Stellen Sie sich vor, sie schlendern als Tourist durch die Straßen von New York. Plötzlich spricht sie – wie es in New York leicht passieren kann – ein Fremder von der Seite an. Er ist schon älter, dunkelhäutig und sieht arm aus. „Hey, hey Sie!“, sagt er verschwörerisch und seine Stimme rutscht zu einem Flüstern herab: „Ich habe hier etwas.“ Er macht seinen fadenscheinigen Mantel ein Stück weit auf und holt einen kleinen Zettel heraus, den er auffaltet. Der Zettel sieht aus, als sei er schon oft aufgefaltet worden. So oft, dass seine Knickkante notdürftig mit Tesafilm geklebt worden ist.
Auf dem Zettel befinden sich viele kleine, kryptische Symbole, mathematische Ausdrücke, Molekülketten. Es ist eine Formel. Mit dieser Formel kann man die Welt zerstören.
Der Mann, Melvin „Milky“ Way ist sein Name, entwickelt viele solcher Formeln. Er besitzt damit die Macht, die Erde zu vernichten. Doch er tut es nicht. Er bewahrt sie.
Melvin Way hat in seiner späten Jugend Schizophrenie entwickelt. Darüber hat er seine wissenschaftliche Ausbildung abbrechen müssen und wurde auf Dauer obdachlos. Früher hätte man solche Zettelchen, die er fabriziert hat, wohl weggeworfen. Doch das tut man nicht. Sie hängen in Museen und werden verkauft, und zwar zu Stückpreisen von mehreren tausend Dollar. Way ist ein Repräsentant der sogenannten „Outsider Art“. Den Begriff prägte 1972 Kunsthistoriker Roger Cardinal. Ursprünglich sollte er als englische Übersetzung für „art brut“ dienen, die naive, rohe Kunst von Laien und Autodidakten bezeichnet. Doch der Begriff Outsider Art gewann schnell an eigener Bedeutung und wurde speziell angewandt auf Künstler, die außerhalb der Gesellschaft standen, insbesondere solche aus psychiatrischem Kontext. Gerade Werke von „seelisch Behinderten“ waren lange Zeit gar kein Gegenstand der Kunst. Im besten Fall sah man ihre Herstellung als willkommene Beschäftigung der Patienten an, die dann für eine Weile ruhig waren. Die fertigen Arbeiten wurden entsorgt. Das ist auch heute noch in weiten Teilen der Fall. So sind viele Zeichnungen des inzwischen berühmt gewordenen Karl Burkhard, der 2001 starb, zerknittert. Das lag daran, dass er seine Bilder zwischen Matratze und Lattenrost verstecken musste, damit sie nicht von Pflegern in den Müll geworfen wurden.
Harold Jeffries „People Are Smiling When They Have Their Masks On“
Einer der frühesten Versuche, die schöpferische Kraft von Psychiatrie-Patienten unter ihrem künstlerischen Wert zu betrachten, gelang durch die Sammlung Prinzhorn. Diese entstand in Heidelberg und beinhaltet Arbeiten, die bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zurück reichen. Das von Prinzhorn 1922 verfasste, illustrierte Buch „Die Bildnerei der Geisteskranken“ traf besonders bei Expressionisten und Surrealisten auf große Begeisterung und wird nach wie vor als die „Bibel der Surrealisten“ bezeichnet. Ein wichtiger Einflussfaktor der Outsider Art scheint ihre Inspirationskraft zu sein.
Es ist gut, Werke der Kunst auch als solche zu erkennen. Wir dürfen aber auch nicht Gefahr laufen, sie unsachlich zu „verkunsten“. Denn viele Schöpfer im klinischen Bereich betrachten sich selbst gar nicht als Künstler. Melvin Way lässt den Verkauf seiner Werke zwar zu – er besteht aber hartnäckig darauf, jeden Käufer eindringlich zu warnen, nie Gebrauch von seinen Formeln zu machen. Es ist für ihn ein essenzielles Anliegen und zeigt, dass es um weit mehr geht, als die Schöpfung von Werken. Es geht um die Bewahrung der Welt. Das darf man nicht einfach als Konzept-Kunst abtun. Denn die Botschaft geht weit über ein schönes Ausstellungsobjekt hinaus. Und entsprechend auch, was man daraus lernen kann.
