Es heißt, deutsches Volksliedgut sei aus der Mode gekommen. Das sei nicht unbedingt bedauerlich, heißt es aus anderen Ecken. Was auch immer wir von der guten alten Populärmusik vergangener Generationen halten wollen – sie bleibt mindestens ein bedeutendes historisches Dokument, und es ranken sich interessante Geschichten darum.
Manchmal kommt es sogar vor, dass ich selbst auf der Gitarre ausnahmsweise alte Lieder anstimme. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist beispielsweise „Die Gedanken sind frei“ recht beliebt.
1. Die Gedanken sind frei
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei:
Die Gedanken sind frei!
2. Ich denke, was ich will,
und was mich beglücket,
doch alles in der Still‘
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
3. Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
4. Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei!
5. Ich liebe den Wein,
mein Mädchen vor allen,
sie tut mir allein
am besten gefallen.
Ich bin nicht alleine
bei meinem Glas Weine,
mein Mädchen dabei:
Die Gedanken sind frei!
Das Lied ist in seiner Botschaft tatsächlich völlig zeitlos. Seit über zweihundert Jahren weist es uns in einer ständigen Gefahr der Zensur darauf hin, dass es eine Sache gibt, die dem Menschen unter keinen Umständen genommen, zensiert, verändert werden kann – nämlich seine eigenen Gedanken. Keine weltliche Macht kann sie beeinflussen. Das Lied spricht sogar von harter Strafe, von Gewalteinwirkungen von außen („Und sperrt man mich ein…“), doch denken kann man, was man will. So weit, so beruhigend. Und dann kommt die fünfte Strophe.
Was, um Himmels Willen, hat denn nun der Wein damit zu tun? Ein vormals durch und durch politisches Lied wird auf den letzten Akkord hin noch zum Sauf- und Schunkellied? Der Protagonist scheint an dieser Stelle nicht einmal Gedanken zu haben!
Ich erspare dem Leser an dieser Stelle die genauen Details der Entstehung des Liedes, die im Übrigen auch gar nicht genau bekannt sind. Wir wissen, dass es etwa Ende des 18. Jahrhunderts entstand in einer Zeit der deutschen Sehnsucht nach Freiheit und Einigkeit. Gedankenfreiheit war um die Zeit Thema, auch Schiller beschäftigte sich damit in seinen Werken. Die fünfte Strophe war damals noch kein Bestandteil des Liedes. Die tauchte erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Hoffmann von Fallersleben veröffentlichte das Lied 1842 in einer Sammlung und überarbeitete in diesem Zuge die vierte Strophe. Ob die fünfte von ihm ist, ist – nach allem, was ich herausfinden konnte – unbekannt.
Eine halbherzige Interpretation findet sich bei David Robb. Er schreibt, dass sich im Lied der Zwiespalt zwischen deutschem Revolutionsgeist und Rückzug in heimischen Komfort ausdrückt. Nach der martialischen Ansage, dass selbst Mauern und Kerker Gedanken nicht aufzuhalten vermögen, erscheint es widersprüchlich, dass man von eher privaten, romantisch-verträumten Vergnügen schwärmt. Er stellt auch die Ironie heraus, dass die letzte Strophe genau das ist, was die Zensoren im 19. Jahrhundert in Deutschland ja auch erreichen wollten.
Ist das also der Siegeszug der Zensur? Der zahme Geist der Deutschen? Gerade wegen der Widersprüchlichkeit möchte ich das so nicht stehen lassen. Die Version des Linguisten und Volkskundlers Wolfgang Steinitz ist interessanter. Ihm ist aufgefallen, dass das Lied in einigen wichtigen Liedersammlungen im Vormärz nicht auftaucht und damit vermutlich verboten war. Seine Vermutung geht dahin, dass diese jüngere, letzte Strophe eigentlich gar nicht die letzte Strophe war, sondern die erste. Sie wurde nachträglich dazu gedichtet und vorangestellt. Es ist durchaus möglich, dass der Titel auch nicht lautete: „Die Gedanken sind frei“, sondern „Ich liebe den Wein.“
Der Trick war also folgender: Wenn ein Zensor einen Stapel Werke zur Überprüfung auf dem Schreibtisch hatte, las er hauptsächlich die Titel der Lieder und überflog die ersten Zeilen. In diesem Fall dachte er also bei „Ich liebe den Wein“ an das hundertdrölfzigste Sauflied und genehmigte es. So konnte der Text verbreitet werden.
Später wurde die Strophe dann ans Ende des Liedes gestellt (schließlich schmeißt man Gedichtetes nicht so einfach weg) und irritiert dort seitdem jeden, der über den Text nachdenkt.
Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, in dem die kreative Findigkeit und Dreistigkeit unserer Vorfahren ein Stück wichtige Kultur in unsere Zeit gerettet hat. Manchmal muss man sein eigenes Werk eben auch ein wenig verderben, um es rüber zu bringen. Wir können diese Mühe schätzen, indem wir diese Lieder jetzt nicht sterben lassen. Denn Desinteresse ist die heftigste Form der Zensur und wir können durch Vergessen mehr vernichten, als die Zensoren jemals geschafft hätten.
Andererseits sind wir ebenfalls gefordert, das, was uns wichtig ist, durch Findigkeit und Dreistigkeit durch die Widrigkeiten unserer Zeit zu bringen.
Darauf trinke ich.
