Zur Sicherheit

Keine Rote Armee mehr

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Als Verteidigungsminister de Maizière am Donnerstag in Moskau seinen russischen Amtskollegen Serdjukow getroffen hat, erhielten die mitgereisten Journalisten während des Delegationsgesprächs eine Unterrichtung zu der russischen Streitkräftereform. Für intime Kenner der russischen Verhältnisse (was wir nicht sind) war möglicherweise wenig Neues dabei, doch halten wir die Notizen aus zwei Gründen dennoch für festhaltenswert. Zum einen ist es schon an sich ein ungewöhnlicher Schritt, dass ausländische Medienvertreter ein solches Briefing durch den russischen Generalstab erhalten. Zum anderen ähneln manche Probleme und Herausforderungen – bei allen Unterschieden in Struktur, Anspruch und Ausgangslage – doch in erstaunlichem Maße denen, die sich auch bei der Bundeswehrreform stellen.

Also sprach Generalmajor Sergej Fjodorowitsch Ruzkoi, stellvertretender Chef der Hauptabteilung Operativ des Generalstabs der Streitkräfte der russischen Föderation (durch uns stichwortartig zusammengefasst, doch behalten wir einige eigentümliche, vielleicht auch durch die Übersetzung noch eigentümlicher gewordenen Formulierungen bei; erläuternde Ergänzungen durch uns in Klammern): 2008 hat die Führung des Staates eine Reihe von wichtigen Entscheidungen getroffen, um die Streitkräfte zu reformieren. Gründe waren die Veränderung der militärpolitischen Lage und des Wesens von Kampfhandlungen sowie der Zustand der Streitkräfte der russischen Föderation. Die Streitkräfte sollen künftig nicht mehr darauf ausgerichtet werden, an einem großen Krieg teilzunehmen, nach einer umfassenden Mobilmachung, sondern sie solle für die neuen Formen von Kampfhandlungen fit gemacht werden. Beispiele dafür: Kampf gegen Terroristen oder gegen Piraten. Der Prozess der Umsetzung dauert an.

Es stellen sich fünf grundsätzliche Aufgaben. Erstens verabschiedet sich Russland von der großen Mobilmachungsarmee. Das heißt, es soll künftig nicht mehr (Kader-)Verbände geben, die noch (mit Reservisten oder Rekruten) aufgefüllt werden müssen. Alle Verbände sollen (als Einsatzverbände) zu hundert Prozent aufgefüllt sein. Zweitens sollen die Streitkräfte mit modernen Waffen und modernem Material ausgerüstet werden. Drittens sollen ein „neuer Offizier“ und ein „neuer Sergeant“ (als Leitbild) formiert werden. Das heißt, die Ausbildung wird neu konzipiert, und ein Netz von neuen Ausbildungseinrichtungen wird gebildet. Viertens sollen Programme und Vorschriften neu erstellt werden zu: Ausbildung, Dienst in der Garnison, Gefechtshandlungen. Fünftens geht es um die Absicherung der Soldaten. Sie sollen angemessenen Sold beziehen und vorrangig mit Wohnungen bedacht werden.

Künftige Stärke der Streitkräfte: Eine Million Soldaten. Die maßgebliche Führungsebene soll nicht mehr die Division sein, sondern die Brigade. Alle Brigaden sind gefechtsbereit. Sie können wenige Stunden nach dem Einsatzbefehl ins Gefecht eintreten. Reformiert wird auch die Führungsebene der Militärbezirke. Aus bislang sechs sollen vier Militärbezirke werden. Auf dieser Ebene sollen die Teilstreitkräfte ihr Eigenleben verlieren, sie werden in den Führungsstrukturen zusammengefasst. Alle Truppen auf dem Gebiet eines Militärbezirks unterstehen also einem Befehlshaber. Ausnahme: Die strategische Raketentruppe und die Weltraumtruppe. Der Befehlshaber ist persönlich verantwortlich für die Sicherheit des Staates und die Integrität des Gebiet seines Militärbezirks. Auch die Führungsstruktur der Teilstreitkräfte wird reformiert, ihre Aufgaben werden präzisiert. Ergebnis soll sein: Keine Doppelung mehr bei der Erfüllung der Aufgaben. Jeder Stab erfüllt nur die Aufgaben, die ihm angemessen sind.

Neu soll auch das System der Versorgung der Streitkräfte gestaltet werden. Vorher wurde unterschieden zwischen der technischen Sicherstellung (wohl: Instandsetzung) und der materiellen Versorgung. Stattdessen: Ein einheitliches System der Logistik. Dadurch soll es auch ermöglicht werden, Gerät durch zivile Firmen instand setzen zu lassen (auf gut deutsch: Outsourcing).

