Zwei ausgiebige Ansprachen sind heute anlässlich des 20. Juli in Berlin gehalten worden, eine des Bundeswirtschaftsministers und eine der Bundeskanzlerin. Wir halten beide auf ihre Weise für bemerkenswert und wollen sie daher – bis auf dieses Attribut – unkommentiert dokumentieren (in order of appearance). Möge sich der Leser ein Bild machen.
(Weil an dieser Stelle aber schon ein Nachlassen an Hofberichterstattung moniert worden ist, wollen wir am Ende noch Beobachtungen zum Gelöbnis anmerken.)
Die eine Rede hat der Bundeswirtschaftsminister Karl Theodor zu Guttenberg verfasst, was in diesem Fall offensichtlich wörtlich zu verstehen ist:
Ein Gefängnishof verliert in der Regel nie seine Kälte. Eine Kälte, die sich über Insassen wie spätere Besucher zu legen weiß und die jedes Ausmaß an Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung reflektiert, wenn man gleichzeitig an den Mauern einer Hinrichtungsstätte steht. Auch in Plötzensee sucht zunächst eine eisige Hand den unerbittlichen Griff um das Herz. Um sich schließlich doch zu lösen. Dieser Ort ist anders. Hier verliert sich der tatsächliche Gegensatz von Gefangenendasein und Freiheit. Von Hinrichtung und Leben. Heute vor – bereits und erst – 65 Jahren sollte ein Versuch scheitern, den Terror, das Grauen des Nationalsozialismus zu beenden. Der Begriff des „Scheiterns“ ist gleichwohl endlich, gelang doch ein wundersames wie zunächst unerhörtes Zeichen des Gewissens, der Kultur und der Humanität. Für Freiheit, Recht und Menschenwürde haben die Widerständler um Graf Stauffenberg ihr Leben eingesetzt, es geopfert und dennoch ein ehernes Fundament für Leben gesetzt. Für unser – vielleicht allzu oft beklagtes -Leben, auch das meiner Generation. Vergleiche verbieten sich. Doch angesichts der letzten sechzig Jahre droht manche Klage ihrer eigenen Leichtigkeit zu erliegen.
Wir erinnern an diesem Tage besonders an jene, die die Tat des 20. Juli 1944 gewagt, geplant und unterstützt haben. Wir dürfen allerdings des gesamten Widerstandes gegen den Terror des Nationalsozialismus gedenken. Heute Mittag wurde im Bendlerblock bereits auf sie verwiesen. Männer und Frauen aus Gewerkschaften und Parteien waren darunter, Parlamentarier aus der Weimarer Republik, Wissenschaftler, Gelehrte, Beamte, Angehörige der jüdischen Gemeinschaft, Geistliche und Laien der christlichen Konfessionen, Studenten wie die Geschwister Scholl und auch Einzelne wie Georg Elsner. Und vielleicht muss ein Tag wie dieser den ehrenden wie hilflosen Gedanken an die zu Unrecht Vergessenen erlauben. Unter ihnen auch Familien der Attentäter, die mitunter unvorstellbare und aus heutiger Sicht so leicht kommentierte Kräfte aufbrachten. Jene, die dem Widerstand und seiner gerechten Betrachtung eines der stabilsten Fundamente verliehen. Nämlich das der Liebe. Ein Aspekt, der mancher nüchternen historischen Betrachtung möglicherweise allzu fern ist. Ehefrauen, Kinder, Mütter. Auch sie waren tragende Säulen des Widerstandes und des nachfolgenden Lebens. Auch sie entziehen diesem Ort die hoffnungslose Todeskälte. Einige sind heute hier – wofür wir überaus danken.
Der 20. Juli ist eine Mahnung an die Zukunft und kein jährlich wiederkehrender nostalgischer Event. Mit seinem von Beginn an gegebenen Zukunftsbezug wird auch deutlich, dass dieser Tag nicht isoliert der Vergangenheitsbewältigung dienen soll, geschweige denn erschöpfend kann. Zudem ringt dieser Gedenktag so lange mit der Gegenwart wie die Begriffe Ehre, Stolz oder Vorbild Ausdruck einer verklemmten Schüchternheit bleiben. Die Männer und Frauen des Widerstandes haben unsere Ehre verteidigt und sie uns weitergereicht. Deshalb ehren wir sie heute.
