Zwei Wochen nach der Erstürmung eines Hauses der Vereinten Nationen in Mazar-i-Scharif, bei der am 1. April sieben Mitarbeiter der Unama-Mission getötet worden sind, verdichten sich die Hinweise, dass es gerade wegen der kurz vorher angekündigten Sicherheitsübergabe an die afghanischen Stellen dort zu der Tragödie gekommen ist. Zum einen haben die afghanischen Sicherheitskräfte offenbar deshalb mehrere Unterstützungsangebote der internationalen Isaf-Truppe zurückgewiesen, weil sie zeigen wollten, dass sie selbst der Lage Herr werden könnten. Zum anderen scheinen auch die regierungsfeindlichen Aufständischen gerade wegen der angekündigten Übergabe der Verantwortung Mazar als Ort für eine Eskalation ausgewählt zu haben. Dieses Bild ergibt sich aus Einschätzungen von Offizieren in der Isaf wie auch bei der Bundeswehr. Allerdings seien die Untersuchungen der UN und der Isaf noch nicht abgeschlossen, hieß es im Verteidigungsministerium.
Der Vorfall entwickelte sich aus einer Demonstration nach dem Freitagsgebet, die sich gegen die im Internet verbreitete Koranverbrennung durch einen amerikanischen evangelikalen Prediger richteten. Dabei seien die Demonstranten von gewaltbereiten Extremisten zusätzlich aufgehetzt und zum Zug auf den Sitz der Unama-Mission angestachelt worden seien, hieß es. Inwieweit sie von außen gesteuert wurden, sei noch nicht nachweisbar, hieß es unter Verweis auf die noch laufenden Untersuchungen.
In der Isaf wird wiederum geprüft, welche Konsequenzen die tragischen Vorfälle vom 1. April auf das künftige eigene Verhalten haben können. Niemand sei der Meinung, dass alles optimal gelaufen sei, heißt es in der Truppe. Zugleich wird auf das Dilemma verwiesen, das sich aus ausdrücklichen Versicherungen der afghanischen Seite ergeben habe, man habe die Lage im Griff und benötige keine Unterstützung. Die Frage wird gestellt: Hätte bei noch ungewisser Lageinformation der Befehlshaber des Isaf-Regionalkommandos Nord, der deutsche Generalmajor Kneip, sich über die Wünsche der afghanischen Seite hinwegsetzen sollen – bei der ersten Gelegenheit, nachdem verkündet worden war, die Sicherheitsverantwortung für die Stadt Mazar-i-Scharif werde an die Afghanen übergeben?
In den ersten Stellungnahmen nach dem Ereignis hatte es noch vorsichtig geheißen, nach derzeitiger Kenntnislage habe es in den kritischen Stunden kein Hilfeersuchen der afghanischen Seite und auch nicht der Unama gegeben. Inzwischen verweist die Bundeswehr darauf, dass „im Vorfeld“ der Demonstration die Isaf ausdrücklich den Afghanen Unterstützung angeboten habe. Das sei durch das – für die Zusammenarbeit in der Umgebung des internationalen Militärcamps zuständige – schwedische Wiederaufbauteam (PRT) geschehen. Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten aber gegenüber dem Regionalkommando signalisiert, dass ein Eingreifen von Isaf-Kräften kontraproduktiv und eskalierend auf die afghanischen Demonstranten wirken würde. Die afghanischen Sicherheitskräfte müssten sich dieser Aufgabe stellen. Als General Kneip sich schließlich dennoch zum Eingreifen entschloss, um die überlebenden, verletzten oder in einem „sicheren Haus“ zurückgezogenen Unama-Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen, sei das daher nicht mehr mit den Sicherheitskräften, sondern unmittelbar mit dem in Mazar-i-Scharif residierenden Gouverneur der Provinz Balkh, Mohammed Atta, abgestimmt worden. Es habe zu keinem Zeitpunkt ein afghanisches Unterstützungsersuchen gegeben. Vielmehr sei der Isaf-Regionalkommandeur aktiv auf die afghanischen Stellen zugegangen.
Weniger klar sind die Auskünfte, durch wen das Regionalkommando überhaupt von der Eskalation der Lage erfahren hatte. „Gegen 16:40 Uhr afghanischer Ortszeit ging beim Gefechtsstand des Regionalkommando Nord (rund zehn Kilometer entfernt), der unter deutscher Führung ist, der erste Hinweis ein, dass der Unama-Stützpunkt angegriffen würde,“ heißt es in der offiziellen Darstellung der Bundesregierung. Dabei war offenbar schon der Hinweis darauf enthalten, dass es bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen Tote gegeben hatte. Die undeutliche Angabe kann auf nachrichtendienstliche Quellen hindeuten. In Medienberichten war aber auch davon die Rede, dass die bedrängten Unama-Leute Kurzmitteilungen ins Camp Marmal geschickt hätten.
