Ich durfte neulich als eine der Ersten einen Blick auf eine neue Zaubershow eines Freundes werfen. In dieser Show ist er Mentalist und kann Gedanken uneingeweihter Zuschauer aufschnappen. Es gibt mehrere Etappen, in denen ein Erraten immer unwahrscheinlicher wird. Er las einfach Gedanken. Ich sprach später mit den Freunden, die er als Assistenten für seine Nummern gewählt hatte. Sie wussten ehrlich nicht, wie er das getan hatte. Als Wissenschaftlerin musste ich ihn natürlich nach dem Trick fragen, denn ich war ehrlich verblüfft und musste die Wahrheit erfahren. Doch er verlor kein Wort. Ich bemühte mich eine ganze Weile, die wunderschöne Illusion mit Hilfe meiner Logik zu zerbrechen. Ich ging jede Möglichkeit durch. Aber es wollte mir nicht gelingen. Zum Schluss entschloss ich mich, aufzugeben. Ich weiß zwar, dass er eigentlich nicht magiebegabt ist, sondern hauptberuflich als Anwalt arbeitet. Aber er kann eben auch Gedanken lesen.
Ein völlig anderes Thema ist das Buch von Yann Martel, über das ich schreiben möchte, obwohl es vor über zehn Jahren erschienen ist. Vermutlich haben Sie bereits davon gehört und es vielleicht auch gelesen. Es wurde kürzlich verfilmt, ich habe den Film aber nicht gesehen. Ich hasse es, dass ich die Gelegenheit verpasst habe, als es noch „aktuell“ war. Andererseits geht es darin um Glauben und das ist nun schon seit Langem nicht mehr aktuell. Das hier ist also die Rezension eines nicht aktuellen Buchs zu einem noch viel unaktuelleren Thema. Jeder, der findet, dass Literatur etwas Aktuelles anhaften sollte, sollte genau hier aufhören zu lesen.
Meine erste Begegnung mit „Schiffbruch mit Tiger“ hatte ich bei einem Spieleabend mit Wolf. Wir hatten alle gemütlich Bärenfang getrunken, gespielt und gesungen. Irgendwann legte Wolf seine Gitarre weg und sagte zu mir: „Du musst ein Buch lesen.“ Er drückte mir ein kleines, blaues Buch in die Hand. Es hieß „Schiffbruch mit Tiger.“
Er sagte: „Das ist ein sehr gutes Buch.“
Ich sagte: „Cool. Worum geht es?“
„Um jemanden, der Schiffbruch erleidet. Mit einem Tiger.“
„Aha.“
„Naja, zuerst sind auch eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein verletztes Zebra im Boot.“
„Wirklich?“
„Ja. Aber die Hyäne tötet das Zebra und den Orang-Utan und der Tiger tötet die Hyäne.“
„Und das ist ein gutes Buch?“
„Der Junge ist übrigens praktizierender Hindu, Christ und Moslem. Und der Tiger heißt Richard Parker. „
Ich gebe zu, ich habe eine Schwäche für absurde Prämissen. Je absurder die Prämisse, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich etwas konsumiere. (Ich hätte sonst nie Geld ausgegeben für ‚Pride and Predjudice and Zombies‘.) Ich habe dieses Buch also ohne Hintergedanken gelesen, ohne mich vorher mit den Kritiken befasst zu haben, im Zug und vor dem Schlafengehen, mit der Naivität eines Kindes. Genau so muss man es auch lesen, glaube ich.