Darf man nun das Wort „Ehre“ mit der Prinzipientrias „Freiheit, Rechtsstaat und Menschenwürde“ verbinden? Meines Erachtens bedingen sie einander. Beides, die benannten Maximen und ein damit verwobenes, wohlgesetztes Ehrverständnis widerspiegeln grundlegende Werte, ja ein Erbe des christlich-jüdischen Abendlandes. Die unbedingte Notwendigkeit, die Flamme jener fundamentalen Grundsätze am Leben zu erhalten, hat sich über 65 Jahre nicht relativiert. Und angesichts der Asymmetrie heutiger Bedrohungen und unterschiedlicher Verständnisse der offenen Gesellschaft – Stichwort Iran – erklärt sich jenes Erbe nicht lediglich aus der Vergangenheit. Ich darf dies als Vertreter der Bundesregierung sagen und als einer, der an dieser Stelle erstmalig aus der – wenn man so will – Urenkelgeneration kommt.
Wir sprechen in diesem Lande gerne von der „Kultur des Erinnerns“, wenn es die Jahre 1933 bis 1945 zu beachten gilt. Für meine Generation ist das „Erinnern“ im Sinne des Erlebten unerreichbar fern. Wir mögen Profiteure der wahren Erinnerungskraft unserer Eltern und Großeltern sein. Wie verwöhnt und wenig dankbar begegnen wir zuweilen diesem Umstand. Und wie schnell ist man hinsichtlich des Widerstandes den Fliehkräften im Spannungsfeld zwischen Verklärung und Vergessen ausgesetzt. Erinnern kann für meine Generation also nur heißen, sich mit dem Vermächtnis zu befassen und dieses – soweit es den Möglichkeiten entspricht – ins eigene Leben aufzunehmen. Andernfalls würde auf das Versprechen, die Erinnerung an die mutigen Taten des deutschen Widerstandes wach zu halten, das Unglück lähmender Gleichgültigkeit folgen – und diese Gedenkstätte würde wieder allein dem kalten Todeswind ausgesetzt. Ich durfte noch das große Glück von Zeitzeugenberichten und damit die Kraft der Authentizität erfahren. Immer weniger werden allerdings aus erster Hand zu berichten wissen. Wir alle vermissen bereits heute Philipp Freiherr von Boeselager, der vergangenes Jahr verstorben ist. Er war für mich ein Mann eindrücklichster Bescheidenheit, der stets vor unreflektierter Verehrung warnte.
Heroisieren wir etwa übermäßig? Mein Onkel Franz-Ludwig Graf Stauffenberg, der heute zugegen ist, hat dies einmal wunderbar formuliert: „Mein Vater und seine Mitstreiter waren für mich Mitmenschen, die hinsehen, wo andere wegschauen. Sie rangen um Entscheidungen. Sie handelten, wo andere beiseite traten.“ [Zitatende]. Ein Blick des Sohnes. Von meiner Urgroßmutter weiß ich, dass die ihr bekannten Mitglieder des Widerstandes keine Helden sein wollten, auch wenn sie mit ihren Taten ihr Leben aufs Spiel setzten. So schilderte sie ihren Schwager Karl-Ludwig Freiherr zu Guttenberg als jemanden, „der Kunst und Schönheit liebte, der immer lächelte, der sein bequemes Leben gewohnt war, (und) so gar nicht aus dem Holz geschnitzt (war), aus dem ein Held ist, der Folter und Tod mutig auf sich nimmt.“ Was er im Übrigen schließlich tat.