Wayne Mazurek „New 2000 Camry LS Sedan“
Im Prinzip ist diese Kunstrichtung gerade deshalb so interessant, weil die Menschen, die sie betreiben, in irgendeiner Weise am Rande der Gesellschaft stehen. Darum bevorzuge ich den Begriff gegenüber der „art brut“, die eher auf vermeidlich mangelnden Feinschliff hinweist. Menschen, die an Grenzen stehen, zeigen die Grenzen erst auf. Sie definieren durch kontrastierendes Beispiel, was Norm ist, und lehren uns so über uns selbst. Gleichzeitig zeigen sie Wege, Tunnel aus der Norm heraus. Wonach viele Künstler streben, das gelingt ihnen ganz automatisch und meistens ungewollt: ihre Gedanken gehen andere Wege, finden andere Verknüpfungen und Assoziationen. Sie sprechen eine eigene Sprache. Man freut sich ja oft, wenn ein Mensch lernt, sich durch seine Kunst auszudrücken. Diese Kommunikation ist wichtig für ihn, und wir schauen milde darauf herab und sagen: „Ist ja schön“. Doch wir sollten weiter gehen, als uns für jemanden zu freuen. Denn der Künstler hat nicht nur ein Bedürfnis nach Kommunikation. Die Gesellschaft hat ein Bedürfnis, ihm zuzuhören. Wir brauchen als Gesellschaft immer Hilfe dabei, uns wahrzunehmen, wie man morgens einen Spiegel braucht. Denn wenn man klar denkt – also normal – also so, wie alle – dann fällt es schwer, sich zu reflektieren. Reflexion passiert zumeist von außen. Es braucht also gerade die andersartigen Gedanken und ihre andersartige Kommunikation, um uns zu bereichern. Um uns Einsicht in unsere eigenen Fehler zu gewähren, oder um die Welt besser zu erklären, als wir es bisher vermocht haben.
Luke Tauber „Clara’s House – Market Square, Leipzig circa 1830“
Mir hat die Beschäftigung mit der Outsider Art in erster Linie gezeigt, wie fließend der Übergang von einer imaginierten Mitte der Gesellschaft zu deren Rändern eigentlich ist. Wie Kunst an sich schon der Versuch ist, über diese Grenzen hinaus zu gehen. Die Welt zu überwinden und in einen Kosmos der Form, der Farbe und des Ausdrucks einzutauchen.
Ich hoffe, ich konnte damit einen weiteren, winzigen Aspekt dieses Kosmos beleuchten.
Alle Bilder in diesem Artikel sind CC BY Art O.T.Grid. Wegen Lizenzsachen habe ich keine Bilder der Formeln von Melvin Way eingestellt, aber sie sind auffindbar. *hust*
So naiv wie weise
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Ein...
So naiv wie weise
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Ein durchaus „weiser“ Beitrag. Dies gerade bzgl. der philosophischen Dimension des Adjektivs „weise“. Jede nur denkbare Perspektive ist so relativ wie bedeutend, so ausgegrenzt wie eingrenzend, so flach wie tief, so naiv wie weise. Daher hätten Sie getrost auch den letzten Satz weglassen können. Völlig überflüssig den eigenen Standpunkt noch mal zu relativieren.
Darf ich den Beitrag so...
Darf ich den Beitrag so zusammenfassen?
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„Obwohl diese Bilder von verrückten Spinnern gemalt wurden, nehmen wir sie jetzt trotzdem ganz toll ernst und tun einfach so, als stammten sie von normalen Menschen wie uns. Auf diese Weise überschreiten wir die Grenze zwischen diesen, ähhh, sagen wir mal, „Aussenseitern“, und normalen vollwertigen Menschen wie Ihnen und mir, und verdienen uns, für diese enorm wichtige und selbstlose Integrationsleistung, ein dickes Eigenlob.
Denn wir sind ja moderne, aufgeklärte Toleranzbürger und keine normalverbohrten Bildungsspießer , die, obschon sie die „Kunst der Anderen“ von der „Kunst der Eigenen“ ja ebensowenig zu unterscheiden vermögen wie sonst irgendwer, sich doch krampfhaft daran klammern, dass sie selber die Eigenen sind und nicht die Andern. Wir dagegen…
... wie man morgens einen...
… wie man morgens einen Spiegel braucht !!!