Jedenfalls wurde – weiter nach offizieller deutscher Darstellung – das Regionalkommando Nord noch um 16:45 Uhr durch den stellvertretenden Polizeichef der Provinz Balkh darüber informiert, dass afghanische Polizei vor Ort und die Lage unter Kontrolle sei. Gegen 17:00 Uhr sei jedoch der Unama-Stützpunkt gestürmt und in Brand gesteckt worden.
(In dieser Uhrzeitangabe besteht ein Widerspruch der offiziellen Darstellung zu der uns vorliegenden Information, dass schon um 16:40 ein Hinweis auf Tote eingegangen sei – ein Widerspruch, auf den unten der erste Leserkommentar hinweist und den wir deshalb in diesem Nachtrag markieren.)
Das Geschehen konnte inzwischen durch die Isaf beobachtet werden, die eine Aufklärungsdrohne von ihrem ursprünglichen Auftrag abgezogen und über die Stadt dirigiert wurde. Ab 16:50 Uhr kreiste sie über dem Unama-Stützpunkt. Außerdem wurde eine schnelle Eingreiftruppe („Quick Reaction Unit“) im schwedischen PRT und eine weitere im Camp Marmal bereitgehalten. In der Stadt wurde der Unama-Stützpunkt durch eine Eliteeinheit des 209. Corps der afghanischen Armee wieder abgesichert. Da war die Tragödie allerdings bereits geschehen und vier drei Norweger und Schweden sowie ihre vier nepalesischen Wachleute („Gurkhas“) erschossen worden.
Gegen 17:30 Uhr erhielt das Isaf-Kommando die Nachricht, dass sich in einem weiteren Unama-Gebäude in der Stadt, einem sogenannten „safehouse“, weitere 16 internationale Mitarbeiter aufhielten. Daraufhin wurden die bereitgehaltenen Entsatzkräfte dorthingeschickt, was immer noch anderthalb Stunden in Anspruch nahm. Die Straßen seien voll gewesen und die Sicherheitslage unklar, heißt es dazu. Gegen sieben Uhr waren sie am Stützpunkt, in der folgenden Stunde wurden die 14 überlebenden Unama-Leute und die sieben Leichname herausgeholt.
Nachdem anfangs von Vorwürfen der Unama gegen die Isaf die Rede gewesen war, entschloss sich der UN-Repräsentant in Kabul, der schwedische Diplomat Staffan de Mistura, mit Datum vom 6. April dem deutschen Regionalkommandeur einen Brief zu schreiben, in dem er für die „extensive Unterstützung“ dankt, als es um die Evakuierung und die Versorgung des Unama-Personals im Nachgang zu dem schrecklichen Vorfall gegangen sei.
Kurze Richtigstellung im...
Kurze Richtigstellung im Detail: Die Morde fanden zwischen 16.00 und 16.45 statt, nicht erst gegen 17 Uhr, wie Sie schreiben: „Gegen 17:00 Uhr wurde jedoch der Unama-Stützpunkt gestürmt und in Brand gesteckt.“
Gruesse aus Mazar-e-Sharif.
Fragen:
Wer war denn zur Zeit...
Fragen:
Wer war denn zur Zeit der Morde an den UN-Mitarbeitern und den nepalesischen Wachleuten für die Sicherheit verantwortlich? War die“angekündigte“ Übergabe bereits erfolgt?
Falls die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit noch nicht erfolgt war: brauchte ISAF die Erlaubnis der afghanischen Sicherheitsbehörden zum Einsatz ihrer Eingreifkräfte?
Wie bewertet ISAF den Wahrheitsgehalt der Meldung des stv.Polizeichefs von 16:40 „afghanische Polizei vor Ort und die Lage unter Kontrolle“. Wo war die Polizei, als die nepalesischen Wachen erschossen wurden? Kam es zu Festnahmen?
Ist der Eindruck richtig, daß die Eliteeinheit der AFG Armee die UNAMA erst „sicherte“, als der mordende Mob wieder abgezogen war?
Wird jetzt bei ISAF das Konzept der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit überprüft?
Erinnert mich alles weiterhin...
Erinnert mich alles weiterhin an die März-Unruhen im Kosovo.
Mit Ausreden ist man bei der Bundeswehrführung ja immer schnell zur Hand.