Wir sollten uns also davor bewahren, den Widerstand – ohne den Blick auf die Menschen – auf ein unerreichbar hohes Podest zu stellen und gänzlich entrückte, vielleicht seelenlose Helden zu schaffen. Dies fordert zwar umso mehr Demut bei der Beantwortung der Frage, ob man sich in einer vergleichbaren Situation ähnlich verhalten könnte. Selbst bei weit geringeren Herausforderungen gilt aber: der wahrhaftige Dienst für Freiheit, Recht und Menschenwürde darf durch schiere Übergröße der Vorbilder nicht gehemmt werden. Auffällig ist indes, dass wiederholt ein anderes Extrem gesucht wird: der belehrende, akribisch die Schwächen suchende und nicht selten zur Marginalisierung neigende Unterton in der Beschreibung der Widerstandsbewegung. Auch hierbei gewinnt dieser Gefängnishof, gewinnt Plötzensee seine Eiseskälte zurück.
Worauf richtet sich dieses Ansinnen? Möglicherweise auf das Verständnis von Vorbildern. Tatsächliche Vorbilder für verantwortungsvolles Handeln entspringen jedoch nicht der Erkenntnis von Übermenschlichkeit, sondern im Ergebnis ist es gerade das Menschliche, was die Taten groß, auch heldenhaft erscheinen lässt. Es wäre ein Ausweis der Armseligkeit, wenn der moralisierende Maßstab des Übermenschlichen – angelegt von allzu menschlichen Vertretern – das Land seiner Vorbilder berauben würde. Immer wieder wird im Zuge des 20. Juli „mangelndes Demokratiebewusstsein unter den Verschwörern“ beklagt. Was für ein komfortables, ja manchmal hochmütiges Urteil – sei es aus dem angeblich gefestigten Wissen unserer Zeit oder aus Gründen individueller Geschichtsbewältigung. Die Frage, ob sich letztere Haltung aus dem Streben nach Minimierung der Gefahr persönlichen Scheiterns erklärt, mag an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Divergenz zu den Mitgliedern des NS-Widerstandes wäre allerdings bezeichnend. Wie viele der heutigen, selbsternannt vorbildlichen Demokraten sind sich der mitunter verzehrenden Motive und Ausgangslage des breiten Widerstands eigentlich noch bewusst? Wie viele haben sich vom intellektuellen Ruhekissen aus jemals mit den Qualen beschäftigt, die Menschen einholen, die wissen, dass sie für ihre Überzeugungen ihr Leben und das ihrer Familien riskieren? Wie viele danken gerade jenen für ihr Ruhekissen? Wie viele wissen um die Kausalität und Folgen des Scheiterns der Weimarer Demokratie? Wie viele würden schließlich selbst Widerstand gegenüber weltweit unübersehbaren Aushöhlungen demokratischer Leitbilder leisten? Altklugheit ist in der Regel ein Produkt der Bequemlichkeit.
Gewiss: die Chancen der ersten deutschen Demokratie wurden verspielt, da sich zu wenige für sie einsetzten. Klaus von Dohnanyi sprach einmal von „tragischen Geschwistern“ und meinte damit die Männer und Frauen des 20. Juli sowie jene Demokraten, die sich vergeblich bemühten, die Weimarer Republik stabil zu halten. Für viele ist Demokratie heute klangvolle Selbstverständlichkeit. Ebenso der Umstand, in einem Staat des Rechts, der Freiheit und des Friedens zu leben. Meiner Generation wurde all dies in den alten Bundesländern mit der Geburt geschenkt. Der behagliche Glaube an die Demokratie als Selbstläufer ist hingegen eine gefährliche Haltung. Zumal in Krisenzeiten, die einige genügsam nutzen, um Systemfragen zu stellen. So trivial es klingen mag: die Demokratie lebt vom Einsatz der Demokraten. Vor 20 Jahren wurden im Osten Deutschlands diesbezüglich großartige Zeichen gesetzt. Wir dürfen sie nicht in Vergessenheit geraten lassen. Den Systemkritikern von heute ist Widerstand zu leisten – allerdings mit einem Demokratieverständnis, das nicht nur Engagement, sondern auch Selbstvertrauen einfordert.