Ist es nicht eher so, dass die „verrückten Spinner“ im „mainstream“ schwimmen? – Wo sie ihre Reflexivität und jeglichen Abstand wie Anstand (falls je vorhanden) verloren haben? – Es zeichnet seit jeher alle Kunst erst aus, außerhalb der Norm zu sein: „Menschen, die an Grenzen stehen, zeigen die Grenzen erst auf. Sie definieren durch kontrastierendes Beispiel, was Norm ist, und lehren uns so über uns selbst. Gleichzeitig zeigen sie Wege, Tunnel aus der Norm heraus.“
Was aber in unserer bundesdeutsch institutionalisierten Kunst seit Jahren passiert, ist über kontra-kreative Prägungen zeitgenössisch „völkische“ Helden in den „offiziellen“ Medien mit Lob zu überschütten und ihnen die Taschen mit Gold zu füllen; und wo Karl Marx den „hype“ bereits zu ahnen schien, als er feststellte: Geld macht auch Unvermögen zu Vermögen! – Wirklich kreative Ansätze haben derweil zu verkümmern? „Es ist gut, Werke der Kunst auch als solche zu erkennen. Wir dürfen aber auch nicht Gefahr laufen, sie unsachlich zu ‚verkunsten‘.“
Dieses Thema anzusprechen wird jedoch meist als „art brut“ verteufelt … nämlich von all denen die bereits besessen in Satans Reigen tanzen. Trotzdem ist es sehr wichtig hier einmal offene, manipultionsfreie Kontexte zu flechten: ES GEHT LETZTLICH UM „unsere“ KULTUR !!!
Beispiele:
https://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/556234/KunstWahrheitWirklichkeit-ART-and-PRESS-4U
https://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/556438/Duesseldorf-im-Gursky-Rausch-
Herzlich
Holger E. Dunckel
die junge dame fasst wunderbar...
die junge dame fasst wunderbar zusammen, was wohl heute ungefähr als „state of the art“ der meinungen anzusehen ist. (viele der älteren kannten das ungefähr alles schon, lasen es aber sicher trotzdem nochmals gerne)
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und ein weites feld. also gesellschaftlich. und ein enges klinisch. da kann es gar keinen zweifel geben.
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wobei womöglich geselllschaftliche überforderung (stichwort „politcal correctness“) an der ein- oder anderen stelle ggfls. überreagiert: nicht jede kreativität hat mit schizophrenie zu tun. überhaupt nicht. (und darum steht das hier auch nirgends so, *g*))
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gefährlich würde es erst dann, wenn uns der rechtstaat womöglich einmal mehr abhanden käme, bei den nazis und in der s.u. gab es wie bekannt den mißbrauch der psychiatrie zu herrschaftszwecken:
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wahrscheinlich müsste man andy warhol heute am besten auch gleich aus der factory holen und einsperren: „wieviele jünger der gemacht hat/sich schaffte. und kaum noch einer von denen ging einer regelmäßigen arbeit nach, welch verbrechen …“ . („also nicht einsperren, das hätte ja auch nur noch gekostet, aber lager, was sinnvolles arbeiten lernen, unter anleitung, das wärs doch gewesen, nicht wahr?“)
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was, am rande, nichts anderes heisst, als: gehts dem kleinbürger schlecht, wird auch die gesellschaft eng. („gehts dem staat schlecht, wird manches unmöglich“: „denn wozu litten unsere staatsdiener so unter ihrer aufopferungsvollen arbeit für uns alle, wenn sie keine anerkennung bekämen, im gegenteil, sich von entarteter kunst und sogenannten möchtegernkünstlern und drückebergern am ende auch noch frech an der nase herumfürhren lassen müssten?“, so früher die faschistoide massenpsychose der kleinbürgerlichen.)
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zum glück kann deutschland hier heute fein unterscheiden – und tut das auch. (siehe ihr beitrag)
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und hans meier555 hat natürlich mit jedem wort recht, aber er ist ja auch älter.
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und bleibt: natürlich muss die kleinbürgerliche masse am ende immer alles so definieren, dass eben alles für sie da ist; norm und normabweichung. und das die deutungs- u. unterscheidungshoheit bei ihr liegt. (bzgl. „schizo“ kann man klinisch nicht irren, bzgl. künstlerischer relevanz schon). „denn sonst ginge es nicht.“
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aber schon geborene zigeuner (& künstler, ohne „schizo“) sehen ihre mehrheitsgesellschaft, in der sie leben, womöglich ganz anders. und haben gelernt zu schweigen oder nichts zu sagen, damit man ihnen nicht den kopf abschlägt oder sie einsperrt. in lager.