Randnotiz:
Man könnte meinen, das Lied „Der Typ, der bei der GEMA die Titel eintippt, ist ein ganz blöder Penner“ von Eure Mütter sei ein ähnliches Beispiel. Aber es ist nicht wirklich ähnlich.
Herzlichen Dank für diese...
Herzlichen Dank für diese Hintergrundinformationen, – womit auch bewiesen ist, dass Kreativität überlebenswichtig ist, – und die resultiert aus der Beschäftigung mit Kunst! Prost! Serefe! Cheers! Salute! Santé!
Entstehungsgeschichtlich mag...
Entstehungsgeschichtlich mag die Steinitz-Theorie stimmen. Charakterlich aber paßt die andere Erklärung perfekt zum deutschen Volk. Die Freiheitsbewegung der ersten Hälfte der 19.Jahrhunderts scheiterte, denn zusätzlich mußte man noch die vielen Einzelstaaten Deutschlands vereinigen. Letzteres ist gelungen, auf Kosten der Freiheitsbewegung. Und ist das Lied überhaupt so demokratiefreundlich? Schließlich wird Gedankenfreiheit, nicht aber Meinungsfreiheit besungen. Die höchste Ausprägung dieser Meinungsfreiheit findet sich in der US-Verfassung. Bei uns bleibt nur die im Lied besungene Gedankenfreiheit, mit dem Ehren-und Würdeschutz- gern auch von Diktaturen bemüht-wird die in Konsensdeutschland so unbeliebte konfrontative Diskussion unterbunden. Die Deutschen sind hier sozusagen ihre eigener Diktator. Kleinere Unbotmäßigkeiten regeln Abmahnungen und die Pressekammer Hamburg wegen angeblich falscher Tatsachenbehauptungen. Dabei müßte jedem klar sein, daß die Definition eines Sachverhalts als Tatsache letztlich auch eine Meinung ist. Die große Unbotmäßigkeit der Leugnung des Holocaust regelt das Strafrecht. Und zwar meines Erachtens nicht zum Zweck der Gefühlsschonung der Angehörigen der 6 Millionen vergasten Juden. Sondern zum Zweck der Selbstschonung. Wenn ein Thema nämlich nicht kontrovers diskutiert sondern nur rituell abgefeiert wird, muß man sich selbst gar nicht damit beschäftigen und sich seitens der Täter und Täternachfahren auch nicht schuldig fühlen. Somit bewirkt der Paragraph 130 STGB eine Art Holocaustleugnung2.0 .
Wider den Spießer in...
Wider den Spießer in uns
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Die Täuschung des Zensors ist ein altes Thema. Doch nur selten macht erst die darin versteckte List das ganze Werk. Eines gar, das die Zeit zu überlisten versteht.
Ob wir das hier besungene deutsche Freiheitslied neben das der Galgenlieder eines Francois Villon, oder gar die äsopischen Fabeln, bzw. auch die Ghaselen eines Hafiz https://blog.herold-binsack.eu/?p=329 stellen können, mag jeder Leser für sich beurteilen, doch halte ich es für mehr als selbstgerecht, den Revolutionären dieser Tage den Kleinmut des heutigen Spießers vorzuhalten.
Für das damalige Deutschland waren solche Lieder „satanische Verse“. Und die Menschen wurden für Weniger verfolgt.
Messen wir uns daran, für wie viel mehr wir heute bereit sind unser Leben zu opfern, wo es doch eher so aussieht, als dass wir für erheblich weniger es zu retten suchen.
Schlaf leis,
Kind
schlaf...
Schlaf leis,
Kind
schlaf leis.
Da draussen
geht der Preiss.
Der Preuss hat eine blutige...
Der Preuss hat eine blutige Hand…
seit wann sind Gedanken frei?...
seit wann sind Gedanken frei? Schon diese Web-Seite möchte, dass ich an „Hella-Brunnen“ denke. Mein Unbewußtes zwingt mich andauernd an Dinge zu denken, an die ich gar nicht denken möchte.
Die „Götter“ trafen die...
Die „Götter“ trafen die Entscheidungen
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@egoshooter: Wer sagt, dass sie das „nicht möchten“? Es gibt verschiedene Freiheiten. Da wäre zunächst die Illusion bzgl. jener Freiheit, solange Ihr Bewusstsein da nicht mithält. Dass Sie etwas möchten oder nicht möchten, ist im Prinzip solange ein absoluter Trugschluss, solange das Bewusstsein dafür nicht ausreicht. Solange ist es gleich, ob Sie etwas möchten oder nicht. Das Bewusstsein hingegen vergrößert den minimalen Spielraum in Richtung Freiheit. Nun fällt Ihre Entscheidung, etwas „zu möchten“, im Idealfall mit dem bereits vollzogenen „Es-gemocht-zu-haben“ zusammen. Daneben gibt es 1001 Möglichkeit, davon ein wenig abzuweichen. Dennoch: auch und gerade die Illusion bzgl. der Freiheit, schafft erst diese Freiheit, welche schließlich das Bewusstsein kreierte. Solange wir nämlich diese Illusion nicht hatten, ich verweise hier auf die Studien von Julian Jaynes (Der Ursprung des Bewusstseins, https://blog.herold-binsack.eu/?p=2094), war ein Bewusstsein, bzw. ein „Selbstbewusstsein“, weder möglich noch notwendig. Die „Götter“ trafen die Entscheidungen.