Der Vortragende hinterließe einen merkwürdigen Eindruck, sollte der Blick auf Mitglieder der eigenen Familie im Widerstand ohne Stolz gerichtet werden. Allerdings kein Stolz der Selbstgefälligkeit, sondern vergleichbar mit jenem, der seinen Bezugspunkt in Leistungen der Deutschen seit Kriegsende sucht. Ein Stolz folglich, der jenen gelten soll, die gerade in der Erkenntnis des Widerstandes ein Grundgesetz zu schaffen wussten. Der jenen gelten muss, die seit 1949 als prominente wie vergessene Verantwortungsträger für eine Bundesrepublik in Frieden und Freiheit aufopferungsvoll wirkten. Und der all jenen gilt, die das Glück des Jahres 1989 zu schmieden wussten. Insgesamt ein tief emotionales Empfinden, das uns angesichts der hier ausgestandenen Todesängste, der existenziellen Sorgen um die Familien und des ungeheuren Mutes und Gottvertrauens mehrfach verpflichtet: zu Demut und unbedingtem Einsatz für das Erbe des 20. Juli- Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenwürde. So standen bereits vor 65 Jahren auf diesem Platz der Todeskälte drei unsichtbare Wiegen.
Plötzensee verliert seinen Schrecken nicht. Ein Schrecken, der indes mit dem 20. Juli, dem Widerstand, neues Leben und Hoffnung geboren hat.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Feierlichen Gelöbnis vor dem Reichstag diese Rede gehalten:
Sehr geehrte, liebe Soldatinnen und Soldaten, liebe Rekruten, liebe Eltern, Angehörige und Freunde unserer Rekruten, sehr geehrte Damen und Herren!
Sie, liebe Rekruten, geloben heute, unserem Land treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Sie tun dies an einem bedeutenden Tag in der deutschen Geschichte. Heute, am 20. Juli vor 65 Jahren, scheiterte das Attentat auf Hitler. Und damit der mutige Widerstand derer, die entschlossen waren, Unrecht und Terror zu beenden. Das nationalsozialistische Deutschland kannte weder Freiheit noch Rechtsstaatlichkeit noch die Achtung der Menschenwürde. Es trat sie mit Füßen und ermordete viele Millionen Menschen. Die Erinnerung an den Zivilisationsbruch durch die Shoa muss Deutschland immer während wach halten. Es waren leider nicht viele – die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes und die Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die sich gegen den Nationalsozialismus auflehnten. Aber diese Wenigen haben unserem Land Würde und Ehre bewahrt. Sie haben ihre Augen nicht vor dem Unrecht verschlossen. Sie waren davon überzeugt, dass es ein grundlegendes Recht aller Menschen auf Würde gibt, welches der Staat nicht antasten darf. Genau deswegen begann ihre Regierungserklärung, die noch am Abend des 20. Juli verlesen werden sollte, mit den Worten – ich zitiere: „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts.“
Stauffenbergs Name steht für eine gültige Definition der Grenzen des Gehorsams – nämlich dort, wo heute unser Grundgesetz unveränderliche Grundwerte setzt. Daraus erwächst sein Verdienst. Genau damit begründen Stauffenberg und seine Weggefährten im Widerstand eine der wesentlichen Traditionslinien für die Bundeswehr. Sie sind uns heute Vorbild, Leitbild und Verpflichtung!
Das Attentat scheiterte. Viele derer, die Widerstand leisteten, verloren ihr Leben. Aber ihre Gedanken und ihr Anliegen haben gesiegt. Dafür können wir heute zutiefst dankbar sein. Winston Churchill schrieb schon 1946 seine seither oft zitierten Worte: „… Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das Fundament eines neuen Aufbaus.“- Ende des Zitats. Heute sind Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das Fundament unseres Landes. Diese Werte sind jedoch auch in unserer heutigen Welt keine Selbstverständlichkeit – der Blick über Deutschland und Europa hinaus belegt dies.
Für uns gilt: Wir müssen unsere gewachsene, globale Verantwortung und unsere nationalen Interessen gleichermaßen wahrnehmen. Heute ist sichtbarer denn je: innerstaatliche Werteordnung und außenpolitische Handlungsmaximen gehören zusammen.