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wie gesagt: deutschland ist zur zeit womöglich jede überforderung zuzumuten, sonst wird es eng. (also reife überforderung durch erwachsene menschen. und womöglich jede form von kunst.)
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wobei letzteres kann auch ein irrtum sein: vergreisung ist real. lernt nichts mehr, will, kann nicht mehr konfrontiert sein. (und trotzdem ist die meinungsfreiheit absolut zu setzen.)
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ihr blog wendete sich also an ein jüngeres pulikum? sehr gut!(1)
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die freiheit des handelns erhält sich nur, wenn sie gelebt wird.
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nachbem. (1) „die masse will also, was sie will“: einen leichteren beruf, in dem man tendenziell mehr bekommt und es dabei aber (relativ gesehen) eben leichter hat, also nicht (ganz) so schwer wie andere“(2), „denn ich bin doch nicht dumm!?“ das ist ihre religion. eher jedenfalls. und auch da kann die kunst (auch der schizophrenen) gottesgeschenk sein, nützlich eben. dummheit und enge aufzubrechen.
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(2) einer der gründe, warum deutschland heute womöglich zum teil vor die hunde geht: das (gehabte) ausweichen, der massen, welches so nicht genannt werden darf. (deutschland geht aber nicht vor die hunde: das ist ja schon lüge und fehlsicht auf die wahrheit, wie wohl man politisch anderer meinung sein kann.)
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wir hatten das schon mal: thomas mann und bert brecht und lion feuchtwanger in den usa. und in deutschland geschah alles nach recht und gesetz. auch völkermordende angriffskriege.
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und auch die aufsichtsführenden, gelernten kleinbürger in mancher psychiatrie sind manchmal nicht ohne dummheit und die einseitigkeiten von karrierewünschen: auch da hilft die herstellung von öffentlichkeit: wahrheit ist manchmal womöglich sogar wichtiger als soziale stabilität. (so lange gesellschaften jung sind.)
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wie gesagt: wo kunst herkommt (oder sogenannte kunst) ja gar nicht so wichtig: hauptsache sie ist da, und man hat sie unter kontrolle. damit sie keinen schaden anrichtet eben.
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(und manch einer würde evtl. schon die zweipoligkeit einer welt, aufgespalten in in- u. outsider, für bedenklich halten. bedenklich kleinbürgerlich eben. aber so ist das nun einmal. die einen lernen universitär und aus büchern, die anderen durch anschauung.) (und „genie“ kann man nicht lernen… *g*)
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(3) etrem kleinbürgerlich wäre es ansonsten überhaupt eine kunst zu verlangen, die für jeden/die meisten erklärbar wäre. den frühen picasso hat auch keiner verstanden, höchstens manche wenige. aber kahnweiler. und hier tritt das problem internet zutage. denn internet und freiheit berühren die fragen der herrschaft. auch darüber, was mich/uns beunruhigt.
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lob ihres blogs also: er hat womöglich auch emanzipatorische aspekte. frauen sind sozial klüger. können den blick in den spiegel ertragen. eher als männer. (die lieber waffen und gefängnisse bauen, der äußeren feinde/ablehnungsinstanzen bedürftiger sind, sich selbst zu stabilisieren. darum auch brauchen wir zukünftig noch so viele frauen mehr als minsterräsidentinnen. „lob der spiegel, kampf dem nutzlosen panzer“, wenn man so will)
Ich bin unsicher, ob das Kunst...
Ich bin unsicher, ob das Kunst im Sinne eines tragfähigen Kunstbegriffes ist. Denn Kunst ist, nach der weitest möglichen Perspektive, das, was der Künstler als Kunst empfindet.
Wer aber eine Bewusstseinsstörung hat, der nimmt seine Kunst nicht als Kunst, also als etwas dem Übrigen gegenüber Andersartigen wahr. Sondern als das, was er eben tut.
Essen, Laufen, Gucken, die Dinge, die wir tun also, nehmen wir nicht als Kunst war. Wenn der Kunstbegriff ein subjektiver ist, dann kann aber auch die Kunst des im Bewusstsein Gestörten nicht Kunst sein, solange er sie nicht als diese Empfindet.
Und dann sollten wir uns vielleicht nicht von der Gleichheit der Ergebnisse täuschen lassen. Denn dass das Ergebnis wirkt wie das, was wir beim Begriff Kunst zuerst im Blick haben, kann nicht den Ausschlag geben. Denn ein vom Ergebnis her gedachter Kunstbegriff ist ein enger, ein wertender ein: falscher.