Die militärischen Führer sollen von Aufgaben der Logistik befreit werden, so dass sie sich vorrangig um Ausbildung kümmern können. Priorität hat die Einsatzausbildung.

Die schwierigste Aufgabe ist die massenhafte Umrüstung der Truppe mit neuem Material, moderner Bewaffnung und Gerätschaft. Hier hat der Präsident die Prioritäten festgelegt. An erster Stelle steht die strategische Kernwaffentruppe, es folgen Weltraumverteidigung und Luftverteidigung. Weiter hinten stehen Fernmeldeausrüstung und elektronische Führung der Truppe. (Wir haben die Punkte nicht alle genau verstanden, jedenfalls kam mehrmals der Weltraum vor, nicht aber Panzer, Gewehre, Schiffe oder so etwas wie der „Infanterist der Zukunft“.) Bis 2015 soll die Umrüstung zu 30 Prozent mit modernem, zukunftsfähigem Material fertiggestellt sein, bis 2020 zu 70 Prozent; in einigen Schwerpunktbereichen sollen 2020 bereits 100 Prozent erreicht werden.

Gleichzeitig wird das Stationierungskonzept neu gestaltet. Es wird sehr viel weniger Standorte geben: 200 Garnisonen der gesamten Streitkräfte. (Bei einer Million Gesamtstärke; das werden ziemlich große Garnisonen.) Damit ist man optimaler aufgestellt für strategische Aufgaben, und vor allem können Kosten gesenkt werden. Offiziere sollen mit ihren Familien in der Nähe von Städten wohnen können, die Familien müssen in sozialer und kultureller Hinsicht abgesichert sein (Schulen für die Kinder, Arbeitsplätze für die Ehefrauen).

Für jede Teilstreitkraft wurden wissenschaftliche- und Ausbildungszentren geschaffen. Militärische Akademien wurden zusammengelegt. Die Gesamtzahl der höheren Ausbildungsstätten wurde von 64 auf 16 gesenkt. Die Offizierausbildung wird konkret auf den vorgesehen Dienstposten hin ausgerichtet. Besonders wichtig ist die Ausbildung der Sergeanten. Ein mehrstufiges Ausbildungssystem sieht vor: Ausbildungsverbände, Offizierschulen, zentrale Einrichtungen des Verteidigungsministeriums.

Der Anteil der Zeitsoldaten soll deutlich erhöht werden. Wie schnell das geht, hängt davon ab, wie gut es gelingt, den Dienst attraktiv zu gestalten, das heißt vor allem: soziale Absicherung. Vor allem sollen mehr Unteroffiziere als Zeitsoldaten auf Dienstposten kommen, die wichtig sind für die Einsatzfähigkeit.

Wichtig für Auftrag Nummer fünf (das war die soziale Absicherung der Soldaten): Streitkräfte mit neuem Antlitz sollen entstehen. Dabei geht es nicht nur darum, die aktiven Soldaten sozial abzusichern, sondern auch die Pensionäre und Veteranen. Ein solches Tempo beim Wohnungsbau hat es noch nie gegeben. Es entstehen etwa 50.000 Wohnungen pro Jahr. Im Januar 2012 soll der Wehrsold deutlich erhöht werden – in angemessener Höhe.

All diese Reformen sind seit zwei Jahren im Gange. Die erste Etappe ist erreicht, aber natürlich sind noch nicht alle Aufgaben erledigt.

Schwerpunkte bis Ende 2011:

Eine neue Truppengattung wird eingeführt, die Luft- und Weltraumkräfte. Die Umrüstung wird vorangetrieben. Alles, was nicht Kernaufgaben der Streitkräfte sind, wird anderen übertragen. Im täglichen militärischen Leben wird die höchste Aufmerksamkeit auf die Ausbildung gelegt.

(Frage: Sind die Panzer immer noch die Speerspitze der Armee?) Früher war das Heer das wichtigste, das war die Grundlage der Streitkräfte der Sowjetunion. Die Theorie des modernen Krieges stellt nicht nur auf das Heer ab. Sondern beispielsweise die Luftstreitkräfte werden wichtiger, ihre Ausstattung mit Präzisionsmunition. Es geht nicht mehr um Massenheer und Panzerspitzen, sondern darum, in lokalen Konflikten begrenzter Intensität die Kräfte schnell und gezielt einsetzen zu können. (Frage: Steht genug Geld zur Verfügung?) Der Präsident hat allein für die Umrüstung bis 2020 die Summe von 20.000 Milliarden Rubel zur Verfügung gestellt, das entspricht 500 Milliarden Euro. (Frage: Was können die russischen Streitkräfte von der Bundeswehr lernen, und umgekehrt?) Großes Interesse besteht an den Erfahrungen der Bundeswehr bei der Einsatzausbildung und an Simulationssystemen für die Ausbildung der Soldaten (also so etwas wie das Gefechtsübungzentrum GÜZ in der Altmark). Und wenn die Bundeswehr Rat braucht, so wird man gerne zur Verfügung stehen.