Der Respekt vor der Würde des Menschen bei uns und überall auf der Welt ist und bleibt für mich der Kern unserer Politik. Er gilt in den Elendsquartieren dieser Welt genauso wie in ihren Villenvierteln. Er gilt im Umgang mit Kindern, mit Frauen, mit Andersdenkenden, mit Zuwanderern und Flüchtlingen. Er gilt in den Ländern Europas genauso wie in den Tälern von Tibet oder den Straßen von Teheran. Um diesen Werten Geltung zu verschaffen, bedarf es vieler Anstrengungen. Es gibt sie nicht zum Nulltarif und ohne verantwortungsvolles Engagement aller Bürger. Denn Freiheit bedeutet keineswegs Unverbindlichkeit und alles tun und lassen zu können, was man will. Freiheit bedeutet genausowenig wegschauen und beiseite stehen, wo Handeln geboten ist. Freiheit ist immer eine Freiheit in Verantwortung. In einer Extremsituation stellten sich die Männer und Frauen des 20. Juli ihrer Verantwortung und wagten die Tat, wo andere zum Abwarten rieten.
Heute, unter ganz anderen Umständen, stellen Sie, liebe Rekruten, sich der Verantwortung, die aus der Freiheit herrührt. Sie tun dies mit Ihrem Dienst in der Bundeswehr. Wir feiern Ihr Gelöbnis hier vor dem Reichstagsgebäude, vor unserem Parlament, im Zentrum unserer Hauptstadt. Das ist genau der richtige Ort! Denn mit Ihrem Wehrdienst stehen Sie mitten in unserer Gesellschaft. Und in diesem Gebäude sind es die freigewählten Abgeordneten des ganzen deutschen Volkes und eine demokratisch legitimierte Regierung, die Ihnen Ihre Aufträge geben. Sie stehen hier angetreten, um gemeinsam dem Recht und der Freiheit zu dienen. Und gleichzeitig, und das ist mir sehr wichtig, steht jeder hier als eigenständige, verantwortliche Persönlichkeit. Zusammen ergeben Sie eine lebendige Bundeswehr, eine mit Geist statt mit willenlosem Kadavergehorsam erfüllte Armee.
Die Männer und Frauen des Widerstands waren nur wenige, aber sie handelten in großer innerer Freiheit. Was sie zusammenband, war eine Gemeinsamkeit aus sittlicher Überzeugung, nicht von Herkunft, Gewohnheit oder bloßer Abneigung gegenüber dem NS-Regime. Sie standen alle für eine Aufgabe, die größer war als sie selbst. Der Wert der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für das Ganze wird durch ihr Handeln besonders scharf beleuchtet. Dies ist in bestem Sinne das, was wir Bürgertugend nennen. Und als Ausdruck von Bürgertugend sehe ich auch ihren Dienst als Wehrpflichtige in der Bundeswehr.
Millionen junger Menschen haben seit über fünfzig Jahren in der Bundeswehr ihren Dienst geleistet als Aktive, Wehrpflichtige oder Reservisten. Sie alle haben diese Aufgabe für unser Land angenommen. Und nicht nur sie haben diese Aufgabe angenommen. Mit ihnen leisten auf ihre Weise auch ihre Familien, ihre Eltern, Partner und Kinder einen besonderen Beitrag für dieses Land. Ich weiß wohl, was der Dienst in der Bundeswehr für sie alle bedeutet. Das möchte ich ausdrücklich würdigen!
