Eine Konferenz für Sicherheitspolitik in Minden hat am Samstag die womöglich letzte Gelegenheiten geboten, Egon Ramms im öffentlichen Auftritt zu sehen und zu hören. Der deutsche Vier-Sterne-General ist noch bis Monatsende Chef des Nato-Kommandos im niederländischen Brunssum, das für hauptsächlich für die Führung des Isaf-Afghanistaneinsatzes zuständig ist. Und Ramms zu hören, lohnt sich in der Regel, weil er nicht zum Schönreden neigt. Was ein ziemlich robustes Selbstbewusstsein nicht ausschließt („Mit David Petraeus führe ich jetzt meinen fünften ComIsaf. Soviel zum Thema Kontinuität“).
Aus dem Notizbuch:
Die Vereinigten Staaten hätten seit Ende August ihre Zusagen, was den Truppenaufwuchs in Afghanistan betrifft, zu hundert Prozent erfüllt. Die anderen Verbündeten nicht: Von 9600 Soldaten seien 7200 eingetroffen. Macht ein Fehl von rund 25 Prozent. Deswegen habe der Com Isaf General Petraeus 2000 weitere Soldaten angefordert, nach denen im Bündnis nun gefahndet wird. Deutschland zum Beispiel hat bislang seine Quick Reaction Force in ein Ausbildungs- und Schutzbataillon umgewandelt. Zugesagt sind aber zwei ASB (für die Genießer: Dieses Kürzel bedeutet künftig nicht mehr „Antenne, Standbetrieb“). Das zweite ASB soll Ende Oktober einsatzbereit sein. Es komme „verdammt spät“, sagt Ramms. Dann seien die kritischen Parlamentswahlen (18. September) vorbei, und es nahe der weniger kampfintensive Winter. Außerdem habe Deutschland als zuständige Nation für das Regionalkommando Nord drei solcher Bataillone zugesagt. Es seien aber nur zwei absehbar.
Was Ramms nicht auf der Tagung gesagt hat, aber die durch den Blick ins Archiv gestützte Erinnerung in diesen Zusammenhang stellt: Das dritte Bataillon hat der deutsche Verteidigungsminister zu Guttenberg im Februar angekündigt – mit dem Zusatz, diese Truppen würden die nordischen Verbündeten stellen. Doch dummerweise wussten weder Norweger, noch Schweden oder Dänen davon, dass sie dergleichen tun wollten. Und – so unsere Vermutung – dass die Deutschen an ihrer Stelle großzügig die Zusage gemacht haben, dürfte die Bereitschaft in den nordischen Hauptstädten nicht gerade gefördert haben. Zumal beispielsweise die Schweden neue, zusätzliche Aufgaben übernommen haben, um das von den Türken neu aufzubauende regionale Aufbauteam (PRT) in Sar-i-Pul zu schützen.
Noch einmal Ramms: Zwar mäßen die einschlägigen UN-Resolutionen der zivile Organisation Unama eine zentrale Rolle beim zivilen Wiederaufbau zu. Doch Isaf sei in 32 der 40 afghanischen Provinzen präsent, Unama nur in 32. Dafür Doch sei Unama in weniger Provinzen präsent als Isaf (bei den Zahlenangaben haben wir offensichtlich falsch notiert, daher durchgestrichen. Danke an Can Merey für den Hinweis!). Der zivile Aufbau sei zersplittert auf – eine für uns neue und erstaunliche Zahl – 1700 Organisationen, die in Afghanistan tätig seien. „Die Unama kann ihre Führungsrolle nicht ausfüllen.“ Die amerikanischen Streitkräfte seien bereit, alle „liegengebliebenen“ Aufbau-Aufgaben durch die eigenen Soldaten auszufüllen. „Es wäre gut, wenn das auch andere Nato-Nationen tun würden.“ Die Nato sei eben keine ausschließlich militärisch agierende Organisation; die Unterscheidung zwischen militärischem und zivilem Aufbau sei „nicht eben zielführend“. „Das ist möglicherweise eine der Quellen unserer Schwierigkeiten.“ Durch fehlende Koordinierung hätten „wir“ zwei Jahre verloren – oder vielleicht noch etwas mehr.
Eine Einschätzung des Nato-Generals zu der diesjährigen BBC/ARD- Bevölkerungsbefragung in Afghanistan: Angesichts der negativen Nachrichten in den deutschen Medien sei es doch erstaunlich, wie optimistisch die Afghanen mehrheitlich ihre Zukunft sähen. Allerdings gab es dort auch einen Negativtrend für den Aufgabenbereich der Bundeswehr, den Ramms nicht verschweigt. Doch nach seiner Einschätzung sei dafür keineswegs der Luftschlag bei Kundus vor einem Jahr verantwortlich, durch den etwa hundert Menschen getötet worden waren. Vielmehr sei dieser Trend darauf zurückzuführen, dass der Kontakt von Isaf (also – ergänzen wir – hauptsächlich der Bundeswehr) zu der Bevölkerung verlorengegangen sei. Ramms ergänzte: In Afghanistan gebe es 399 Distrikte. In 120 davon operiere Isaf mit „ausreichenden Kräften“. In Helmand sei es zum Beispiel durch den Truppenaufwuchs möglich geworden, dass die amerikanischen Marines zugweise in einem Dorf einquartierten. Die Bevölkerung stellt dort nach Darstellung des Generals, der kürzlich das Ganze bei einer Reise in Augenschein nehmen konnte, kritische Fragen; doch zielen die nicht etwa darauf, dass die Ungläubigen möglichst bald verschwinden sollten. Vielmehr fragten sie besorgt: „Bleibt ihr?“ Nur wenn man das mit Ja beantworten könne, dann baue sich das Vertrauen der Bevölkerung allmählich auf. Zur Illustration des Truppenaufwuchses nannte Ramms noch zwei beeindruckende Zahlen: Als er das Kommando in Brunssum übernommen habe, seien ihm in ganz Afghanistan 7000 Soldaten unterstanden. Heute seien es 150.000.
