Salon Skurril

Salon Skurril

Man kann sagen, Kunst ist unnötig. Und man hätte recht. Kunst gehört nicht zu den überlebenswichtigsten Dingen, um die man sich kümmern muss,

Eine Elegie an unsere Hausordnung

| 26 Lesermeinungen

Deutschland ist, wenn neben den Containern für Weiß-, Grün- und Braunglas drei einsame blaue Flaschen stehen. Wie ist unsere Kultur eigentlich dahin gekommen?

Seit Anbeginn der Menschheit haben die Vertreter unserer Spezies sich mit der Frage beschäftigt, was der Sinn ihres Lebens sei. Das unterscheidet sie ganz gravierend von Moospflanzen, die große biologische Anpassungsfähigkeit beweisen, bloß um an Baumstämmen in jeder Klimazone vegetieren zu können. Menschen sind nicht so bescheiden. Wenn sie sich schon die Mühe der Existenz machen, dann brauchen sie auch eine gute Motivation dazu. Die ersten Motivationen entstanden aus Schöpfungsmythen und Religionen, die begründeten, warum Menschen leben und wie sie es zu tun haben. Im Laufe der Zeit hat man die Antwort auch in säkularen Bereichen gesucht, zum Beispiel die Unsterblichkeit durch große Taten oder das Hinterlassen großer Werke. Heute sind die Lebensziele divers. Einige finden sie in der Religion, einige in der Kindererziehung, einige in einer Aufgabe. Mülltrennung zum Beispiel.

Dieser Sinn des Lebens klingt jetzt nicht so edel, nicht so hochtrabend. Aber er ist keinesfalls minderwertig. Mülltrennung ist ein empfindlicher Prozess, der bestimmten Regeln folgt. Die Einhaltung dieser Regeln scheint manchmal zentraler Lebensinhalt einer besonderen Spezies Mensch zu sein: Des Nachbarn. Der Nachbar kennt und beherrscht die Regeln. Er kann nicht nur seinen eigenen Müll perfekt trennen, er wird auch überwachen, dass alle anderen es ebenfalls tun. Einzelne Fälle – von denen ich wirklich, ehrlich gehört habe – greifen dann tatsächlich in die Papiertonne und lösen das Klebeband vom Paketkarton, denn das Klebeband ist ein Kunststoff und es gehört in den Gelben Sack und sie kratzen mit ihren kurzen Fingernägeln das Klebeband von diesem Karton und sie tun die Klebebandfitzel dann in den Gelben Sack und dann stellen sie den Gelben Sack auf ihren Balkon, denn er wird immer nur Dienstags abgeholt und man darf ihn also erst Montag Abends neben die Mülltonnen stellen.  

Meinem Bekannten Anton zum Beispiel droht gerade der Rauswurf aus seinem Zimmer zur Untermiete, denn letzten Montag wurde der Müll nicht abgeholt. Alle Mülltonnen der Straße wurden geleert, aber die vor Antons Haus nicht. Er hat irgendwas falsch gemacht. Zu viele Grüne-Punkt-Produkte in den Restmüll getan, vielleicht. Er ist sich nicht sicher. Der Müllwagen ist weg, aber der Müll ist noch da. Keine Notiz, nichts. Stilles Schmollen. Er weiß nicht, wohin damit. So ergeht es Leuten, die Verbrechen gegen die Regeln begehen. Sie werden von der fünften Gewalt abgestraft. (Legislative, Exekutive, Judikative, Medien und Müllabfuhr).

 

Bild zu: Eine Elegie an unsere Hausordnung

Ich hielt das alles für Klischees, für satirische Übertreibung, die inzwischen eine lange Überlieferugstradition hat. Bis ich eines Tages ganz real neben den Containern für Weiß-, Grün- und Braunglas drei einsame blaue Flaschen stehen sah. Habe ich etwas gegen Umweltschutz? Aber nicht doch. Ich bewundere aber die Versessenheit einiger Bürger damit, diese Regeln zu befolgen, diese Bereitschaft, aufopferungsvoll winzige Fehleinwürfe zu bestrafen, ehe der getrennte Müll sich in der nächsten Müllverbrennungsanlage wiedersieht und dort ohnehin maschinell besser getrennt wird. Ich bewundere die Absurdität von Flugpassagieren, die am Flughafen eine Cola für 7,00€ kaufen, aber dann die leere Flasche den ganzen Urlaub lang aufheben und zurück nach Deutschland fliegen, um die 25 cent Pfand einzukassieren. Die Besessenheit mit Müll nur ist eine Illustration des bedingungslosen Regelgehorsams, dem „der Nachbar“ sich unterwirft. Das sind dieselben Menschen, die als Fußgänger nachts stundenlang an einer roten Ampel vor einer völlig verlassenen Straße stehen. Dieselben Menschen, die ins vierte Stockwerk rennen, klingeln und dann rumschreien, weil man Staub saugt, es aber zwischen 12:00 und 15:00 Uhr ist, und damit Mittagsruhe! Und sie werden ihre Mittagsruhe mit ihrem Leben verteidigen, und wenn es bedeutet, hier volle drei Stunden zu stehen und zu lamentieren! Über das alles ist schon schrecklich viel geschrieben und gemosert worden. Aber warum ist die Hausordnung so ein fester Bestandteil unserer Kultur?