Um so mehr sage ich ausdrücklich: Ich bekenne mich zur Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist eine wichtige Klammer zwischen Gesellschaft und Streitkräften. Sie hat über Jahrzehnte hinweg die Bundeswehr fest in unserer Gesellschaft verankert. Ja, ich möchte einen Schritt weitergehen: Die Wehrpflichtigen haben unserem Land gut getan. Sie haben Deutschland in einem sehr guten Sinne mit geprägt. Sie gewährleisten die Sicherheit unseres Landes. Mit der Wehrpflicht ist der Bürger zugleich auch der Verteidiger seines Landes – wie es Gerhard von Scharnhorst und die preußischen Reformer einst gefordert haben. Dieses Verständnis vom Bürger, der für seinen Staat einsteht, weil er seine Sache ist, ist ein kostbares Gut. Es hat nicht an Bedeutung verloren. Das aktive Einstehen für unsere Sicherheit und unsere Werte gehört für mich zu den Grundpfeilern unserer freiheitlichen demokratischen Ordnung. Die Wehrpflicht ist zum Markenzeichen unserer Streitkräfte geworden, um das wir auch international beneidet werden. Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind ohne persönliches Engagement und persönlichen Einsatz nicht zu haben. Jeder mag sich auf seine Weise einbringen und dafür einsetzen, dass unsere Werte gelebt und bewahrt werden. Mein großer Respekt gilt auch denen, die sich für einen sozialen Dienst entscheiden. Aber: Jeder, der Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten genießt, sollte diejenigen wertschätzen, die unsere Freiheit schützen.
Wir leben heute als Deutsche in Frieden mit unseren Nachbarn in einem vereinten Europa, ohne Mauern und Stacheldrähte. Das ist alles andere als selbstverständlich nach den Katastrophen und Verbrechen in unserer Geschichte im 20. Jahrhundert. Um so mehr sollten wir uns heute dieses hohen Gutes sehr bewusst sein. Es ist deswegen unsere geschichtliche Verantwortung, aber auch unser ureigenes Interesse, die uns zu einer engen und vertrauensvollen europäischen und transatlantischen Partnerschaft verpflichten. Sicherheit ist niemals selbstverständlich. Neue Herausforderungen und Risiken verlangen von uns neue Antworten: Internationaler Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten und die Folgen des Klimawandels – all dem können wir nicht allein, sondern nur gemeinsam mit unseren Partnern in Europa und der Welt begegnen. Dabei verfolgen wir einen vernetzten Ansatz, der Sicherheit nicht mehr allein militärisch begreift. Das heißt: militärische wie zivile Mittel, staatliche wie nichtstaatliche Initiativen, nationale Maßnahmen wie solche im internationalen Verbund – alle diese Anstrengungen müssen zusammenwirken und auf das gemeinsame Ziel von Sicherheit und Stabilität ausgerichtet sein.
Für unsere Streitkräfte bedeutet dieser Auftrag: Gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten unsere Sicherheit zu schützen, wenn es sein muss, auch weit entfernt von Deutschland. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren Dienst für Stabilität und Frieden, für Sicherheit und Wiederaufbau an vielen Orten der Welt: Auf dem Balkan, in Afghanistan, am Horn von Afrika, vor der Küste des Libanon und als Militärbeobachter im Sudan und in Georgien. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr dienen dort in einer vorbildlichen und tapferen Weise, oft unter schwierigen Bedingungen und mit hohen Risiken. Sie, liebe Rekruten, haben das Glück, in einem freien Land aufgewachsen zu sein.
Zu meiner persönlichen Lebenserfahrung gehören die Einengung, die Bedrücktheit und die Unfreiheit eines Unrechtsstaates. Zu diesem Platz, auf dem wir heute hier gemeinsam stehen, konnte ich erst nach dem Fall der Mauer 1989 das erste Mal in meinem Leben gehen. Ich möchte es Ihnen ganz persönlich sagen: In Ihrem Alter habe ich in der DDR gelebt und mich nach Freiheit gesehnt. Heute leben wir nun bald 20 Jahre in Frieden und Freiheit des wiedervereinten Deutschlands. Das zeigt: Alles ist möglich. Wir können in unserem Leben so vieles zum Guten wenden, jeder an seinem Platz. Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, dass es als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland heute zu meinen Aufgaben gehört, unsere Freiheit zu bewahren.
Sie, liebe Rekruten, stehen für dieses großartige Land, für das wiedervereinigte Deutschland, für den Schutz von Freiheit, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für die Zukunft im Bewusstsein der Vergangenheit. Sie leisten einen wichtigen und guten Dienst für unser Land. Bundesregierung und Parlament, unsere Bürgerinnen und Bürger stehen an ihrer Seite! Und ich ganz persönlich. Als Bundeskanzlerin wünsche ich Ihnen für Ihre Dienstzeit alles Gute, viel Glück und Gottes Segen!