Noch eine Einschätzung Ramms‘ zum Abzug, den viele im kommenden Jahr beginnen sehen wollen: Es gehe um die Übergabe der Verantwortung für Sicherheit an die Afghanen. In der Hauptstadtregion Kabul habe man die Sicherheitsverantwortung schon im August an die afghanischen Kräfte übergeben. Jetzt habe man gerade die Türken gebeten, noch ein weiteres Jahr dort zu bleiben. Drei Jahre nach der Übergabe mit einem Abzug zu beginnen – das könne man sich vorstellen.
Gesprochen haben in Minden auch der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberst Ulrich Kirsch, EADS-Spitzenmanager Bernhard Gewert, Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) sowie der Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium und – hier einschlägig – ostwestfälische Bundestagsabgeordnete Steffen Kampeter (CDU). Sie werden hier etwas stifmütterlich behandelt, sonst wird es uns zu spät und zu lang.
Kirsch behandelte die Bundeswehrreform und die Positionierung seines Verbandes dazu. Seine Rede schien uns in erster Linie nach Innen gerichtet, an die eigenen Mitglieder. Wortreich erklärte Kirsch, warum er immer noch die Wehrpflicht für die beste Strukturform halte, aber dennoch nicht Fundamentalopposition betreiben wolle. (Offenbar hat es diesbezügliche Forderungen an ihn gegeben.) „Der Deutsche Bundeswehrverband wird nicht im Wege stehen, sondern konstruktiv begleiten. Totalopposition und Totalverweigerung wären nicht angebracht.“ Ausführlich artikulierte Kirsch, wie die Truppe der vielen Reformen (nun der sechsten? der siebten?) überdrüssig sei. Aus dem Literaturkanon schöpfte er das Bild des Kafkaschen Käfers, um die Sorge vor einer weiteren Metamorphose der Bundeswehr zu verdeutlichen: hilflos auf dem Rücken liegen wolle man nicht. (Freilich, bei Ovid gibt es auch ganz hübsche Metamorphosen; in eine herrliche Eiche zum Beispiel.) Aber wie gesagt: „Wir kämpfen keine aussichtslosen Gefechte – jedenfalls nicht ewig.“ Unter den gegebenen Umständen sei Guttenbergs Variante mit den freiwilligen Wehrdienstleistenden noch das beste Modell; nur sei die Zahl von 7500 zu klein.
Der EADS-Mann hat die Vorzüge unbemannter Flugobjekte beschrieben, weil sie so lange in der Luft bleiben können. Dass wir ansonsten hier kaum Notizen haben, liegt sicherlich an unserer technischen Unkenntnis. Aufgefallen ist uns nur, dass er als die größte Herausforderung beschrieben hat, für UAV mit Reichweiten über 6000 Kilometer eine Zulassung im zivilen Luftraum zu erreichen. Uns ist nicht ganz klar, ob das eine Handlungsaufforderung an die Politik oder Verwaltung ist, mal ein bisschen flexibler zu sein, oder ob damit indirekt der Vorzug des EADS-Modells gegenüber israelischen Konkurrenten beschrieben wurde, weil die nämlich nach Aussage Gewerts außerhalb von Afghanisten nirgendwo fliegen dürfen. Notiert haben wir noch eine Antwort auf eine Frage, warum sich EADS gegen eine Reduzierung der Eurofighterbestellung stemme: „Wir haben einen Vertrag über eine bestimmte Zahl an Eurofightern. Wenn der Kunde meint, dass er die nicht mehr braucht, dann muss er mit uns reden.“
Kampeter hat nur ein Grußwort gesprochen, das aber vielleicht auch gerade wegen seiner Kürze als prägnant in Erinnerung bleibt. Seine These: Die Wirtschafts- und Finanzkrise (er fügte keineswegs ein „überstanden“ ein) habe die geostrategische Lage nachhaltiger verändert als so manche konventionellen Kriege der letzten sechzig Jahre. Sie habe zum Beispiel eine Variante von „failing states“ hervorgebracht, nämlich solche Staaten, deren Finanzsystem zusammenbricht. Und zur Rolle Deutschlands: „Wer de facto der Stabilitätshegemon in Europa ist – mit Frankreich – der muss auch bereit sein, schwerere Lasten zu tragen.“ Das war beispielsweise auf die Griechenlandhilfen bezogen; gab aber dem General Ramms einen hübschen Anknüpfungspunkt, auf die Wieker/Guttenbergischen Bundeswehrpläne anzuspielen, von denen er eigentlich sonst nicht reden mochte: Deutschland sei das zweitgrößte Nato-Land. „Wie groß ist da die Verantwortung für Sicherheit in Europa?“
Niebel schließlich stellte dar, dass in einem Ansatz vernetzter Sicherheit es darauf ankomme, dass die verschiedenen Politikfelder „auf Augenhöhe“, gleichberechtigt und gemeinsam arbeiteten. Außerdem haben wir notiert: „Wenn Organistationen in Talibangebiet betätigt, dann übernimmt sie nur die sozialen Aufgaben der Taliban. Davon halte ich nichts.“ Außerdem der Punkt: Die Entwicklungszusammenarbeit habe tausend Repräsentanten in Afghnanistan. Die blieben dort ein Jahr oder länger. Aber ihre Ansprechpartner in den deutschen PRT wechselten alle vier Monate. „Im Sinne der zivil-militärischen Zusammenarbeit sollte man das überdenken.“