre nach dem Beginn von Corona daraus fliehen wollten. Wie wir gleichzeitig auf Systeme stoßen, die den Andrang nicht mehr gewohnt sind: Flughäfen, die uns an unsere Sehnsuchtsorte bringen sollen, Bahnhöfe, an denen allzu oft Stillstand herrscht, Autobahnen, die an vielen Stellen verstopft sind.

Und die Kinder? Zweieinhalb Jahre hat der Jüngste Erwachsene fast nur hinter Masken kennengelernt, jetzt verstecken sich endlich die Kinder wieder hinter Schminke. Mit seinen Freunden hat er so unbeschwert gespielt, als habe es das Covid-Virus gar nicht gegeben. Nur um ihn herum muss die Welt gedämpft und merkwürdig gewirkt haben. Die Interaktion mit den Erwachsenen hat er trotzdem gelernt. Vielleicht ist Corona für ihn mal eine ferne Erinnerung an eine Zeit, in der der Hintergrund verwischt, aber der Vordergrund konturenscharf war.

Ich erinnere mich daran, wie einige Monate nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen einige Bekannte davon sprachen, die daraus resultierende Entschleunigung sei doch ein Segen. Endlich müsse man nicht mehr von A nach B hetzen, während man in C gerade Entscheidendes verpasse. Ich hing dieser Wahrnehmung nie an. Denn Gesellschaft lässt sich nicht im luftleeren Raum schaffen. Es gibt eine Reihe von Gesichtern, die ich nicht mehr im Straßenbild sehe. Denn natürlich sind auch während der Pandemie Familien an andere Orte gezogen – nur diesmal hat man es nicht gemerkt, ist man nicht eine Ampelphase lang stehengeblieben, um von den neuen Lebensplänen zu hören.

Wir sind keine Einzelkämpfer, der Austausch tut gut. Deshalb ist der vorgezogene Advent 2022 im Juli zwar anstrengend, aber auch erholsam. Wir wischen etwas weg, was uns beschwert hat. Als der Mittlere neulich nach drei Jahren zum ersten Mal überhaupt ein Klassenfest feierte, war es, wie es früher immer war. Die meisten Jungs spielten Fußball, die meisten Mädchen ihre eigenen ausgedachten Spiele, Mütter befüllten das Buffet und unterhielten sich, Väter standen am Grill. Im Sommer sind wir wieder zusammengekommen. Hoffen wir darauf, dass uns die nächste Impfkampagne auch eine anstrengende St. Martins- und Adventszeit beschert. Dann auch mit Weihnachten im Anschluss.