Weil es die Regeln sind. Die Regeln haben die Eigenschaft, uns Menschen zu beruhigen. Sie sagen, wie alles sein muss. In einer immer komplexer werdenden Welt geben sie uns Halt und Orientierung. Auch während der EU-Krise wird der Müll immer montags abgeholt. Es war immer so. Wie eine Routine, ein religiöses Ritual. Regeln werden eifersüchtig gehütet. Sie sind, wie alle sozialen Normen, nur künstliche Gebilde und halten sich dadurch, dass alle kollektiv an sie glauben. Wenn also jemand droht, die sozialen Normen, die Regeln, zu brechen, erzeugt das in den anderen Mitgliedern des Kollektivs Angstgefühle. Sie regen sich dann auf, hinterlassen wütende Notizen im Treppenhaus, klingeln, klopfen mit dem Besenstiel an die Decke. Für sie ist das keine Frage von Ruhestörung – es ist eine Frage des Erhalts der Ordnung der Welt. In der Gesellschaft ist der Glaube verbreitet, dass die Welt ein besserer Ort wird, wenn wir sie nur genug regulieren. Wir können jeden Missstand, der sich aus menschlichem Verhalten ergibt, durch eine Regel oder ein Verbot beheben. Das ist beruhigend.
Und falsch.

Was dabei übersehen wird, ist, dass die Menschheit schon immer Kreativität brauchte, um Probleme zu lösen. Kreativität entsteht nie aus Regelhaftigkeit. Kreativität entfaltet sich dort, wo Diversität herrscht. Wo Regeln gebrochen, Abläufe gestört werden. Und Kreativität ist eben nicht nur zum Malen notwendig. Kreativität ist die Grundeinstellung einer Gesellschaft. Gerade wenn man eine Krise hat, Unsicherheiten oder soziale Veränderungen, hilft es immer, diese Diversität zu erzeugen und auszuhalten, weil sie Lösungen generiert. Es ist, als ob die Hausordnung ein Stück weit dafür geschaffen wurde, genau das zu verhindern. Was nicht geregelt ist, ist verboten, heißt es implizit. Es ist natürlich gewagt, gesellschaftliche Veränderungen vom Mikrokosmos Hausflur zu fordern. Hier geht es eben eher darum, wer wann den Müll hat stehen lassen oder wie ausführlich das letzte Lärmprotokoll geführt wurde. Doch auch hier, nein, gerade hier, gilt es, die Kreativität zu fördern, die Regeln zu brechen, das Miteinander neu zu definieren. Deshalb werfe ich jedem meiner Nachbarn heute einen Zettel in den Briefkasten, auf dem einfach steht: „Jemand mag dich.“


26 Lesermeinungen

  1. PeRiBa sagt:

    Wenn man bis 9:00 Uhr...
    Wenn man bis 9:00 Uhr ausschlafen darf und Nachbars neurotischer Köter um 7:30 Uhr direkt unter dem Fenster kläfft….
    Wenn der Nachbar im Sommer jeden 2. Tag direkt neben der eigenen Terrasse grillt…..
    Wenn man in einer Straße wohnt, die klipp und klar gesperrt ist für den Durchgangsverkehr, aber trotzdem als Abkürzung benutzt wird…
    ….. dann wünscht man sich manchmal sogar noch mehr Ordnung. Oder wenigsten einen Blitz vom Himmel.

  2. ... endlich formuliert Mal...
    … endlich formuliert Mal jemand wunderschön, wie es ist – und worunter ich seit Jahrzehnten leide. Hoffentlich lesen diesen Artikel möglichst viele von den Regelfanatikern!

  3. joezz sagt:

    Das ist gemein, die blauen...
    Das ist gemein, die blauen Flaschen daneben zu stellen – damit delegiert man die schwere Entscheidung an die Entsorger.
    Mein Vorschlag – die passende Anzahl gelber Gavi Flaschen mit den blauen in die grüne Tonne reinschmeissen… ;o)

  4. Welehamm sagt:

    Mein Fazit: Wir brauchen die...
    Mein Fazit: Wir brauchen die Blaue Tonne!

  5. sedlaczek1 sagt:

    Aber Diskriminierung von...
    Aber Diskriminierung von blauen Flaschen ist doch auch gegen die Regel . . . ?!