Schuld ist eigentlich immer jemand Anderes: Politik, Wehrverwaltung, Industrie, ANSF. Es offenbart einfach mal wieder das Kernproblem der Bundeswehr: Die Null-Fehler-Kultur.
Demensprechend sehe ich auch die Verlautbarungen des BMVg zu Abläufen im Einsatz. Wahrheitspflicht gilt ab einer gewissen Ebene wohl nicht mehr.
Militärisch und politisch...
Militärisch und politisch durchaus das, aus deren Sicht, richtige Handeln. Es war militärisch lange im Vorraus klar, dass es bei der Verkündung der Sicherheitsübergabe zu Auseinandersetzungen kommen wird.
Die AFG-Sicherheitstruppen, Militär wie Polizei, geniesen bei den Taliban einen schlechten Ruf. Diese müssen sich nun in den Augen des Volkes sowie in den Augen der Koalitionstruppen beweisen. Wenn klar ist, die Sicherheit wird den AFG Truppen Übergeben, dann können diese nicht ein paar Monate zuvor bei ersten Anzeichen von Eskalation um Hilfe bitten. Sicherheit beginnt als erstes in den Köpfen. Zudem wäre dies im arabischen Raum ein Eingeständniss von Schwäche und würde die Taliban nur nochmahr anheizen und ihren Truppen regen Zulauf bescheeren.
Leider führte dieses Verhalten in diesem Fall zu Toten und Verletzten. Dennoch müssen die AFG Truppen lernen mit der Lage umzugehen, wenn sie früher oder später ihr Land wieder selbst kontrollieren wollen.
Das späte Eingreifen der Bw erklärt sich wenn man die Örtlichkeiten sowie die Verlässlichkeit, die Übermittlung der Botschaften und die Widersprüche die es zu analysieren gilt kennt. Weil eine SMS bei einem Locle ankommt schickt noch keiner eine QRF los und riskiert das Leben der Soldaten. Der Abzug und die Neulenkung der Drohne war ein praktischer und doch üblicher Ablauf, wenn dieses Mittel zufällig grade zur Verfügung steht. Nicht ständig sind Drohnen in der Luft die man eben mal schnell abziehen kann. Üblicher Weise wird eine Luftaufklärung angefordert die oftmals über Verbindungsoffiziere gestellt werden muss.
So gesehen also noch ein Glücksfall, dass diese Drohne verlässliche Informationen liefern konnte und die QRF so zeitnah wie nur möglich entsand werden konnte.
Humanitär ganz ohne Frage ein Skandal. Der AFG Komandeur hätte erkennen müssen, dass seine Truppen die Lage nicht unter Kontrolle haben und hätte sofort beim deutschen Komandeur Hilfe anfordern können und müssen. Aber selbst auf dem Schlachtfeld hält mittlerweile die Politik einzug.
@ex-Kontingent: Danke für die...
@ex-Kontingent: Danke für die zusätzlichen Informationen!
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Was, bitte, ist ein „Locle“?
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Halten Sie es für möglich, daß die örtlichen Sicherheitskräfte durchaus mit der Lage hätten „umgehen“ können, wenn sie es ernsthaft gewollt hätten? Haben sie vielleicht mit der berühmten „klammheimlichen Freude“ zugesehen, wie die Schändung des Korans an den Ungläubigen gerächt wird ? Und wird solches Verhalten wenigstens untersucht?
Ein kleines Detail am Rande: heute fand ich in meinem Briefkasten die Nummer 2/11 der Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Auf S. 60 – 62 ein Interview mit Hansjörg Strohmeyer, Leiter der Unterabteilung Politikentwicklung beim OCHA (Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) der Vereinten Nationen. Es ging um humanitäre Arbeit in gefährlichen Gebieten wie Afghanistan.
Das Interview fand am 23. Februar 2011 in Berlin statt.
Strohmeyer berichtet über die Zunahme getöteter ziviler Helfer in den letzten drei Jahren – bis zu 100 pro Jahr. Gleichwohl vertritt er die Auffassung, es wäre das Ende der humanitären Hilfe sein, wenn man diese in gefährlichen Situationen nur noch unter militärischem Schutz leisten würde. Allerdings erwartet er, daß Personen, die Anschäge auf Einrichtungen der UN verüben, Autos rauben oder Mitarbeiter töten, vor ein nationales Gericht oder den internationalen Strafgerichtshof kommen.
Locle= Spitzname der Bw für...
Locle= Spitzname der Bw für einheimische Helfer
Die AFG-Truppen hätten vielleicht mehr tun können. Dies letztendlich jedoch zu unterstellen steht mir nicht zu.