An dieser Stelle muss ich die Handlung des Buchs wiedergeben und ich hasse diesen Teil immer. Aber sowas ist wirklich nützlich, wenn man verstehen will, worum es geht. Es geht tatsächlich um den Jungen Pi, der irgendwann in den 1950ern in Indien als Sohn eines Zoodirektors zur Welt kommt. Er entdeckt während seiner Kindheit drei Religionen für sich und lebt nach allen dreien, ohne das geringste Verständnis dafür, warum man sie trennen sollte. Irgendwann will die Familie nach Kanada auswandern und nimmt den halben Zoo mit. Ihr Schiff sinkt mitten auf dem Pazifik aus unerfindlichen Gründen und Pi kann sich in ein Boot retten. Leider gelingt dies auch einigen mehr oder minder gefährlichen Tieren, von denen nach einigen Tagen nur noch der Tiger übrig bleibt. Der Großteil des Buchs ist eine Schilderung der Erfahrungen, die Pi allein in einem Rettungsboot mit einem bengalischen Tiger in einem Überlebenskampf macht, der insgesamt 227 Tage dauert. Pi überlegt zuerst lange, wie er Richard Parker töten kann, um sicher zu sein. Dann beschließt er, den Tiger zu zähmen. Es ist eine von Entbehrungen, Verzweiflung und immer wieder neuer Hoffnung gezeichnete Reise. Er wird ausgezehrt, blind und halb wahnsinnig. Er begegnet mitten auf dem Ozean einem Franzosen, der ebenfalls in einem Rettungsboot sitzt und Hunger leidet und nach einem Angriff auf Pi von Richard Parker getötet wird. Er entdeckt eine wundersame Insel, die nur aus Algen besteht, aber einen Wald und Millionen von Erdmännchen beheimatet. Weil sie ihn mit allem versorgt, will Pi erst dort bleiben, doch er entdeckt, dass die Algen nachts fleischfressend werden und zieht weiter. Am Ende landet er in Mexiko und sein Tiger flieht in den Dschungel. Im Krankenhaus spricht Pi mit zwei Angestellten des japanischen Verkehrsministeriums, die nach der Ursache des Schiffbruchs forschen. Sie glauben ihm seine Geschichte nicht. Immerhin sind sie vernünftig. Und dann erzählt er zu ihrer Beruhigung eine andere Geschichte, in der keine Tiere vorkommen. In dieser Geschichte ist er mit einem Matrosen, dem Schiffskoch und mit seiner Mutter im Boot gelandet, woraufhin der Koch den Matrosen und seine Mutter tötet und er selbst den Koch. Das erscheint den Zuhörern glaubhafter. Pi stellt heraus, dass es für ihren Auftrag, nämlich die Ursache des Unglücks, keinerlei Relevanz hat, ob die erste oder die zweite Geschichte wahr ist. Und obwohl die japanischen Beamten Männer von Logik sind, erwähnen sie doch zum Schluss in ihrem Bericht den Tiger. Weil es irrelevant ist. Weil es einfach die schönere Geschichte ist.
Dieses Buch ist Vieles. Erst mal ist es ein gutes Abenteuerbuch, denn im Gegensatz zu einer religiösen Parabel werden Tiere hier nicht verniedlicht, verharmlost oder märchenhaft dargestellt. Auf dem Meer geht es nicht vorrangig um eine Beziehung zu Gott, sondern darum, was Salzwasser mit der menschlichen Haut anstellt und wie man überlebt. Es ist eine grausame Geschichte, aber eine spannende.
Dann ist es natürlich ein Buch über den Glauben. Der Protagonist ist diffus gläubig, so gläubig sogar, dass Religionen an ihm haften bleiben, wie Flöhe. Er sieht Atheisten auch als Glaubensbrüder an, denn sie leben ja auch mit einer Vorstellung von der Welt. Nur Agnostiker mag er nicht, hätten sie doch den Zweifel zu ihrer Lebensphilosophie erhoben. Zweifel sei gut und richtig, aber wer an allem nur zweifle, verpasse das Beste an der Geschichte.
Neben dieser einfachen Moral verfügt das Buch über sehr viele philosophische und theologische Andeutungen. So ist die Algeninsel natürlich eine Anspielung auf den Sündenfall. Solange Pi nicht erkundet, wo er da ist, ist er im Paradies. Erst als er in den Früchten eines Baums einen Hinweis darauf findet, dass mit der Insel etwas nicht stimmen könnte, muss er sie verlassen. Für einen Menschen, dessen Verstand ein Sezierwerkzeug ist, finden sich noch diverse andere metaphorische Kirschen. Man kann also sagen, dass vom jugendlichen Abenteuerromanleser bis zum älteren Theologen für jeden etwas dabei ist.
Lustig fand ich es, die Kritiken zum Buch zu lesen. Die gehen mit eben jenem Sezierwerkzeug an das Werk heran und pflücken es teilweise auseinander. Sie schreien, dass das Buch nichts bietet, was Lessing nicht auch schon über die großen Religionen gesagt hätte, und zwar besser. Und dann kommen sie teilweise zu Schlussfolgerungen wie die Neue Züricher Zeitung und sprechen von „postmoderner Remix-Religiosität[…], die sich an allem bedient, ohne Rücksicht auf Kontext, Tradition oder tieferen Sinn“. Und das ist eben überhaupt nicht der Punkt. Es geht in diesem Buch nicht um Religiosität. Es geht um Glauben.