Zu guter letzt vier Beobachtungen oder Anmerkungen:
Das feierliche Gelöbnis am Reichstag ist ein schönes Beispiel dafür, dass eine richtige Entscheidung aus Versehen gefunden werden kann. Denn als die Wiese vor dem Parlament im vergangenen Jahr zum Austragungsort für diese Veranstaltung am 20. Juli erkoren wurde, war sie nur ein Notquartier, wegen der Baustelle vor dem Bendlerblock. Man erinnere sich an die in der Rückschau possierliche Auseinandersetzung mit dem Grünflächenamt des Bezirks Berlin-Mitte. Aber an ein Zurück ist gar nicht mehr zu denken. Der Reichstag ist nicht nur eine schöne Kulisse, sondern genau das richtige Symbol mit der richtigen Inschrift gerade zu diesem Zweck („Dem deutschen Volke“, was keine völkische, sondern tiefdemokratische Proklamation war und ist). So weit, so gut. Aber eine öffentliche Veranstaltung ist das nicht. Sie könnte, was Öffentlichkeit betrifft, genauso gut auf dem Mond stattfinden, wenn nur die Medien und die Tribünengäste mitfliegen dürften. Dass besagtes Volk daran nicht teilhaben kann, sondern weiträumig abgesperrt werden muss, weil ein paar intolerante Andersdenkende ihr Andersdenken nicht nur demonstrieren (was sehr wünschenswert wäre, gerade auch in Sichtweite), sondern ihrerseits Andersdenkende stummtrillern würden (von den gegen Soldaten angedrohten Gewalttaten ganz zu schweigen), ist traurig und eigentlich sogar bedenklich. Dies ist eine etwas hilflose Anmerkung, aber so ist es nun mal.
An anderer Stelle sollte Abhilfe leichter möglich sein: Ein würdevoller Auftritt vieler Menschen bedarf einer Inszenierung, daher rührt das militärische Zeremoniell. Ein würdeloser Moment, der nicht erst in diesem Jahr aufgefallen ist, bedarf einer besseren Inszenierung: Wenn die Rekrutenabordnung mit der Hand auf der Truppenfahne das Gelöbnis bekräftigt, turnt ein wildes Knäuel an Kollegen drumherum. In diesem heutigen Fall auch, um eine schöne Perspektive mit Kanzlerin und Minister zu erhaschen. Da müssten sich die Zeremonienmeister noch etwas ausdenken, in Abwägung der Bedürfnisse von uns, den Medien, nach schönen Bildern, von ihnen, den Politikern, auch nach schönen Bildern, und des allgemeinen Bedürfnisses nach würdevollem Zeremoniell.
Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, hat vor Erscheinen am Schauplatz noch einen Vorschlag in der „Mitteldeutschen Zeitung“ angebracht: Das Gelöbnis am Reichstag solle nicht nur am 20. Juli stattfinden, auch der 3. Oktober komme in Betracht. Das erscheint uns etwas undurchdacht. Wer sollte da geloben? Rekruten, die zwei Tage zuvor eingerückt sind und kaum ihre Stiefel empfangen haben, von Stillgestanden und Richt‘ Euch ganz zu schweigen? Oder sollte eine Abordnung aus dem Juli-Einzug ein Vierteljahr zu diesem Zweck warten? Oder sollte man zugunsten dieses Festtermins einen neuen Einzugstermin erfinden, etwa den 15. September? Oder sollte man für den schönen Schein eine Art Wiedertäuferei veranstalten?
Und ganz am Schluss, als die Limousinen schon wieder vorgefahren waren, kehrte die Kanzlerin noch einmal um, um jemanden in der ersten Reihe zu herzen. Es war Peter Ramsauer (und als Kollateralgeherzter der einstige Verteidigungsminister Rudolf Scharping). Merkel soll Ramsauer gratuliert haben. Womöglich zum Aufstieg zum Fraktionsvorsitzenden, zu welchem Minister Jung in seiner Begrüßung den CSU-Landesgruppenvorsitzenden großzügig befödert hatte.