Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Ausgesetzter Anstand II

In der Wachstumsphase: Jede Spielzeit brauchen Kinder neue Fußballschuhe.
In der Wachstumsphase: Jede Spielzeit brauchen Kinder neue Fußballschuhe.

Pünktlich zur neuen Saison sind Malik mal wieder seine Fußballschuhe zu kleine geworden. Meinem Gefühl nach ist das Preisschild im Schuh noch intakt, so schnell wächst dieses Kind. Wir – Malik, ich und die kleine Samra – laufen in der Kasseler Innenstadt von einem Schuhgeschäft zum nächsten, als Malik kurz „Hey“ ruft, um dann, für mich ganz zusammenhangslos, zu erklären: „Siehst du, das mag ich nicht.“ Ich versuche mich zu erinnern, ob wir gerade in einem Gespräch waren und ich mal wieder so in Gedanken war, dass ich meinem Sohn nicht zugehört habe. „Was magst du nicht? Was soll ich sehen?“, frage ich, um meine vermeintliche Unaufmerksamkeit ein bisschen wettzumachen. „Den Mann in dem grünen Hemd, der hat mir einfach auf den Kopf gefasst“, antwortet Malik mit einer gewissen Entrüstung.

Malik ist für sein Alter recht klein gewachsen und wird jünger geschätzt als seine neun Jahre. Aber einfach im Vorbeigehen über den Kopf zu streicheln, das geht nicht, bei keinem fremden Kind gleich welchen Alters. Ich versuche, noch einen Blick auf den Herrn im grünen Hemd zu erhaschen. Noch wichtiger ist mir aber, mein Kind zu beruhigen und zu stärken. „Das kann ich verstehen, ich hasse es auch, wenn mir jemand einfach auf den Kopf fasst. Manche Erwachsene denken einfach nicht nach und machen komische Sachen“, stammle ich vor mich hin und betrachte die großen Korkenzieherlocken meines Sohnes. Ich sehe schon das Gespräch auf mich zu kommen. Das Gespräch, in dem ich ihm erklären werde, dass sein Äußeres im Allgemeinen und seine Haare im Besonderen Gegenstand merkwürdiger Begegnungen und Gespräche sein können. Dass es nichts mit ihm persönlich zu tun hat, dass er toll ist, wie er ist, und immer wieder Grenzen setzen darf und muss. Ich werde von rassifizierten Gedanken, Othering, Tokenism, von Übergriffigkeit, von Adultismus sprechen. Ich werde ihm erzählen von den etlichen Malen, bei denen ich plötzlich eine Hand in meinem Afro fühlte, gefolgt von gestammelten Erklärungen eines weißen Menschen: „die fühlen sich aber toll an“, „ich musste einfach mal reingreifen“ und ähnlich irritierende Aussagen. Dass das nicht in Ordnung ist, dass es aber passieren kann. Aber im Moment geht es erstmal um die Fußballschuhe.

Beim Schlendern durch ein großes Sportgeschäft treffen wir auf unsere frühere Nachbarin Steffi, die ebenfalls mit ihrem Sohn auf Fußballschuh-Suche ist. Wir begrüßen uns, bleiben stehen und ratschen, als ich sehe, wie ihre Hand auf dem Kopf meiner Tochter ruht, die Haare durchwurschtelt und sie ganz unvermittelt zu Samra sagt: „Du siehst ja ganz anders aus als deine Brüder. Du bist eher so ein ganz helles Milchkaffee und du Malik, du bist irgendwas zwischen Capuccino und zartem Kakao.“ Dabei geht sie einen Schritt zurück, vielleicht um einen besseren Blick auf die Kinder zu bekommen, fährt Malik beherzt durch die Haare und fügt hinzu: „Diese Haare, ein Traum, ach, und dieses Milchkaffee von Samra, so schön!“

Malik verdreht die Augen, schaut von mir zur Nachbarin und wieder zu mir. Dabei geht er einen Schritt zurück und deutet ein Lächeln an. Dann bleiben seine Augen auf mir heften, schauen mich hilfesuchend an. Ich lese seinen Blick: „Mama, mach, dass das aufhört, ich will nicht unhöflich sein. Sie ist doch deine Freundin.“

Ich nicke ihm zu und versuche den richtigen Ton zu finden. Den Ton, der meinem Sohn signalisiert, ich stehe für dich ein, I got you! Der Ton, der dieser Kaffee-Expertin Grenzen aufzeigt, unseren Blick auf ihre Worte und ihr Verhalten verdeutlicht. Am liebsten, ohne dass es zu einer großen Diskussion und dem üblichen Verteidigungs- oder Verneinungsblabla kommt. Sie an Anstand erinnert. Soweit ich mich erinnere, sehen Steffis Kinder auch nicht gleich aus.

Ich hole tief Luft, dann höre ich mich sagen: „Steffi, Malik hat vorhin ein doofes Erlebnis gehabt: Ein fremder Mann hat ihm im Vorbeigehen durch die Haare gefasst. Das hat ihn erschreckt und irritiert. Und du hast das eben auch gemacht. Vielleicht hast du es nicht mal gemerkt, aber beide Kinder stehen da gar nicht drauf.  Und noch eine Bitte von mir: Vergleiche meine Kinder nicht mit Lebensmitteln. Es sind Kinder.“

Steffis Mund klappt auf, sie wirft den Kopf nach hinten, greift wieder Richtung Maliks Kopf, fasst ins Leere und entschuldigt sich. „Oh, tut mir leid, ich wusste gar nicht, dass ihr so empfindlich seid!“ Dabei schüttelt sie verlegen den Kopf und zuckt mit den Schultern: „Ich habe es doch nur als Kompliment gemeint“, versucht sie, sich zu erklären. „Na dann, jetzt weißt du, dass das bei den Kindern und mir nicht als Kompliment ankommt“, antworte ich lächelnd, während ich mich schon wieder Malik zuwende.

Mein Neunjähriger hat sich der zweiten Wuschelattacke quasi aus Versehen entzogen. Gerade, als Steffis Hand sein Locken fast erreicht hatte, hat er seinen neuen Fußballschuh entdeckt.