So weit unsere Notizen. Wie gesagt, zur Sache können wir nicht viel an eigenen Anmerkungen beitragen, wohl aber zur Atmosphäre. General Ruzkoi machte einen freundlichen und hilfsbereiten Eindruck. Als er mit Nachfragen unterbrochen wurde (wie viele Wohnungen, wie viel mehr Sold?) schien er zwar überrascht, ging aber darauf ein. Frühere Moskaukorrespondenten sind dergleichen nicht gewohnt, sie kannten von Uniformierten eher einen entweder barschen oder herablassenden Ton. Mag also in vielem, was uns da präsentiert wurde, mehr Soll als Ist stecken – das kennt man auch aus hiesigen Armeereformen. Jedenfalls dokumentiert der Termin in einem hellgrünen Haus des Ministeriums die tatsächliche Absicht, „Streitkräfte mit neuem Antlitz“ zu schaffen.

Punkte, die uns besonders aufgefallen sind:

Die immer wieder betonte Bedeutung der sozialen Einbettung.

Dass die Bedeutung eines echten Unteroffizierskorps erkannt wird.

Der Vorrang von Welt- und Luftraum (samt Einführung einer neuen Truppengattung). Ja, Ja, Russland will natürlich als Weltmacht wahrgenommen werden.

Bei aller eingestandenermaßen Oberflächlichkeit unserer Russlandkenntnisse wagen wir doch die Vermutung, dass nicht die materielle Umrüstung die größte Herausforderung sein wird, sondern die Sache mit dem „neuen Antlitz“. Zumal, wenn die Mittel dann doch vorrangig ins Material (und in den Weltraum) gehen.

Und wer noch wissen will, was die Chefs noch gesagt haben, dem sei hier unsere Meldung aus der heutigen F.A.Z. angeboten:

löw. MOSKAU, 15. September. Die Bundeswehr soll Russland bei der Modernisierung seiner Streitkräfte unterstützen. Verteidigungsminister de Maizière stellte seinem Amtskollegen Serdjukow bei einem Besuch in Moskau am Donnerstag unter anderem Hilfe bei der Ausbildung von Militärpolizisten nach dem Vorbild der deutschen Feldjäger in Aussicht. Außerdem gehe es „in militärtechnischer Zusammenarbeit um Dinge, die es mit anderen Staaten so nicht gibt“. Russland interessiert sich für Trainingstechnik, wie sie im Gefechtsübungszentrum des Heeres in Letzlingen (Sachsen-Anhalt) in Gebrauch ist. Einen entsprechenden Vertrag mit der Betreiberfirma Rheinmetall hat Moskau bereits nach einem Besuch Serdjukows in Letzlingen im Juni abgeschlossen.

Russland arbeitet seit 2008 an einer tiefgreifenden Umgestaltung und Modernisierung seiner Streitkräfte. Sie sollen nicht mehr auf den Einsatz eines Mobilisierungsheeres in einem großen Krieg ausgerichtet sein, sondern kurzfristig schlagkräftige Verbände auf regional begrenzten Schauplätzen einsetzen können. Für die Umrüstung der Armee sollen nach Darstellung eines Offiziers des russischen Generalstabs, Generalmajor Ruzkoi, bis 2020 umgerechnet 500 Milliarden Euro ausgegeben werden. Die beiden Minister machten nach Darstellung de Maizières einen Erfahrungsaustausch über strukturell ähnliche Herausforderungen, wie sie auch bei der Neuausrichtung der Bundeswehr auftreten: „Wie man Widerstände in bürokratischen Apparaten überwindet, wie man mit Finanzministern redet.“

Bei der in Rede stehenden deutschen Unterstützung geht es vor allem um konzeptionelle Beratung. De Maizière betonte, es gebe keine russische „Wunschliste“, gefragt sei „Zusammenarbeit, keine Hilfe“. Die deutsche Bereitschaft zur Unterstützung sei „sehr groß, aber es gibt auch Grenzen“. Die lägen da, wo „Technologie und nationale Sicherheit“ betroffen seien.

Soviel zu den russischen Streitkräften mit neuem Antlitz. Apropos Antlitz: Kennt jemand diese Herren, die da in der Ahnengalerie im minzfarbenen Altbau hängen, wo wir unsere Unterrichtung erhalten haben?

 

 

 

 

(Fotos, wenn auch in lausiger Handyqualität: löw.)

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