Das Problem am Glauben ist ja, dass er so schrecklich vorbelastet ist. Zum Beispiel wird er gleich assoziiert mit dem Glauben an den einen Gott und daran hängt sofort die Religion und daran hängen Ausbeutung, Kriege, Lügen und Ausgrenzung, die allesamt nichts mehr mit Glauben zu tun haben, sondern mit Politik, aber doch dem Glauben zugeschrieben werden.
Wenn man also über Glauben schreibt, dann ist es wichtig, das alles eben abzustreifen. Keine Tradition, keine Kultur, keine Geschichte. Kein kohärentes Glaubenssystem, keine komplizierte Sprache. Nur das nackte Phänomen an sich, isoliert wie der Protagonist. Es ist in der heutigen Welt sehr schwer zu vermitteln, warum Glaube etwas Gutes sein soll. Schließlich streben wir nach Erkenntnis. Die traurige Wahrheit aber ist, dass wir die Erkenntnis nicht vollständig erreicht haben. Wir sitzen auch nur im Rettungsboot unseres Verstandes auf dem Ozean der Schöpfung und sind völlig verloren. Ich halte es für gut und richtig, dass wir unsere Umgebung erkunden, sie begreifen, kartographieren und aufzeichnen. Aber der Teil, der noch unentdeckt ist, sollte unserer persönlichen Zufriedenheit dienen. Das ist ein rein hedonistischer Ansatz. Nur aus dieser Zufriedenheit schöpfen wir die Kraft zum Erkunden und Begreifen. Wenn ein Elternteil von mir stirbt, kann mir niemand beweisen, was mit seinem Bewusstsein passiert. Hat das irgendeine Art von Relevanz? Nein. Und darum kann ich guten Gewissens daran glauben, dass es etwas Schönes sein muss. Weil es mir Kraft gibt. Auch die Kraft, anderen real zu helfen.
Glauben muss nicht mit Religion oder mit Gott zu tun haben. Er muss nichts mit Verblendung oder mit Leugnen von Tatsachen zu tun haben. Er schließt sich mit der Wissenschaft nicht aus. Glauben ist lediglich die Sicherheit, sich dort entspannt zu fühlen, wo man bisher kein Wissen haben kann. Die Fähigkeit, Kraft zu schöpfen, wo man sonst neurotisch an Fragen verzweifeln würde. Es ist der Mut, die weißen Stellen auf einer Landkarte mit bunten Wachsmalstiften zu füllen. Es ist die winzige, kindliche Freude daran, überzeugt zu sein, dass der eigene Anwalt Gedanken lesen kann.
Ich glaube, mehr wollte Herr Martel auch gar nicht sagen. Danke für die Erinnerung.
"Wir sitzen auch nur im...
„Wir sitzen auch nur im Rettungsboot unseres Verstandes auf dem Ozean der Schöpfung und sind völlig verloren.“ der christ würde evtl. argumentieren „durch seinen tod sind wir erlöst, egalo b wir glauben,oder wie stark, oder überhaupt auch nur von ihm wissen.
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„Wenn ein Elternteil von mir stirbt, kann mir niemand beweisen, was mit seinem Bewusstsein passiert.“ auch hier wären evtl. glaubenserfahrungen von solcher stärke möglich, dass sie womöglich ungefähr so wie ein fast objektiver beweis empfunden würden.
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aber wir sind nicht gut in theologie. und hm555, oder wer sosnt mag, sollte evtl. so eine witz erzählen, etwas sebstironisches, nach der art „kommt ein alter jud‘ zum räbbe..“
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und danke fürs teilen, auch werden uns das buch für die nächste gelegenheit vormerken.
gäbe evtl. noch diese(s...
gäbe evtl. noch diese(s bild/erzählung, in der ein gläubiger mit gott/jesus o.ä. spazieren geht, der gläubige sein leben reflektiert, sich umwendend sagt: „siehst du die spuren hinter uns? es sind immer zwei. es stimmt, du warst immer bei mir, auf meinem lebensweg, wie versprochen, du hast wort gehalten. aber da, da ganz hinten, siehst du da, an der echt schwierigen stelle da, da wo’s haarig wurde, da gibts nur eine spur, da musste ich alleine laufen, da hattest du mich verlassen, da warst du nicht bei mir!“ „mein sohn, du irrst, das glaubst nur du, denn mein sohn, da habe ich dich getragen!“
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und wurde schon häufiger im nachhin so empfunden. (wir sind nicht so aktiv, wie wir oft glauben. und auch schon gar nicht ganz alleine.)
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und gott gebraucht keine ausrufezeichen. er ist sie selbst.