  6. ThorHa sagt:

    Sicher, Regelbruch ist etwas...
    Sicher, Regelbruch ist etwas feines, kreatives, intelligentes. Sollten es allerdings zu viele machen, das Regelbrechen, liebe Frau Weisband, dann würden Sie zu den ersten gehören, die sich lautstark beschweren würden. In dem Bereich, in dem Sie Regeln für wichtig halten.
    Das Lob der „Kreativität“ des Regelverstosses ist extrem billig, so kreativ kann (und wird) fast jeder sein. Leider ist es in grösseren Gemeinschaften häufig so, dass andere die Kreativität ausbaden müssen. Aber ich biete Frau Weisband gerne an, ihre Kreativität im Bezug auf Schlaflosigkeit zu testen. Indem ich in ihrer Nachbarschaft rund um die Uhr kreativ bin. Nein, nicht jetzt. In 20 Jahren, wenn auch ihre Empfindlichkeit für bestimmte Formen von „Kreativität“ höher ist.
    Bis dahin kann sie ja jeden Tag Miteinander neu definieren. Müsste sie das übrigens wirklich jeden (!) Tag und mit jedem (!) Mitmenschen, wäre sie in spätestens 3 Monaten reif für die Klappsmühle.
    Kurz: Ein ärgerlicher, weil völlig unreflektierter, Beitrag. Schade.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  7. chipin sagt:

    Jemand mag Dich?
    Damit kommt...

    Jemand mag Dich?
    Damit kommt „Dich“ doch dann in Teufels Küche. Wie soll er damit umgehen? Jemand, der sich nicht zu erkennen geben will, teilt ihm seine Sympathie mit. Dass widerspricht doch wieder gegen die Konventionen.
    Ist er in einer Beziehung, wird der Partner eifersüchtig. Ist er es nicht, vermutet er eine sexuelle Belästigung.
    Es ist doch Teil unserer dt. Erziehung, dass wir mit Freiräumen nicht umgehen können, nicht lernen, diese kreativ zu nutzen.
    Der Deutsche ist nicht in der Lage, sich innerhalb eines Freiraumes wohl zu fühlen und diesen so zu nutzen, dass am Ende ein sinnvolles Ergebnis herauskommt. Er will bevormundet werden, er braucht einen engen Korridor, in dem ein Schwenk nach rechts od. links nicht möglich ist. Für die meisten ist nicht der Weg das Ziel.
    Denn dann hätten wir nicht unzählige Mülltonnen vor dem Haus stehen, obwohl jeder weiß, dass Mülltrennung ineffizient und teuer ist. Wir machen es aber, weil es eine Hausordnung gibt, weil es eine Müllsatzung gibt, weil die Abfallwirtschaft leben will und von unseren Müllgebühren Politiker bezahlt, die Gesetze für blaue, grüne, braune, gelbe und schwarze Tonnen erlassen, anstatt unsinnige Gesetze in eine der unzähligen Tonnen zu kloppen und dort drin lassen – für alle Zeit.

  8. recla sagt:

    "Die Einhaltung dieser Regeln...
    „Die Einhaltung dieser Regeln scheint manchmal zentraler Lebensinhalt einer besonderen Spezies Mensch zu sein: Des Bloggers.

    Dieselben Menschen, die ins vierte Stockwerk rennen, klingeln und dann rumschreien, weil man Staub saugt …“
    Ich muss hier mal rumschreien über Menschen, die sich die einreden lassen, dass es korrekt ist, wenn man „Staub saugt“ schreibt. Lassen Sie sich die Einhaltung dieser vermeintlichen Regel nicht einreden. Man „saugt nicht Staub“ – es sei denn, Sie haben eine schwere psychologische Störung -, man „staubsaugt“. Mit dem Staubsauger, der kein „Staub Sauger“ sein sollte. Bitte saugen Sie keinen Staub, das ist gefährlich (Feinstaub) und unappetitlich. Staubsaugen Sie.

  9. StSchmidtSG sagt:

    . . . ja ja, wir spülen die...
    . . . ja ja, wir spülen die Joghurtbecher vor der Mülltrennung, warten geduldig um 3 Uhr nachts an einer verwaisten Dorfampel brav auf grün, zahlen GEMA Gebühren für ein heimlich im Keller gespieltes Liedlein, entrichten Eintrittsgeld in der Arztpraxis, pappen Feinstaubfahrverbotsvermeidungsplaketten an die Windschutzscheiben und so weiter und so fort . . .
    Wir machen halt vor allem (halb)amtlichen Gedöns Männchen – oder in die Hose. Alles sehr deutsch, wie schon von Heinrich Mann im Roman „Der Untertan“ beschrieben.

  10. ha ha, ja
    .
    Eine spanische...

    ha ha, ja
    .
    Eine spanische Freundin sagte zu mir einmal: „Ihr Deutschen seid das einzige Volk
    auf dieser Erde, das den Müll spült bevor ihr ihn wegwerft.“
    .
    Und ich habe dann (auf meinen Reisen) darauf besonders geachtet.
    Ja, sie hatte Recht. Ich habe (ausser bei „den Deutschen“) bisher dieses Verhalten
    bei noch keinem anderen Volke beobachten können.
    .
    Wollen ‚wir‘ also hoffen, dass die drei blauen Flaschen wenigstens gespült waren!

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