Man darf sich die AFG Sicherheitskräfte aber nicht falsch vorstellen. Es sind keine Truppen wie die deutschen Fallschirmjägerspezialzüge oder die KSK die freiwillig dienen und die Menschenrechte verteidigen. Die Motivation der AFG-Truppen ist viel weiträumiger. Viele dienen wegen dem Geld und dem Ansehen das höhere Militärs genießen. Andere dienen weil sie schon immer Soldaten waren und das nicht anders kennen. Die Motivation bei einem solchen ZWischenfall einzugreifen ist bei den Koalitionstruppen klar… Leben retten. Für die AFG ist es den Feind zu töten und Ruhm zu ernten. Die Mentalität der Truppen und Menschen könnte unterschiedlicher nicht sein. Erinnen sie sich an die Aussagen der Politiker und der hohen Militärs nach dem Bombardement auf die Tanklaster. Viele sahen es als den richtigen Schritt und sprachen darüber, dass die Zivilisten die dabei starben selbst schuld seien. In Europa keine Meinung die öffentlich bestand haben könnte, da es Ziel der Armee ist die Zivilisten zu schützen. In AFG jedoch eine weit verbreitete Meinung.
Ob die zuvorgegangene Koranschändung dabei überhaupt eine Rolle spielte sei mal dahin gestellt. Auch wenn die Taliban sehr religiös sein mögen. Sie denken taktisch klug und nutzen diesen Fehltritt eines US-Predigers sicher als Propaganda. Mit diesen Angriffen nun stehen sie in den Augen der streng religiösen Bevölkerung nun als die Verteidiger des Korans da.
Die ISAF versucht das Volk für sich zu gewinnen…mit Essen, Krankenhäusern etc.
Die Taiban tun das selbe aber sie versuchen das über die Religion und banales Geld.
Meiner Meinung kennen nur die wenigsten und die ältesten der Afghanen den Wohlstand und wissen was ein soziales Netz ist. Was man nicht kennt kann einen nicht locken.
Seit Jahrzehnten aber tobt in AFG der Krieg. Man kennt sich aus. Geld ist macht. Religion ist der Halt und Kämpfer sind Ehrenleute.
Wohin treibt es also die Bevölkerung die mit dem Krieg aufgewachsen ist und den Wohlstand des Westens nicht oder nur von Bildern kennt?
Die humanitäre Hilfe in...
Die humanitäre Hilfe in Ländern wie AFG ist ein absolutes Muss. Was passieren würde, wenn die „Schutztruppen“ abziehen ohne eine humanitäre Basis zu hinterlassen kann sich jeder an 5 Fingern abzählen.
Die Taktik der Nato bzw. UN ist meiner Meinung auch theoretisch die richtige.
Eindringen, säubern / befrieden, schützen, aufbauen und den Einheimischen wieder übergeben. So sinngemäß.
Der Fehler liegt nach meiner Sicht der Dinge darin, dass die Aufbauteams und die Gelder nicht in den befriedeten Regionen eingesetzt werden sondern in den Umkämpfeten. Dort wo große Teile des Geldes von den Taliban und den Warlords von den Baufirmen und den Hilfsorganisationen herrausgepresst werden. Leider ist es nicht möglich nachzuvollziehen wie viel Geld die Hilfsorganisationen den Taliban zahlen um überhaupt weiter arbeiten zu können.
Da dies unbestritten so läuft, sollte man auch der Bevölkerung dort zeigen, dass man nicht bereit ist weiter zu arbeiten und Geld zu investieren, wenn die Bevölkerung sich nicht von den Taliban löst. Dazu gehört es dann aber auch härter gegen die Aufständischen vor zu gehen. Zu zeigen, dass die ISAF nicht zum Kaffeetrinken da ist. Im Gegenzug muss man den Menschen aber auch direkte, kontrollierte Hilf zukommen lassen, sie nicht im Stich lassen, ihnen zeigen, dass man sich weiter um sie kümmert und ihnen an Beispielen zeigen wie es funktionieren kann.
Würde man den Wiederaufbau auf die bereits friedlichen Gebiete wie den Osten der großteils von Schiiten bevölkert ist verlagern und dort mehr Geld investieren, könnte man die Bevölkerung dort für sich gewinnen und dem Rest des Landes zeigen wie es aussehen kann wenn man kooperiert. In AFG ist nichts so schnell und verlässlich wie die Mundpropaganda.
Seit Jahren gibt es in den Schiitengebieten in AFG keine größeren Konflikte mehr. Ein riesiges Gebiet das von 120 Mann der Neuseeländischen Armee „beschützt“ wird. Hilfszahlungen kommen in den Gebieten bisher aber leider fast keine an.